Der Herr der Ringe: Die Filme im Wandel der Zeit - Ein persönlicher Rückblick
Lena Richter, 10.12.2025
Heute vor 24 Jahren feierte der erste Teil der Herr-der-Ringe-Filmtrilogie “Die Gefährten” Weltpremiere. Lena Richter wirft einen sehr persönlichen Blick auf das Werk Tolkiens und seine Adaptionen zurück und erklärt uns, wie sich ihr Blick darauf mit den Jahren und ihrem Leben verändert hat.
Der Herr der Ringe ist, auch 70 Jahre nach Erscheinen des ersten Buches und fast 25 Jahre nach Erscheinen des ersten Films von Peter Jackson, vermutlich immer noch die einflussreichste Fantasy-Geschichte der Welt. Zahllose Bücher werben auf dem Klappentext mit Tolkien-Vergleichen, Völker wie Elfen, Orks und Zwerge sind in der Fantasy fest verankert und oft von der Darstellung Tolkiens beeinflusst. Mit der Serie Die Ringe der Macht und dem animierten Film Die Schlacht der Rohirrim gibt es seit einigen Jahren auch wieder Neues aus der Welt von Mittelerde zu sehen. Aber darum geht es in diesem Text nur am Rande, denn für mich ist vor allem die Herr-der-Ringe-Filmtrilogie das Medium, das mich seit fast 25 Jahren begleitet und an dem ich beobachten konnte und kann, wie anders man Geschichte im Laufe des eigenen Lebens wahrnimmt.
2001. Ich bin 16. Zu Weihnachten bekomme ich die Herr-der-Ringe-Trilogie geschenkt und lese sie innerhalb einer Woche durch. Zwischen den Jahren schaue ich den ersten Film im Kino. Es ist, abgesehen von Märchenfilmen und den Anime-Serien, die nachmittags auf RTL 2 liefen, der erste Fantasy-Film, den ich sehe. Und Liebe auf den ersten Blick. Ich melde mich wenige Tage danach in einem Fan-Forum an. Ich verbringe den Silvesterabend bei Freund*innen meiner Eltern völlig versunken neben dem Bücherregal, in dem der Anhang zur Romantrilogie steht, der meiner Ausgabe fehlt. In den nächsten Monaten lese ich die Bücher ein weiteres Mal. Ich schleife alle meine Freund*innen ins Kino, um noch mal Die Gefährten zu sehen. Als niemand mehr mitkommt, gehe ich noch dreimal allein ins Kino. Ich möchte zum ersten Mal einen Film im Original sehen, es dauert ein halbes Jahr, bis mir das in einem Kino in Berlin gelingt.
Ich schmachte Legolas an, wie er mühelos über den Schnee spaziert. Aragorn ist cool und furchtlos, aber definitiv ein Erwachsener – eher eine Vaterfigur, die Generation zwischen Gandalf und den Hobbits. Ich bewundere Frodo für seinen Mut und fürchte mich vor Gollum, diesem tragischen, zerrissenen Wesen. Ich lache über Samweis, der in einer Szene innehält, als er so weit von daheim entfernt ist wie noch nie. Wie könnte das etwas Schlechtes sein? Ich kann es nicht erwarten, endlich eine Welt zu finden, die größer ist als die meines Gebirgsdorfs. Und finde sie in der Ecke des Internets, der die Trilogie und der Film genauso viel bedeuten wie mir. Auf einmal kenne ich Leute in Berlin, in Leipzig, in Hamburg. Ich fahre, nachdem ich meine Eltern überzeugen konnte, dass dort kein Axtmord auf mich wartet, sondern nur eine Horde Nerds in selbstgenähten Umhängen, zu Fantreffen und Stammtischen. Ich lerne, meinen Namen in Tengwar-Zeichen zu schreiben. Mittelerde ist immer da, wenn die Realität Enttäuschungen, Stress und Streit bereithält. Nichts würde ich lieber tun, als diese Welt zu besuchen.
Ein Wunsch, den nicht nur ich habe, denn die Welt von Mittelerde und die Abenteuer der Ringgemeinschaft faszinieren viele. Die Bücher werden bis heute gelesen, die Filme stehen immer noch weit oben auf den Listen der erfolgreichsten Filme aller Zeiten und Neuseeland als Urlaubsziel wurde schlagartig beliebter, nachdem die wunderschöne Landschaft in der Trilogie so gut in Szene gesetzt wurde. Das Filmset von Hobbingen, von Jacksons Crew nahe des Orts Matamata gebaut, ist heute ein beliebter Touri-Spot, an dem man sogar in einer Nachbildung des Green Dragon Essen und Getränke zu sich nehmen kann. Dass ein Teil des Auenlands in diesem Maß aufgebaut wurde, dass es heute beinahe als echter Ort existiert, spricht von der Faszination für die Geschichte – und Jacksons Herangehensweise an Filmsets, die so lebensnah wie möglich sind.
2003. Ich bin 18 und wohne und studiere seit zwei Monaten in Hamburg, 550 km entfernt von dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Ich habe nicht in einem Kornfeld innegehalten, als ich mit meinem winzigen Peugot 501 voller Umzugskisten ins Studi-Wohnheim gefahren bin. In Hamburg bin ich zwar neu, aber der Anschluss fällt nicht schwer: Hier kenne ich schon viele Leute aus dem Herr-der-Ringe-Film-Forum, die sich regelmäßig treffen. Zwar kann ich immer noch nicht nach Mittelerde reisen, aber mit dem Pen-and-Paper-Rollenspiel in der Welt des Schwarzen Auges bin ich der Sache ein ganzes Stück nähergekommen. Mit dem Umzug und dem Studierendenleben erfüllt sich außerdem ein Traum: Ich kann Die Rückkehr des Königs in der Mitternachtspremiere sehen. Im großen Saal des Cinemaxx warte ich mit Hunderten anderer Fans auf den Abschluss der Filmreihe. Beim Auftauchen der Rohirrim in der Schlacht um Gondor fange ich an zu weinen und höre nicht mehr auf, bis der Abspann gelaufen ist.
Die Welt von Mittelerde ist gerettet, Sauron besiegt, Aragorn endlich König. Alles ist in Ordnung. Nur Frodo, der an der Rettung der Welt zugrunde gegangen ist, trübt das Bild, aber immerhin darf er mit den Elben und Gandalf davonfahren. Der Abschied schmerzt, sowohl der von Frodo und Sam auf der Leinwand als auch der von Trilogie, die nun beendet ist. Doch es bleibt immer noch die Diskussion über die Filme, wie im erwähnten Forum, in dem z. B. Abweichungen der Filme von der Buchvorlage hitzig diskutiert werden. Ob nun die Elben in Helms Klamm, das Fehlen der Tom-Bombadil-Episode oder die größere Screentime der von Liv Tyler verkörperten Arwen, es gibt viele Leute und viele Meinungen.
Nach den Kinoversionen der Filme erschienen nicht nur die DVD-Versionen der Filme, sondern auch für jeden Teil eine Special Extended Edition mit zusätzlichen Szenen, die in den Kinofassungen nicht enthalten waren. Außerdem gibt es darauf zahlreiche Making-Ofs und Dokumentationen. Wenn man den neun Schauspielern zuhört, die die Gefährten verkörpert haben, bekommt man das Gefühl, dass die 14 Monate Dreharbeiten in Neuseeland (an die sich noch zahlreiche Nachdrehs anschlossen) auch den Cast sehr zusammengeschweißt haben. Die Rückkehr des Königs gewann auch tatsächlich 2004 den Oscar als bester Film und Peter Jackson den Oscar als bester Regisseur, was bei Fantasy-Buchverfilmungen eher selten passiert. Zwar hat die Trilogie insgesamt 17 Oscars gewonnen, doch die ersten beiden Teile bekamen eher die technischen Auszeichnungen für visuelle Effekte, Make-Up und Ton.
2005. Ich bin 21 und schaue alle drei Special Extended Editions in einem Filmmarathon, von 20 Uhr abends bis 8 Uhr morgens. Danach schlafe ich bis nachmittags und fahre dann zu einer Rollenspielrunde. Mein Studium habe ich mehr oder weniger aufgegeben und noch keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Kein Zauberer ist aufgetaucht und hat mir erklärt, auf welche Weise ich meinen Teil in der Geschichte beitragen soll. Das Ende von Gemeinschaften kenne ich nun besser, ebenso wie die tiefen Konflikte in Freundschaften und die Abschiede von Personen, die ihre Reise über das Meer angetreten haben und nie mehr wiederkommen.
Nach den Herr-der-Ringe-Filmen wollte Peter Jackson eigentlich nicht noch einmal als Regisseur nach Mittelerde zurückkehren, nahm nach Guillermo del Toros Ausstieg aus dem Hobbit-Projekt aber doch wieder auf dem Regiestuhl Platz. Aus dem recht dünnen Roman wurde erneut eine Trilogie voller Action und Kämpfe. Die Reaktionen auf die Filme waren diesmal durchwachsen, was ich nachvollziehen kann, zumal gerade der erste Teil sehr viele (zu) nostalgische Rückgriffe auf Die Gefährten beinhaltet.
2011. Ich bin 27 und arbeite inzwischen Vollzeit in einem Bürojob. Der Hobbit, Teil 1, ist im Kino. Ich schaue ihn mir am Premierentag an und bemerke danach in meinem Blog, dass ich Filme nicht mehr so schaue wie früher: „Ich bin halt keine 16 mehr. Und ich werde wohl auch nie wieder so begeistert und völlig von den Socken sein wie damals, als ich FotR zum ersten Mal gesehen habe. Ich habe mich gestern im Kino dabei schon ertappt, wie ich so Dinge dachte wie ‚ah, schlau, dass sie Smaug nicht ganz zeigen, das hält das Mysterium aufrecht‘ oder ‚ah, okay, Azog muss da sein, damit es einen Charakter gibt, den man hassen kann und der der Feind ist‘. Das ist ein bisschen schade. Aber ich fürchte, ich kann solche Gedanken einfach nicht mehr abstellen – dazu habe ich mich in den letzten Jahren zu sehr damit beschäftigt, wie Geschichten funktionieren, welche Art von Charakteren ich gut finde, usw. usw. Das kann ich nicht einfach abschalten.“
Nach den Hobbit-Filmen wurde es eine Weile ruhig um Mittelerde. Da die Erben Tolkiens lange die Verkäufe weiterer Rechte von Tolkiens Werken ablehnten, konnte weiteres Material erst einmal nicht für Film- oder Serienversionen herangezogen werden. Der Beliebtheit der Filme tat das keinen Abbruch. Die Trilogie ist mehr als ihre eigene Geschichte, sie ist vermutlich immer noch das Beispiel für eine gelungene Verfilmung einer Fantasy-Buchreihe. Zitate aus den Filmen kennen vermutlich viele, die sie selbst nie gesehen haben, es gibt zahllose Memes, Persiflagen und Anspielungen auf Der Herr der Ringe. Weder die Hobbit-Verfilmung noch andere Adaptionen von Fantasy-Reihen konnten mithalten. Game of Thrones schaffte es zu globalem Ruhm und konnte auch ein Publikum begeistern, dass Fantasy eigentlich nicht schaute oder las. Jedoch: nach der eher durchwachsenen letzten Staffel und dem unbefriedigenden Finale ist die Serie zwar immer noch bekannt und beliebt, hat aber eben nicht den Ruf einer Verfilmung, die ihre Sache von Anfang bis Ende doch überwiegend gut gemacht und ein befriedigendes Ende geschafft hat.
2018. Ich bin 33 und gehe mit drei anderen Leuten in einen Herr-der-Ringe-Marathon im Hamburger Savoy-Kino: An einem Sonntag werden von vormittags bis Mitternacht alle drei Special Extended Editions gezeigt, mit jeweils einer Stunde Pause dazwischen. Der Kinosaal ist voll. Es wird an Stellen gelacht, die vor 17 Jahren nicht lustig waren, die aber seitdem ihr Eigenleben entwickelt haben. Boromirs “One does not simply walk into Mordor” löst ebensoviel Kichern aus wie Gandalfs “I have no memory of this place”. Vermutlich weiß jede Person im Saal, in welcher Szene Viggo Mortensen sich in Teil 2 den Fuß gebrochen hat. Gleichzeitig ist es bei den ergreifenden Stellen trotzdem still. Zwei von den drei Personen, mit denen ich im Kino bin, kenne ich aus dem Fan-Forum, in dem ich mich vor 17 Jahren angemeldet habe.
Während ich den ganzen Tag die Trilogie schaue, laufen auf Twitter meine Mentions in ungeahnte Höhen, denn am Morgen des Tages habe ich “Folge 0” des Podcasts hochgeladen, den ich zusammen mit Judith Vogt starten möchte. Die Reaktionen sind ermutigend. In der ersten Folge reden wir auch über Herr der Ringe und darüber, wie sehr wir die Filme immer noch mögen, obwohl sie so dermaßen voller weißer cis hetereo Männer sind, dass es im Jahr 2018 vollkommen aus der Zeit gefallen wirkt. Und wie gleichzeitig genau diese männlichen Figuren frei von jeder toxischen Männlichkeit sind, wie sie sich umarmen, auf die Stirn küssen, weinen und trauern. Inzwischen erkenne ich viel deutlicher, wie viele Kriegserinnerungen Tolkien in der Geschichte verarbeitet hat und wie die bedingungslose Freundschaft zwischen den Gefährten als Gegengewicht zu den Schrecken von Krieg und Zerstörung wirkt. Auch Frodos Abschied von Beutelsend, dem Auenland und Sam am Ende von Teil 3 wirkt inzwischen anders auf mich, verständlicher, nachvollziehbarer und gleichzeitig trauriger. Es gibt Dinge, die eine Rückkehr in ein Früher unmöglich machen. Ich beispielsweise sehe die Filme und liebe sie immer noch, sehe aber inzwischen deutlicher die Probleme darin, den rein weißen Cast, die wenigen Frauen. Warum noch mal habe ich mich mit 18 über die zusätzlichen Szenen mit Arwen aufgeregt, die den Film immerhin ein bisschen vom rein männlichen Wimmelbild wegbewegen? Ich weiß es nicht. Und möchte es auch gar nicht mehr nachvollziehen können.
Bereits 2017 kauften die Amazon-Studios von den Erben Tolkiens die Rechte an den Anhängen zum Herrn der Ringe. (Genau, das Buch, das ich Silvester 2001 so erpicht durchgeblättert habe). Diese Anhänge beinhalten auch einen Geschichtsteil zu Mittelerde, der damit nun als Grundlage für eine neue Serie dienen kann. Die erste Staffel von Die Ringe der Macht erschien im September 2022. In fünf geplanten Staffeln (wenn Amazon nicht wieder mittendrin eine Serie absetzt, wie es derzeit ja ständig passiert) soll die Serie die Entstehung der namensgebenden Ringe erzählen. Es hat in den letzten Jahren viele Diskussionen darum gegeben, wie Tolkiens Darstellung von z. B. Orks und den als People of Color beschriebenen Haradrim, die auf Seiten Saurons kämpfen, zu bewerten sind. (Lesenswert zu den Orks von Tolkien finde ich nach wie vor den Text von James Mendes Hodes.) Auch das Zuweisen von Eigenschaften, die für alle Mitglieder einer Spezies gelten (anmutige Elben, sturköpfige Zwerge) und die Vorstellung einer einstmals besseren Welt, die nun langsam dem Verfall anheimfällt, sind Elemente der tolkienschen Fantasy, die inzwischen kritisch reflektiert werden.
In Die Ringe der Macht jedenfalls gibt es Schwarze Zwerginnen und Elben of Color, es gibt verschiedenste weibliche Figuren, von der kämpferischen Galadriel über die neugierige Nori bis hin zur königlichen Míriel. Diskussionen über die Serie liefen und laufen oft frustrierend weit von deren eigentlichem Inhalt ab und drehen sich darum, ob diese Interpretation von Tolkiens Werk nun gut oder schlecht ist, was leider bis hin zu Hasskampagnen gegen die marginalisierten Mitglieder des Casts ausuferte. Auch wenn Tolkiens Werk von den Vorurteilen und Ansichten seiner Zeit geprägt ist: Bei dem Menschen, der 1938 eine Übersetzung des Hobbits ins Deutsche wortreich und deutlich ablehnte, weil der deutsche Verlag einen Ariernachweis von ihm verlangte, habe ich Hoffnung, dass er hier auf der Seite von Serie und Cast gestanden hätte.
2022, ich bin 37. Die erste Staffel der Serie Die Ringe der Macht läuft und bringt nach fast zwanzig Jahren eine neue Reise nach Mittelerde mit sich. Mir gefällt die neue Serie trotz einiger Kritikpunkte, vor allem weckt sie bei mir aber die Lust, die Filmtrilogie wieder zu schauen. Ich bin erstaunt darüber, wie gut die Serien-Galadriel zur Film-Galadriel passt und frage mich, wie mir all die Jahre lang entgehen konnte, wie zentral das Motiv von Hoffnung in den Filmen ist – gerade im zweiten Teil, als die Schlacht von Helms Klamm schon deshalb zu verloren gehen droht, weil niemand daran glaubt, eine Überlebenschance zu haben. Aber auch im dritten Teil, als die Horden von Mordor auf Minas Tirith vorrücken und Gandalf gefragt wird, ob es denn noch Hoffnung gibt. „There was never much hope. Just a fool’s hope“, antwortet er. Die närrische, kleine Hoffnung, sie fühlt sich sehr real an, zwischen Pandemie und Krieg in der Ukraine, zwischen erstarkenden rechten Strömungen und Gefahr für Marginalisierte. Im Film zumindest ist sie berechtigt; die Rettung naht, wie so oft, wenn die Sonne aufgeht.
Auf die erste Staffel von Die Ringe der Macht folgte die 2024 die zweite. Ob die Serie wie geplant zu Ende gedreht wird, bleibt, wie gesagt, in Zeiten von erratisch-kapitalistischen Studio-Entscheidungen spannend. Außerdem erschien 2024 ein animierter Film namens Die Schlacht der Rohirrim, der etwa zweihundert Jahre vor dem Ringkrieg in Rohan spielt. (Ich habe ihn mir nicht angeschaut, weil mir der Trailer gar nicht zugesagt hat und alles wieder ein bisschen zu althergebracht und nostalgisch auf mich wirkte.) 2027 soll mit The Hunt for Gollum ein weiterer Film erscheinen, der eine in den Büchern nur kurz erwähnte Episode, in der Aragorn Gollum jagt, erzählt. Ein weiterer Film, über dessen Inhalt noch nichts bekannt ist, ist ebenfalls in Planung.
2024, ich bin 39. In der Zeit zwischen den Jahren schaue ich die Herr-der-Ringe-Filme erneut, die Special Extended Edition-DVDs funktionieren nach wie vor. Ich kann nicht sagen, wie oft ich die Filme inzwischen schon gesehen habe. Die Zeiten sind noch düsterer geworden, Trump ist wiedergewählt, die Ampel-Koalition zerbrochen, die AfD stärker als je zuvor. Zum ersten Mal ist Boromir in Die Gefährten eine Identifikationsfigur, ebenso wie sein Bruder Faramir im zweiten Teil. Nach Jahren des Kampfs gegen das Böse, immer unterlegen, immer zum Scheitern verurteilt, gibt es auf einmal einen Gegenstand, der das Blatt wenden könnte. Wie könnte man diese Chance nicht nutzen wollen? „Natürlich darf er den Ring nicht einsetzen“, würde mein 16-jähriges Ich schockiert rufen. „Wie kann er nur daran denken?“ Aber ich weiß inzwischen, wie Machtlosigkeit angesichts der überwältigenden Bosheit der Welt sich anfühlt. Und ja, es würde schiefgehen. Aber 2024 kann ich Boromir verstehen.
Ich verstehe auch das Schweigen über den Schmerz und die schlimmen Erfahrungen, die Gandalf hinter einem Lächeln versteckt, als er Frodo in Bruchtal lediglich sagt, er wurde „aufgehalten“. Ich sehe Bilbo, wie er am Anfang von Die Gefährten bei Gandalfs Besuch durch Beutelsend rennt und alle möglichen Lebensmittel sucht und teilweise nicht findet. Wie er eine Reise zurück zu den Elben antreten will, und ich denke dabei an meine (inzwischen verstorbene) Großmutter, die in ihrer eigenen Wohnung zurück nach Hause wollte und nicht mehr wusste, welches Essen in welchem Zustand sich in der Küche befand.
Die Hoffnung, die ich vor zwei Jahren so elementar fand, ist immer noch deutlich erkennbar, doch nach zwei weiteren Jahren des Nachdenkens über Zukunft, Zuversicht und der Notwendigkeit von Erzählungen, die eine lebenswerte Welt von Morgen zeichnen, frage ich mich diesmal: Die Hoffnung worauf? Der Niedergang der Welt ist in den Herrn der Ringe tief eingeschrieben. Die Elben verlassen Mittelerde, das Zeitalter der Menschen naht und scheint nicht erstrebenswert. Die großen Heroen von einst sind nicht mehr, und das Böse droht alles zu überrennen. Die Hoffnung, der Widerstand, die Kämpfe: Sie sind immer ein letztes Aufbäumen, ein Aufbieten aller Kräfte, um den Feind noch einmal niederzuringen: „Ride for ruin and the world's ending!“ Ich möchte die Kämpfer von Rohan und Gondor fragen, wofür sie denn kämpfen, und was sie tun werden, am Tag nach der Schlacht, in den Jahren nach der Krönung von Aragorn und Éomer. Vermutlich ist diese Grundstimmung ein weiterer Aspekt der Zeit, in der die Bücher geschrieben wurden, ein weiterer Ausdruck von Tolkiens Kriegserfahrungen. Und vielleicht ist diese Abwesenheit einer Vorstellung von Zukunft auch eine weitere Erzähltradition, die wir reflektieren und prüfen sollten.
Dass es Geschichten gibt, die wir wieder und wieder erzählen und erzählt bekommen, weil sie am Ende nie dieselben Geschichten sind, wenn wir selbst uns doch ständig verändern – es ist vermutlich eine Erkenntnis, die man nicht mehr aufschreiben muss. Trotzdem fand ich es beachtlich, wie drei Filme über ein paar ausgedachte Völker und einen magischen Ring über zweieinhalb Jahrzehnte so viele verschiedene Gedanken und Gefühle auslösen können.
Ich bin gespannt, was ich entdecke, wenn ich die Herr-der-Ringe-Filmtrilogie das nächste Mal anschaue.
Lena Richter
Lena Richter ist Autorin, Lektorin und Übersetzerin mit Schwerpunkt Phantastik. Ihre Science-Fiction-Novelle „Dies ist mein letztes Lied“ erschien im Februar 2023 beim Verlag ohneohren. Außerdem veröffentlicht sie Kurzgeschichten, Essays und Artikel. Lena ist eine der Herausgeber*innen des Phantastik-Zines Queer*Welten und spricht gemeinsam mit Judith Vogt einmal im Monat im Genderswapped Podcast über Rollenspiel und Medien aus queerfeministischer Perspektive. Ihr findet sie auf ihrer Website lenarichter.com , auf Instagram unter @catrinity_ und auf BlueSky und Mastodon unter @catrinity