Science Fiction

Mehr als schwedische Maschinen: Die retrofuturistischen Bilderwelten des Simon Stålenhag

Zwei Jungen an einem See. Der eine hockt links auf Steinen am Ufer, ein Handtuch um die Schultern geschlungen, der andere steht rechts daneben und trocknet sich ab. Hinter dem See steht ein futuristisches Gebäude.
Christian Endres, 27.05.2025
 
Vier Bände, ein Rollenspiel, eine Amazon-Serie und einen Netflix-Film gibt es bereits zu den Bilderwelten von Simon Stålenhag. Mit Swedish Machines ist jetzt Band 5 erschienen, den Christian Endres zum Anlass genommen hat, uns das Schaffen des schwedischen Autors näher vorzustellen.
 
Der Schwede Simon Stålenhag begeistert seit Jahren mit seinen retrofuturistischen Cyberpunk-Alternativwelten, die er mittels Bilder und Prosa zum Leben erweckt. In seinen Illustrationen vereint Stålenhag dabei auf imposante Weise klassische Landschaftsgemälde mit typischen Science-Fiction-Elementen. Man sieht sofort, dass ihn der schwedische Naturmaler Lars Johnsson beeinflusst hat, aber auch die amerikanischen Konzept-Künstler Ralph McQuarrie und Syd Mead, die mit ihrer Arbeit an Star Wars und Blade Runner die SF bis heute geprägt haben.

Ursprünglich veröffentlichte der 1984 geborene Stålenhag seine Bilder nach und nach ohne konkretes Ziel oder größeren Zusammenhang im Internet. Schließlich kombinierte er seine beliebten Parallelwelt-Impressionen mit Unterstützung episodischer Texte ab 2014 zu erzählenden Artbook-Panoramen und narrativen Bildbänden. Daneben entstanden ein Pen&Paper-Rollenspiel und ein von Stålenhag produzierter Soundtrack, wobei Kickstarter immer wieder bei der Finanzierung geholfen hat, und mehrere aufwendige Streaming-Adaptionen für Amazon Prime und Netflix. 

Bei Fischer TOR erscheint nach Tales from the Loop, The Electric State, Things from the Flood und Das Labyrinth mit Swedish Machines im Mai jetzt schon das fünfte querformatige Buch von Simon Stålenhag auf Deutsch. Ein willkommener Anlass für einen erweiterten, aktualisierten Streifzug durch seinen SF-Kosmos.

Schwedische Nostalgie

Tales from the Loop setzt in einer schwedischen Parallelwelt der 1980er ein. Der titelgebende Teilchenbeschleuniger hat die Wirklichkeit verändert, zu der nun hochentwickelte Roboter und Drohnen, Dinosaurier, tierische Cyborgs und vieles mehr gehören. Doch Stålenhag bildet keinen Krieg ab, stattdessen illustriert und beschreibt er eine Co-Existenz. Dieses friedliche Nebeneinander liefert einen angenehmen, einnehmenden Kontrast zu den üblichen Konflikten des Genres, und geradezu nostalgisch-utopisches Feeling. 

Das Sequel Tales from the Flood führt dann in die 1990er derselben Welt. Aus der Loop-Einrichtung flutet angeblich kontaminiertes Wasser, was Sperrzonen nötig macht und Verschwörungstheorien gedeihen lässt. Inmitten von all dem ragen gewaltige futuristische Fabrikkomplexe auf, ziehen Maschinen-Riesen und Robo-Vagabunden umher, trifft man militärische Drohnen und junge menschliche Hacker.

In beiden Bänden erschafft Stålenhag eine Alternate-Reality-Variation seiner Jugend außerhalb Stockholms. Er zelebriert die Kunst des Retrofuturismus, lädt also die nostalgischen Erinnerungen an die Vergangenheit mit den Visionen der Zukunft und den Motiven der Fantastik auf. Diese Fusion ergibt Steampunk und, noch präziser, Cyberpunk. Dazu gehört auch die klobige, aus heutiger Sicht schon wieder überholt wirkende Technologie aus den Anfängen des Computer-Zeitalters und der Ära des ersten Cyberpunk-Booms.

Stålenhags staunenswerte Bilder und vielseitige Textvignetten sorgen für starkes Worldbuilding. Im Mittelpunkt steht die Symbiose von Natur, Mensch und Menschengeschaffenem. Alltägliches, Fantastisches, Gewohntes, Fremdartiges, Nostalgisches und Futuristisches verschmelzen zu einer Übernatürlichkeit – einer Hyperrealität, der trotz allem ein stets greifbarer Realismus anhaftet. Außerdem stattet Stålenhag seine Welt mit einem allgegenwärtigen Sinn von Weite aus, und einem ganz eigenen Sense of Wonder.

Ein fantastisches Setting für viele Bilder, Ideen, Schicksale und Geschichten. Stålenhags Bücher über die Welt des Loops laden zum intensiven Betrachten und langen Verweilen ein, ohne jedes Geheimnis ihrer verwandelten Wirklichkeiten preiszugeben. Dazu passt, dass Stålenhag mit seinen knappen Texten zumeist ‚nur’ unterstützt, lieber anreißt und anregt anstatt alles bis in den letzten Winkel auszuleuchten, bis ins letzte Detail auszuerzählen. So bleibt genug Raum, um selbstständig noch tiefer in diesen Kosmos einzutauchen, ihn mit der eigenen Vorstellungskraft zu entschlüsseln und zu erforschen.

2020 ging eine acht Episoden umfassende Adaption von Tales from the Loop als Streaming-Serie bei Amazon Prime online, die Nathaniel Halpern („Legion“, „Outcast“) entwickelt und u. a. Matt Reeves („Cloverfield“, „The Batman“) produziert hat. Die Serienfassung mit Rebecca Hall („Godzilla vs. Kong“) und anderen nimmt den Geist und die ruhige Erzählweise von Stålenhags Büchern sehr ernst und bietet in Tempo und Inszenierung ihrerseits einen klaren Gegensatz zu den meisten anderen zeitgenössischen SF-Produktionen.

Endzeit und Postapokalypse

Der eigenständige Band The Electric State handelt ebenfalls von Menschen und Robotern, jedoch auch von Abhängigkeit und Evolution – und ist in einer alternativen Version der amerikanischen 1990er angesiedelt, die zum Schlachtfeld von Drohnen, Kampfbots und Luftschiffen wurden. Die Endzeit wird von einem künstlichen Superintellekt beherrscht, viele Menschen sind von Neurohelmen abhängig, überall streifen autonome Roboter und seltsame Chimären umher. Ungeachtet aller Gefahren begeben sich ein kleines Mädchen und sein treuer Bot auf einen Roadtrip. Die bis dato so optimistische Science Fiction Stålenhags erhält hier einen deutlich spürbaren Zusatz an Dunkelheit und sogar Horror.

Beim Schweden hat das aber trotz allem immer etwas Besonderes. Die Russo Brothers (Regisseure der Marvel-Kassenknüller „Avengers: Infinity War“ und „Avengers: Endgame“) haben daraus für Netflix Anfang 2025 eine 320 Millionen teure Verfilmung mit Chris Pratt („Jurassic World“) und Millie Bobby Brown („Stranger Things“) gemacht – und alles, was Stålenhags Buch The Electric State auszeichnet, auf dem Altar der gegenwärtigen Blockbuster-Backform-Hörigkeit geopfert. Das muss man auch erst einmal hinkriegen.

Also lieber schnell zurück zu den Büchern aus Schweden. Das Labyrinth ist von Stimmung und Malstil her nämlich unverkennbar Simon Stålenhag, und doch etwas anders als seine vorherigen Werke. Die düstere Welt besteht hier bloß noch aus Ruinen, nachdem die mysteriösen Schwarzen Sphären die Erde vergiftet haben. Wenige auserwählte Menschen überleben in unterirdischen Anlagen, gelegentlich bricht man in einem gepanzerten Fahrzeug zu seiner Expedition an die Oberfläche auf und lebt vorübergehend in einer gesicherten Station. Soldaten und Soldatinnen, Kampfschiffe und Roboter setzen derweil die Regeln einer strengen neuen Ordnung durch. Postapokalypse und Dystopie spiegeln sich auch in den Bildern wider, die wesentlich bedrückender, finsterer und bedrohlicher wirken als in Stålenhags früheren Veröffentlichungen.

Überdies ist der Text dichter denn je und erzählt eine zusammenhängende Geschichte. Visuell greift Stålenhag zwischendurch erstmals auf sequenzielle Bildfolgen wie in Comic oder Storyboard zurück. Eine interessante Erweiterung seines zeichnerisch-erzählerischen Repertoires, ohne dass er dadurch automatisch Gefahr liefe, zu viel zu enthüllen. Es geht in den jeweiligen Passagen eher um die Konzentration auf eine bestimmte Szene, einen konkreten Ablauf. Nicht nur für Fans seiner Kunst eine spannende Entwicklung. Allerdings sollte Das Labyrinth aufgrund des Krieges in der Ukraine mit einem Trigger-Hinweis versehen werden, denn es gibt einige verwüstete Stadtruinen und die blutigen Konsequenzen von extremer Gewalt zu sehen.

Schwedische Maschinen

Simon Stålenhags neuer Band Swedish Machines erweckt den Eindruck, als wolle der schwedische Künstler explizit einen Gegenpol zur verzerrenden Adaption seines bekanntesten Werks auf Netflix und zum deprimierenden Geschehen in unserer Gegenwart schaffen – auch wenn die Prämisse der Geschichte erst einmal wieder darum kreist, dass ein schiefgegangener Waffentest bei einem schwedischen Rüstungsunternehmen die Insel Svartlöten zur Sperrzone gemacht hat. Zwei ehemalige Schulfreunde, die sich in wenigen Jahren des Abstands voneinander jeweils ziemlich verändert haben, ziehen los, die Sperrzone zu plündern. Zwischen den weiten Dünen und den industriellen Überresten stolpern die beiden nicht zuletzt über ihre Leidenschaft …

Äußere Weite, emotionale Tiefe, eine queere Coming-Of-Age-Story, dazu das nostalgische Gemisch aus ICQ, Klapphandys, Final Fantasy XII, „Ghost in the Shell“ und der bewährten Stålenhag’schen SF-Maschinerie – Swedish Machines schafft es, gleichzeitig ein typischer und ein untypischer Stålenhag zu sein. Darüber hinaus zeigt der neue Band uns einen anderen Teil Schwedens als bisher und nimmt uns mit in vergangene Zeiten und Leben, die fremd und vertraut in einem wirken. Und weil man sich mittlerweile dran gewöhnt hat, zur Sicherheit noch mal diese Feststellung: Der nostalgische schwedische Cyber-Realismus und der dazugehörige Retrofuturismus funktionieren auch diesmal hervorragend, was das Visuelle anbelangt.

Gut, dass wir uns dank dieser Neuerscheinung jetzt wieder primär auf die Bücher von Simon Stålenhag konzentrieren können. Die Netflix-Adaption von The Electric State ist seinen ursprünglichen Geschichten, Bildern und Stimmungen so gut wie nie gerecht geworden. Sollen lieber wieder die Worte und Illustrationen Stålenhags für sich sprechen. Wer in die Science-Fiction-Welten des schwedischen Multitalents eintauchen will, tut das daher am besten mit seinen faszinierenden, ansprechenden und trotz ihrer eindeutigen Lokalisierung universell, überall zugänglichen Werken. Genug Auswahl hat man inzwischen ja.

Alle Bände wurden von Stefan Pluschkat aus dem Schwedischen übersetzt.

Simon Stålenhag

Christian Endres

Christian Endres ist Journalist, Comic-Redakteur und Autor. Zuletzt erschienen seine Fantasy-Trilogie um Die Prinzessinnen: Fünf gegen die Finsternis (Cross Cult) und sein Science-Fiction-Krimi Wolfszone (Heyne). Seine Storys finden sich u. a. in Spektrum der Wissenschaft und c’t. Er wurde mit dem Deutschen Phantastik Preis, dem Kurd-Laßwitz-Preis und dem Literaturpreis Klimazukünfte 2050 ausgezeichnet, obendrein für den Seraph und den Deutschen Science Fiction Preis nominiert. @MisterEndres

Unsere aktuellen Titel