
"SCIENCE FICTION LESE ICH NICHT" - Ein Essay von Ursula K. Le Guin

Ursula K. Le Guin, 23.10.2025
In diesem Essay zeigt uns Ursula K. Le Guin auf, dass die Science Fiction eine Literatur wie jede andere ist. Mit den gleichen Figuren, Problemen und Beziehungen, der gleichen Relevanz. Und dass die Hürden, sich ihr anzunähern, gar nicht so hoch liegen, wie viele glauben.
Leute, die keine Science Fiction lesen, und selbst manche, die sie schreiben, unterstellen gern oder tun so, als entstammten die darin enthaltenen Ideen sämtlich einer intimen Kenntnis von Himmelsmechanik und Quantentheorie und wären nur für Leser zu verstehen, die bei der NASA arbeiten und ihren Videorecorder programmieren können. Den Schreibenden schenkt diese Phantasie ein Gefühl von Überlegenheit, den Nicht-Lesenden hingegen eine Ausrede. »Ich verstehe dieses Zeug einfach nicht«, jammern sie und suchen Zuflucht in den tiefen, gemütlichen, sauerstoffarmen Grotten der Technophobie. Es ist sinnlos, ihnen zu sagen, dass auch nur ganz wenige Science-Fiction-Autoren »dieses Zeug« verstehen. Auch wir finden auf unseren Videokassetten oft zwanzig Minuten I Love Lucy und einen halben Ringkampf, dabei wollten wir eigentlich nur eine Folge von Masterpiece Theatre aufnehmen. Die meisten wissenschaftlichen Ideen in der Science Fiction sind absolut zugänglich und durchaus allen vertraut, die weiter als bis zur sechsten Klasse gekommen sind, und sie werden schließlich nach der Lektüre nicht abgefragt. Im Übrigen sind diese Bücher keine verkappten akademischen Vorträge. Sie sind keine von einem satanischen Mathematiker erfundenen Textaufgaben, sondern Geschichten. Sie sind Erzählliteratur, die mit Themen spielt, weil sie interessant, schön und für das Menschsein relevant sind. Das Wort »Science« in dem hässlichen, unzutreffenden Oberbegriff für das Genre ist nur ein Attribut, eine dienende Beifügung zu »Fiction«.
In meinem Roman Die linke Hand der Dunkelheit beispielsweise ist die zentrale »Idee« weder wissenschaftlich, noch hat sie mit Technik zu tun. Es handelt sich um eine physiologische Phantasie – eine körperliche Veränderung. Die Menschen der erfundenen Welt Gethen haben kein Geschlecht. Sie sind fast immer geschlechtlich neutral und erleben nur einmal im Monat eine Phase der Brunft, mal männlicher, mal weiblicher Prägung. Gethener können sowohl Kinder zeugen als auch bekommen. Diese Erfindung mag einem befremdlich, pervers oder faszinierend erscheinen, aber zu ihrem Verständnis oder zum Mitvollzug der im Roman durchgespielten Verwicklungen ist gewiss kein besonderer wissenschaftlicher Intellekt vonnöten.
Ein weiteres Element im Buch ist das Klima auf dem Planeten, der sich mitten in einer Eiszeit befindet. Eine ganz einfache Idee: Es ist kalt, sehr kalt; es ist immer kalt. Die Auswirkungen, Komplexitäten und Resonanzen ergeben sich durch die Detailarbeit an der Vorstellung.
Die linke Hand der Dunkelheit unterscheidet sich von einem realistischen Roman nur insofern, als er von den Lesenden verlangt, pro tem eine narrative Wirklichkeit zu akzeptieren, die auf begrenzte, spezifische Weise modifiziert ist. Statt unter zwiegeschlechtlichen Menschen in einer Zwischeneiszeit auf der Erde (wie, sagen wir, in Stolz und Vorurteil oder jedem beliebigen anderen realistischen Roman) befinden wir uns auf Gethen unter Androgynen in einer Eiszeit. Es ist nützlich, sich in Erinnerung zu rufen, dass beide Welten imaginär sind.
In der Science Fiction sind solcherlei Parameterveränderungen, selbst wenn sie spielerisch und ornamental sind, wesentlich für die Struktur und den Charakter des Werkes. Ob sie in erster Linie als Selbstzweck dienen oder aber als Metapher oder Symbol, immer werden sie romanhaft ausgestaltet und in die Gesellschaft und die Psychologie der Figuren, die Beschreibungen, Handlungen, Emotionen, Auswirkungen und Bilderwelten eingearbeitet. Beschreibungen sind (um den Begriff von Clifford Geertz zu übernehmen) in der Science Fiction tendenziell »dichter« als in realistischen Romanen, die sich auf vermeintliche gemeinsame Erfahrung berufen. Aber dem Geschehen zu folgen, ist nicht schwerer als in anderen komplexen Erzählungen. Die Welt von Gethen ist weniger vertraut, aber im Grunde unendlich viel einfacher als die Welt der englischen Gesellschaft vor zweihundert Jahren, die Jane Austen uns so lebendig vor Augen führt. Wir finden uns in beiden Welten erst nach und nach zurecht, da wir sie nur durch Worte, durch die Lektüre erleben können. Alle Romane bieten uns Welten, in die wir nicht auf andere Weise gelangen können, sei es, weil sie in der Vergangenheit angesiedelt sind oder an fernen oder erfundenen Orten, oder weil sie Dinge beschreiben, die wir nicht erlebt haben, oder weil sie uns in Geisteswelten führen, die anders sind als unsere. Manche Leute empfinden diesen Weltenwechsel, das Ungewohnte, als unüberwindbare Hürde, andere als Abenteuer und Vergnügen.
Leute, die keine Science Fiction lesen, aber es zumindest ehrlich probiert haben, kritisieren sie häufig als inhuman, elitär und eskapistisch. Die Figuren seien zugleich konventionalisiert und außergewöhnlich, entweder Genies, Weltraumhelden, Superhacker oder androgyne Aliens, und dadurch drücke sie sich um das herum, womit sich normale Menschen im Leben herumschlagen, und versage deshalb an einer wesentlichen Funktion von Literatur. Jane Austens England möge uns fern sein, aber die Menschen dort seien unmittelbar von Belang und interessant – durch das Lesen über sie würden wir Dinge über uns selbst erfahren. Hat Science Fiction irgendetwas zu bieten außer Selbstflucht?
Das Pappfigurensyndrom war ein Phänomen der frühen Science Fiction, das ja, aber es gibt schon seit Jahrzehnten Autorinnen und Autoren, die dieses Genre zur Erkundung menschlicher Charaktere und Beziehungen nutzen. Zu diesen gehöre ich. Manchmal bietet ein imaginärer Schauplatz die besten Möglichkeiten zur Ausgestaltung bestimmter Charaktereigenschaften und Schicksale. Zugleich aber stellen viele zeitgenössische Erzählungen nicht die Zeichnung von Figuren in den Mittelpunkt. Das ausgehende Jahrhundert ist kein Zeitalter der Individualität wie einst das elisabethanische oder viktorianische. Für unsere Geschichten, die realistischen wie die anderen, mit ihren unzuverlässigen Erzählern, den sich auflösenden Erzählperspektiven, multiplen Wahrnehmungs- und Sichtweisen, ist Charaktertiefe oft nicht die Hauptsache. Dank ihrer immensen Metaphernvielfalt hat die Science Fiction vielen Autoren bei diesen Erkundungen jenseits der Grenzen von Individualität neue Wege eröffnet – als Sherpas an den Steilhängen der Postmoderne.
Was das Elitäre betrifft, könnte Szientismus das Problem sein: die Verwechslung von technologischer Beschlagenheit mit moralischer Überlegenheit. Der Imperialismus der Hochtechnologie ist genauso überheblich wie der alte rassistische Imperialismus: Menschen, die nicht auf der »Höhe der Zeit« sind oder nicht die richtigen Geräte besitzen, zählen für Technophile nicht. Sie sind Proleten, Masse, gesichts- und bedeutungslos. Literatur und Geschichtsschreibung handeln nicht von ihnen. Sie handeln von den Jungs mit den echt abgefahrenen, echt teuren Spielsachen. So dass »Leute« rein funktional definiert nur diejenigen sind, die Zugang zu einer extrem aufwendigen, schnell wachsenden industriellen Technologie genießen. Und die »Technologie« selbst ist auf ebendiese Gattung beschränkt. Ich habe gehört, wie ein Mann mit vollem Ernst sagte, die US-amerikanischen Ureinwohner hätten vor der Eroberung über keinerlei Technologie verfügt. Wie wir wissen, ist gebrannte Keramik ein natürlicher Bodenschatz, werden Körbe im Sommer reif und ist Machu Picchu einfach so gewachsen.
Die Menschheit auf die Erzeuger/Verbraucher einer komplexen industriellen Wachstumstechnologie zu begrenzen, ist etwas vollkommen Absonderliches, vergleichbar einer Gleichsetzung der Menschheit mit Griechen, Chinesen oder der britischen Oberschicht. Es schließt ein wenig zu viel aus. Erzählliteratur hingegen kommt nicht umhin, fast alle Leute auszuschließen. Ein Roman über komplexe Technologie darf genauso gut die (sagen wir mal) anders Technologisierten ausschließen, wie ein Roman über Vorstadtaffären die innerstädtischen Armen ignorieren darf oder es für einen auf die männliche Psyche zentrierten Roman legitim ist, Frauen auszublenden. Ausschlüsse wie diese können allerdings als Zeugnis davon interpretiert werden, dass Vorteil zugleich Überlegenheit bedeutet oder dass die Gesellschaft nur aus der weißen Mittelschicht besteht oder dass allein Männer es wert sind, über sie zu schreiben. Moralische und politische Aussagen per Ausschluss oder Auslassung werden dadurch legitimiert, dass sie bewusst geschehen, insoweit die Kultur der Schreibenden ein entsprechendes Bewusstsein zulässt. Was letztlich eine Frage der Verantwortung ist. Eine Leugnung schriftstellerischer Verantwortung, willentliche Unbewusstheit, ist elitär und beeinträchtigt tatsächlich einen Großteil unserer Literatur in allen Genres, einschließlich des Realismus.
Die Ansicht, dass es der Science Fiction durch ihren Gebrauch von Metaphern aus anderen Welten, Raumfahrt, Zukunft und durch ihre Erfindung von Technologien, Gesellschaften oder Lebewesen an menschlicher Relevanz für unser Leben fehle, teile ich nicht. Wo ernstzunehmende Autoren von ihnen Gebrauch machen, werden diese Bilder und Metaphern zu Bildern und Metaphern für unser Leben, legitime erzählerische, symbolische Mittel, Dinge zu sagen, die anders nicht über uns, unser Dasein und unsere Lebensführung hier und jetzt zu sagen wären. Die Science Fiction erweitert mithin das Hier und Jetzt.
Was finden Sie interessant? Manche Leute interessieren sich nur für andere Menschen. Manche machen sich tatsächlich nichts aus Bäumen oder Fischen oder Sternen oder daraus, wie Maschinen funktionieren oder warum der Himmel blau ist; sie sind ausschließlich menschenzentriert, oft ermutigt durch ihre Religion; ihnen werden weder Wissenschaft noch Science Fiction gefallen. Wie alle Wissenschaften, mit Ausnahme von Anthropologie, Psychologie und Medizin, ist die Science Fiction nicht ausschließlich menschenzentriert. Sie interessiert sich auch für andere Lebewesen und Aspekte des Daseins. Sie kann durchaus von zwischenmenschlichen Beziehungen handeln – das große Thema realistischer Prosa –, aber eben auch von der Beziehung zwischen einem Menschen und etwas anderem, einem andersartigen Wesen, einer Idee, einer Maschine, einer Erfahrung, einer Gesellschaft.
Schlussendlich sagen mir manche Leute, sie würden keine Science Fiction lesen, weil sie deprimierend sei. Das ist verständlich, wenn sie zufällig an eine Serie warnender Post-Holocaust-Geschichten geraten sind, oder an Leute, die sich, einem Trend folgend, im Jammern überbieten oder sich eine Überdosis kapitalistischen Realismus der Spielarten sleaze-metal-punk-virtual-noir reingezogen haben. Häufig aber, denke ich, ist der Vorwurf Ausdruck einer Scheu oder einer Traurigkeit in den Lesenden selbst: ein Misstrauen gegenüber Veränderungen, gegenüber der Phantasie. Viele Leute reagieren wirklich mit Angst und Schwermut, wenn sie gezwungen werden, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die ihnen nicht völlig vertraut sind; sie haben Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Wenn es nicht von etwas handelt, was sie kennen, lesen sie es nicht; wenn es eine andere Farbe hat, ist es ihnen zuwider; wenn es nicht von McDonald’s ist, essen sie es nicht. Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Welt existiert hat, bevor sie da waren, dass sie größer ist als sie und ohne sie weitergehen wird. Sie mögen Geschichte nicht. Sie mögen Science Fiction nicht. Sollen sie eben bei McDonald’s essen und im Himmel glücklich werden.
Nachdem ich mich nun eingehend darüber geäußert habe, warum einige Leute Science Fiction nicht mögen, will ich sagen, warum ich sie mag. Ich mag fast alle Arten von Erzählliteratur, im Wesentlichen der gleichen Eigenschaften wegen, von denen keine genrespezifisch ist. Aber zu den Eigenschaften, die mir in und an der Science Fiction gefallen, gehören unter anderem die folgenden: Lebendigkeit, Aufgeschlossenheit, Präzision der Phantasie; Verspieltheit, Vielfalt und Metaphernstärke; Freiheit von konventionellen literarischen Erwartungen und Manierismen; moralische Ernsthaftigkeit; Geist; Leidenschaft und Schönheit.
Lassen Sie mich einen Moment bei dem letzten Wort bleiben. Die Schönheit einer Geschichte kann geistiger Natur sein, wie die Schönheit eines mathematischen Beweises oder der Struktur eines Kristalls; sie kann ästhetisch sein, die Schönheit eines gelungenen Werks; sie kann menschlich sein, emotional, moralisch; meistens ist sie alles drei. Kritiker und Rezensenten von Science Fiction aber behandeln die Geschichte häufig, als wäre sie lediglich eine Darstellung von Ideen, als ginge es ihr allein um die intellektuelle »Botschaft«. Diese Verkürzung wird den komplexen, kraftvollen Verfahren und Experimenten vieler Werke der zeitgenössischen Science Fiction nicht gerecht. Die Autoren arbeiten sprachlich als Postmodernisten, und die Kritiker hinken Jahrzehnte hinterher, wenn sie kein Wort über die Sprache verlieren und taub sind für die Bedeutung von Klang, Rhythmus, Rekursion, Struktur – als wäre ein Text lediglich ein Träger für Ideen, eine Art Gelatinehülle für Pillen. Das ist naiv. Und es geht vollkommen an dem vorbei, was ich an der besten Science Fiction am meisten liebe, an ihrer Schönheit.
Dieser Essay stammt aus dem Buch Der Tag vor der Revolution von Ursula K. Le Guin. Übersetzt von Karen Nölle.

Ursula K. Le Guin
Ursula K. Le Guin (1929–2018) gilt als die Grande Dame der angloamerikanischen Science Fiction. Sie wurde mit zahlreichen Literatur- und Genrepreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem National Book Award für ihr Lebenswerk. Ihre Bücher beeinflussten viele namhafte Autoren, darunter Salman Rushdie und David Mitchell ebenso wie Neil Gaiman und Ian M. Banks.