Lena Richter, 05.06.2025
Kann die Phantastik uns helfen, Krisen besser zu verarbeiten? Kann sie uns auf einschneidende bis katastrophale Ereignisse vorbereiten? Diesen Fragen geht Lena Richter in diesem Artikel nach.
Wir leben in interessanten Zeiten, und mit interessant meine ich: Schrecklich, absurd, und beim täglichen Lesen der Nachrichten erfüllt von dem Gefühl, man hätte mir Brausepulver ins Gehirn geschüttet. Kann Phantastik uns retten? Vermutlich nicht - aber ich denke, sie kann uns zumindest helfen. Warum, erfahrt ihr im Beitrag.
Der Phantastik (und generell der Unterhaltungsliteratur) haftet schon immer der Vorwurf an, sie sei reine Unterhaltung und nichts mehr als das. Bei der Frage, wie man in dieser absurden und schrecklichen Zeit, in der wir leben, Resilienz entwickeln und Selbstwirksamkeit erhalten kann, würden viele womöglich eher zu politischen Sachbüchern, Ratgebern oder Erfahrungsberichten raten. Das ist natürlich auch eine wertvolle Lektüre – und dennoch tut man der Phantastik unrecht, wenn man ihr keinen positiven Einfluss aufs generelle Klarkommen mit der Welt zugesteht und verkennt, dass gerade phantastische Welten und Geschichten besonders gut geeignet sein können, um Resilienz aufzubauen.
Eskapismus und Erholung
Fangen wir mit dem Vorwurf des Eskapismus an: Ja, selbstverständlich ist es eskapistisch, sich beim Lesen oder Fernsehen in andere Welten zu begeben, mit erfundenen Figuren mitzufiebern und für eine Weile die Realität zu vergessen. Aber es ist auch verdammt notwendig. Es ist gut und wichtig, informiert zu bleiben, sich zu engagieren und Einfluss zu nehmen. Aber niemand von uns kann sieben Tage die Woche politisches und soziales Engagement leisten, ohne sich zwischendurch zu erholen, abzuschalten und zu regenerieren. Das berühmte Zitat von Audre Lorde zum Thema Selbstfürsorge („Caring for myself is not self-indulgence, it is self-preservation, and that is an act of political warfare.”) wurde leider viel aus dem Zusammenhang gerissen, um Self Care als eine weitere Form der Eigenoptimierung und des Konsums zu etablieren. Dennoch sind Selbstfürsorge, das Entkoppeln des eigenen Selbstwerts von Leistung und Erfolg und das Kümmern um andere, gerade für marginalisierte Menschen, elementar wichtig. Das Eintauchen in phantastische Welten ist eine Möglichkeit, um Pause zu machen und sich zu erholen.
Wichtig ist dabei aber, Eskapismus zur Erholung nicht mit generellem Rückzug ins Private und (vermeintlich) Unpolitische zu verwechseln. Ich kann zwar niemandem den Wunsch danach verübeln, und für manche Menschen, zeitweilig oder dauerhaft, ist bereits die eigene Existenz und das Überleben genügend political warfare. Aber alle, die noch können, werden wir brauchen, wenn wir möchten, dass nach dieser schlimmen Zeit wieder eine bessere kommt. Phantastische Geschichten können uns dabei helfen, aber das reine Konsumieren dieser Geschichten reicht nicht. Wie Kai Cheng Thom in ihrem Buch I hope we choose love schreibt: “The story is a dream of the revolution, but it is not a revolution on its own. The people must make their own revolutions.”
Vorstellungskraft und Problembewusstsein
Auf Bluesky habe ich einen sehr interessanten Thread dazu gefunden, wie dystopische Literatur dazu beitragen kann, weniger überrascht davon zu sein, in welche Richtung sich die Welt entwickelt. Und zwar nicht, weil Dystopien den Lauf der Geschichte korrekt voraussagen, sondern weil es Aufgabe der Autor*innen ist, die sie schreiben, “mit ihrer ganzen Vorstellungskraft nachzudenken, wo Gesellschaften und Systeme schwere Fehler eingebaut haben, wo Bruchlinien zusammenlaufen, und wo aus Scheitern eine gute Story wird.” Denn gerade Scheitern, Fehlschläge und Hindernisse sind ja Voraussetzungen für eine spannende Geschichte. Octavia Butler wurde oft gefragt, wie sie auf die Zukunftsvision ihres 1993 erschienenen Romans The Parable of the Sower gekommen ist. „Ich habe mir die Probleme nicht ausgedacht”, stellte sie einmal nach einer Lesung klar. “Ich habe mir lediglich angeschaut, welche Probleme wir gerade vernachlässigen, und ihnen etwa dreißig Jahre Zeit gegeben, zu ausgewachsenen Katastrophen zu werden.” Mehr zu der Begegnung gibt es übrigens in diesem lesenswerten Text. Auch Margaret Atwood hat mehrfach betont, dass sie in The Handmaid’s Tale nichts beschreibt, was nicht in der Vergangenheit bereits geschehen ist oder in der Gegenwart geschieht.
Was das jetzt mit Resilienz zu tun hat? Ganz einfach: Wir können vorbereitet sein. Es ist sehr menschlich, beim Nachrichtenkonsum, bei ganz offen geäußerten faschistischen Bestrebungen, wie etwas dem US-amerikanischen Project 2025, oder bei Forderungen rechtsextremer Politik erstmal zu erschaudern und zu hoffen, dass es so schlimm schon nicht wird. Wenn wir aber unsere Vorstellungskraft anwenden, können wir Dinge bis zum Ende durchdenken, uns darauf einstellen. Wir müssen nicht mehr täglich den emotionalen Stress von Überraschung, Empörung und Entsetzen durchlaufen, sondern können unsere Energie nutzen, um Gegenstrategien zu entwickeln. Auch hierbei können sowohl das eigene Vorstellungsvermögen als auch phantastische Geschichten uns helfen.