Darf ich mich vorstellen? - Ursula K. Le Guin
Ursula K. Le Guin, 04.12.2025
Warum Ursula K. Le Guin ein Mann ist. Weshalb mal jemand alte Frauen erfinden sollte. Und der wahre Grund, warum Ernest Hemingway kurze Sätze bevorzugte. Das alles erkärt uns Le Guin in diesem pointierten Vorwort zur Sammlung Der Tag vor der Revolution.
Ich bin ein Mann. Vielleicht meinen Sie jetzt, mir wäre beim Geschlecht ein dummer Fehler unterlaufen, oder ich will Sie veralbern, da mein Vorname mit einem a endet und ich drei BHs besitze und fünfmal schwanger war und Ihnen vielleicht auch sonst noch allerlei an mir auffällt, lauter kleine Details. Aber Details zählen nicht. Wenn wir von Politikern irgendetwas lernen können, dann, dass Details nicht zählen. Ich bin ein Mann, und ich möchte, dass Sie das glauben und mir als Tatsache abkaufen, genau wie ich es viele Jahre lang getan habe.
Sehen Sie, als ich in der Zeit der Meder- und der Perserkriege aufwuchs und als ich kurz nach dem Hundertjährigen Krieg studierte und als ich meine Kinder während des Koreakrieges, des Kalten Krieges und des Vietnamkriegs großzog, gab es keine Frauen. Frauen sind erst jüngst erfunden worden. Ich bin Jahrzehnte vor der Erfindung der Frauen geboren. Gut, wenn Sie auf pedantischer Genauigkeit bestehen, wurden Frauen bereits mehrmals an ganz verschiedenen Orten erfunden, doch die Erfinder wussten einfach nicht, wie sie ihr Produkt verkaufen sollten. Ihre Vertriebsmethoden waren primitiv, und sie betrieben keine Marktforschung; so hat sich die Idee natürlich nie richtig durchgesetzt. Selbst wenn ein Genie dahintersteht, muss eine Erfindung ihren Markt finden, und lange Zeit schien es, als wäre mit der Idee Frau nicht einmal der geringste Profit zu erwirtschaften. Modelle wie die Austen und die Brontë waren zu kompliziert, über die Suffragette wurde nur gelacht, und die Woolf war ihrer Zeit viel zu weit voraus.
Daher gab es, als ich geboren wurde, tatsächlich nur Männer. Menschen waren Männer. Sie hatten alle dasselbe Pronomen, seines; also bin ich auch einer. Ich bin der generische Er, wie in »Wenn jemand eine Abtreibung wünscht, muss er dazu in einen anderen Staat fahren« oder »Ein Schriftsteller weiß, wie die Butter aufs Brot kommt«. Das bin ich, der Schriftsteller, er. Ich bin ein Mann.
Vielleicht kein erstklassiger Mann. Ich gebe gerne zu, dass ich wohl wirklich eher ein zweitklassiger Mann oder ein Männerimitat bin, ein vorgeblicher Er. Als Er verhalte ich mich zu einem echten Mann wie ein Fischstäbchen aus der Mikrowelle zu einem Königslachs vom Grill. Ich meine, mal ehrlich, kann ich befruchten? Kann ich im Bohemian Club Mitglied werden? Kann ich Chef von General Motors werden? Theoretisch kann ich das, aber Sie wissen ja, wie weit Theorien uns bringen. Jedenfalls nicht an die Spitze von General Motors und an dem Tag, wo eine Radcliffe-Absolventin Präsident der Harvard University wird, wecken Sie mich und sagen mir Bescheid, ja? Wobei das gar nicht mehr sein muss, weil es keine Radcliffe-Absolventinnen mehr gibt; sie wurden für überflüssig befunden und abgeschafft. Außerdem kann ich nicht meinen Namen in den Schnee pinkeln, oder es wäre jedenfalls furchtbar umständlich. Ich kann nicht meine Frau und meine Kinder und ein paar Nachbarn und am Ende mich selbst erschießen. Um die Wahrheit zu sagen, kann ich nicht einmal Auto fahren. Ich habe nie den Führerschein gemacht. Ich habe gekniffen. Ich fahre Bus. Das ist schrecklich! Ich gestehe es, ich bin wirklich ein äußerst armseliges Männerimitat; das war gut zu sehen, als ich diesen Militärlook mit Munitionstaschen zu tragen versuchte, der früher als schick galt und mit dem ich aussah wie ein Huhn in einem Kissenbezug. Ich habe die falsche Figur. Menschen sollen dünn sein, nicht wahr? Man kann nicht dünn genug sein, das sagen alle, vor allem Magersüchtige. Menschen sollten dünn sein und straff, weil Männer generell so sind, dünn und straff, oder jedenfalls viele Männer, wenn sie jung sind, und manche auch noch später. Und Männer sind Menschen, Menschen sind Männer, das steht nun mal felsenfest, und deshalb sind Menschen, echte Menschen, die richtigen Menschen, dünn. Ich dagegen bin echt schwach im Menschsein, weil ich überhaupt nicht dünn bin, sondern eher rundlich und stellenweise richtig dick. Und straff bin ich auch nicht. Außerdem sollten Menschen zäh sein. Zäh ist gut. Aber ich war noch nie zäh. Ich bin eher weich und irgendwie auch zart. Wie ein gutes Steak. Oder ein Königslachs, der weder mager noch ledrig ist, sondern sehr gehaltvoll und zart. Andererseits sind Lachse keine Menschen, oder jedenfalls erzählt man uns das seit kurzem. Man erzählt uns, dass es nur eine Art von Menschen gibt, und das sind Männer. Und es ist, denke ich, sehr wichtig, dass wir das alle glauben. Auf jeden Fall ist es den Männern wichtig.
Der Haken an der Sache ist, meine ich, dass mir zu einem Mann etwas fehlt. Zu einem Mann wie Ernest Hemingway. Mit dem Bart und den Waffen und den Ehefrauen und den kurzen, knappen Sätzen. Ich gebe mir wirklich Mühe. Ich habe dieses bartartige Zeug am Kinn, das mir immer wieder wachsen will, so neun oder zehn Haare, manchmal auch mehr. Doch was mache ich mit den Haaren? Ich zupfe sie aus. Würde ein Mann das tun? Männer zupfen nicht. Männer rasieren sich. Jedenfalls rasieren sich weiße Männer, weil sie behaart sind, und ich kann mir nicht aussuchen, ob ich weiß sein will oder nicht, und noch weniger, ob ich ein Mann sein will oder nicht. Ich bin weiß, ob es mir passt, weiß zu sein, oder nicht. Die Ärzte können nichts für mich tun. Aber ich denke mal, ich bemühe mich unter den gegebenen Umständen nach besten Kräften, nicht weiß zu sein, denn ich rasiere mich nicht. Ich zupfe. Aber das heißt nichts, weil ich eigentlich gar keinen Bart habe, der als solcher zählen kann. Außerdem habe ich keine Waffe und keine einzige Ehefrau, und meine Sätze haben den Hang, immer weiter und weiter und weiter zu gehen und voller Syntax zu sein. Hemingway wäre lieber gestorben, als sich mit Syntax abzugeben. Oder mit Semikolons. Ich benutze ständig halbherzige Semikolons; da, hier ist schon wieder eins; hinter ›Semikolons‹ steht ein Semikolon, und das nächste steht hinter ›eins‹.
Und noch etwas. Ernest Hemingway wäre lieber gestorben als alt zu werden. Er ist lieber gestorben. Er hat sich erschossen. Kurz und knapp. Alles lieber, als irgendetwas in die Länge ziehen, lebenslänglich. Der Tod ist kurz und sehr, sehr männlich. Leben nicht. Das Leben geht immer weiter, wie Sätze, die voll von Syntax und Satzgefügen und verwirrenden Bezügen und Altwerden sind. Und das bringt mich zum eigentlichen Beweis dafür, wie ich als Mann versagt habe: Ich bin noch nicht einmal jung. Ungefähr um die Zeit, als man endlich darauf kam, Frauen zu erfinden, begann ich alt zu werden. Und bin einfach immer älter geworden. Ohne mich zu schämen. Ich habe mir gestattet, alt zu werden, und habe nicht das Geringste dagegen getan, mit einer Waffe oder sonst was.
Da frage ich mich doch: Wenn ich auch nur ein Fünkchen Selbstachtung besäße, hätte ich mich dann nicht liften oder mir Fett absaugen lassen? Liposuktion. Apropos Saugen, das bringt mich darauf, was die Leute im Fernsehen so oft machen, wenn sie jung sind oder halbwegs jung, nur nicht, wenn sie alt sind und wenn der eine ein Mann und der andere eine Frau ist, aber niemals in anderer Kombination. Nämlich Folgendes: Der junge oder halbwegs junge Mann und die junge oder halbwegs junge Frau klammern sich aneinander und legen die Arme umeinander und vollführen dann Liposuktion. Man soll ihnen dabei zuschauen. Sie neigen die Köpfe und schieben sie vor und pressen Mund und Nase gegen Mund und Nase des anderen und öffnen den Mund im schiefen Winkel zueinander, und beim Zuschauen soll einem dann irgendwie warm werden oder feucht oder so. Für mein Gefühl gucke ich dann bloß zwei Leuten beim Saugen zu – und denke: Und dafür hat man letztendlich die Frauen erfunden? Das kann doch nicht sein.
Tatsächlich finde ich Sex als Zuschauersport noch langweiliger als alle anderen Arten von Zuschauersport, sogar Baseball. Wenn es unbedingt sein muss, dass ich bei einer Sportart zuschaue, anstatt sie selber auszuüben, dann nehme ich das Springreiten. Die Pferde sehen unheimlich gut aus. Die Leute, die auf ihnen reiten, sind meistens so Nazitypen, aber wie alle Nazis sind sie bloß so mächtig und erfolgreich wie das Pferd, auf dem sie reiten, und am Ende entscheidet das Pferd, ob es über das Gatter mit fünf Stangen springen oder so plötzlich davor anhalten will, dass der Nazi kopfüber aus dem Sattel fliegt. Nur dass dem Pferd meistens nicht einfällt, dass es diese Option hat. Pferde sind nicht besonders schlau. Allerdings haben Springreiten und Sex einiges gemeinsam, obwohl man Springreiten im amerikanischen Fernsehen meistens nur sehen kann, wenn man einen kanadischen Sender erwischt, was für Sex nicht gilt. Wenn ich, was ich häufig vergesse, die Option hätte, würde ich auf jeden Fall beim Springreiten zuschauen und Sex selber machen. Nie umgekehrt. Aber ich bin inzwischen zu alt fürs Springreiten, und was den Sex betrifft, wer weiß? Ich schon; Sie nicht.
Natürlich sollen Golden Oldies heutzutage genauso von Bett zu Bett hüpfen wie die Pferde über ihre Gatter mit den fünf Stangen: hopp, hopp, hopp. Aber diesen Supersex mit siebzig gibt es wieder mehr in der Theorie, so wie den weiblichen CEO von General Motors und den weiblichen Präsidenten von Harvard. Theorie wurde hauptsächlich dazu erfunden, Leute um die vierzig zu beruhigen, will sagen Männer, die Probleme haben. Deswegen hatten wir Karl Marx, und deswegen haben wir immer noch Ökonomen, wenn uns auch Karl Marx offenbar abhandengekommen ist. Für sich genommen ist Theorie prima. Was die praktische Umsetzung angeht oder die Praxis, wie die Marxisten gern sagten, wohl weil sie das x schön fanden, da warten Sie mal, bis sie sechzig oder siebzig sind, dann können Sie mir von Ihrem Sexualleben erzählen oder Ihrer Sexualpraxis, wenn Sie wollen, obwohl ich nicht versprechen kann, dass ich zuhören werde, und wenn ich doch zuhöre, werde ich mich wahrscheinlich furchtbar langweilen und anfangen, im Fernsehen nach Springreiten zu suchen. Jedenfalls werden Sie nichts von meinem Sexualleben oder meiner Sexualpraxis erfahren, weder dann noch jetzt noch sonst irgendwann. Aber wie dem auch sei, ich bin alt. Als ich diese Zeilen schrieb, war ich sechzig Jahre alt, »lächelnd, sechzig, ein berühmter Mann«, wie Yeats schrieb, andererseits war er ein Mann. Und jetzt bin ich über siebzig. Und das ist ganz allein meine Schuld. Ich komme zur Welt, bevor die Frauen erfunden werden, und gebe mir all die Jahrzehnte meines Lebens solche Mühe, ein guter Mann zu sein, dass ich vollkommen vergesse, jung zu bleiben, und deswegen ist das nichts geworden. Dabei kommt mir meine Zeitenfolge ganz durcheinander. Erst bin ich jung, und dann war ich auf einmal sechzig und vielleicht sogar achtzig, und was dann?
Nicht mehr sehr viel.
Immer wieder denke ich, es muss etwas geben, was ein richtiger Mann dagegen unternommen hätte. Weniger drastisch als eine Waffe, aber wirkungsvoller als Oil of Olaz. Aber ich habe versagt. Ich habe nichts getan. Ich habe es total versäumt, jung zu bleiben. Und dann blicke ich auf all meine Bemühungen zurück – denn ich habe es wirklich versucht, ich habe mir große Mühe gegeben, ein Mann zu sein, ein guter Mann – und sehe, wie vergebens das alles war. Ich bin bestenfalls ein schlechter Mann. Ein unechtes, zweitklassiges Er-Imitat mit einem Zehn-Haare-Bart und Semikolons in meinen Sätzen. Wozu das alles?, frage ich mich. Manchmal denke ich, es wäre das Beste, das Ganze einfach sein zu lassen. Manchmal denke ich, ich sollte mich lieber auf meine Option besinnen und vor dem Gatter mit den fünf Stangen bocken, damit der Nazi auf den Kopf fällt. Wenn ich nicht überzeugend so tun kann, als wäre ich ein Mann, und nicht überzeugend jung sein kann, dann kann ich auch gleich so tun, als wäre ich eine alte Frau. Ich bin mir nicht sicher, ob schon jemand alte Frauen erfunden hat; aber vielleicht wäre es einen Versuch wert.
Ursula K. Le Guin
Ursula K. Le Guin (1929–2018) gilt als die Grande Dame der angloamerikanischen Science Fiction. Sie wurde mit zahlreichen Literatur- und Genrepreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem National Book Award für ihr Lebenswerk. Ihre Bücher beeinflussten viele namhafte Autoren, darunter Salman Rushdie und David Mitchell ebenso wie Neil Gaiman und Ian M. Banks.