Mehr Phantastik

Buchtipps aus dem Otherland Mai 2025: Science Fiction und Horror

Ausschnitt aus dem Cover vom Buch "Monde vor der Landung. Zeigt eine Art aufgebrochene gelbe Kugel in zwei Hälften, in derem inneren sich unsere lilafarbene Weltkugel befindet.
© Suhrkamp

Otherland, 07.05.2025

Regelmäßig gibt euch das Team der Berliner Fantasy- und Science-Fiction-Buchhandlung Otherland Tipps zu den interessantesten neuen Büchern aller Verlage.

Science Fiction

Aiki Mira | Proxi. Eine Endzeit-Utopie

FISCHER Tor: €18

Aiki Mira hat die deutsche SF gefühlt ja im Sturm erobert. Nach einer Kurzgeschichte in der Queer*Welten kam Titans Kinder (Juni 2022), dann Neongrau, Neurobiest und nun Proxi.

Proxi, beim Verlag Fischer/Tor erschienen, wird als Endzeit-Utopie beworben, und tatsächlich - wo ein Ende ist, ist auch ein Anfang. Proxi ist dabei das Aiki-Equivalent von Stephensons Black Sun - eine virtuelle Welt, in die sich die Post-Klimakrise-Generation geflüchtet hat. Bis ein Virus Proxi unbrauchbar macht. Doch es gibt das Gerücht, dass es noch ein Backup von Proxi gibt und drei bisherige Proxi-Bewohner machen sich auf die Suche und begeben sich in die menschenfeindliche Welt Proto um das Backup zu finden und zu aktivieren.

Aiki setzt in Proxi auf das Fremde, das in der SF einen perfekten Spiegel der Realität erlaubt.

Clemens J. Setz | Monde vor der Landung

Suhrkamp: €15

„Ein echter Irrer. Aber einer mit Hirn“

Mit diesen sieben Worten ist Peter Bender, Verfechter der Hohlwelttheorie, Mathematiker, Sektenpriester und Durchleber zweier Weltkriege perfekt umrissen.

„Einmal, irgendwann gegen Morgen, trat etwas wie der Tod an seine Seite: die plötzliche Gewissheit, dass die Welt doch so aussah, wie alle immer behaupteten. Sie war: ein runder Planet, ein Apfel mit harter Schale, und drum rum ein endloses Universum aus lauter ähnlichen Kugeln. Und sonst nichts. Der Planet kreiste um eine im Raum befestigte Gasexplosion. Fertig. Die Krümmung der Erde war die Wahrheit. Alle seine Reden waren Unsinn gewesen.“

Seine Reden haben es in sich. Eindringlich referiert er von der Bühne oder erklärt im Dialog seine Weltsicht, mit Beispielen, Rechnungen und Diagrammen. Er korrespondiert mit Gleichgesinnten. Ist sich sicher, dass die Welt irgendwann aufwacht. Das Weltbild ist in der Geschichte schließlich mehrfach umgestürzt und durch ein neues ersetzt worden. Momente wie oben sind selten, Peter Bender ist fest überzeugt, dass wir auf der Innenseite einer Kugel leben, die Erdoberfläche nicht konvex, sondern konkav ist. Dass sich die Planeten und Sterne, die wir über uns sehen, winzig sind und im Erdinnern schweben. Um von den Monden gar nicht erst anzufangen. Seine Theorien sind so phantastisch, dass man sich fast wünschte, sie wären wahr.

Gelebt und gewirkt hat Peter Bender in Worms und so bilden Luthergedenken und die Einführung der Elektrisch’, eine Straßenbahn, die anstelle der Pferdekutschwerke tritt, die Tapete des Geschehens. Und natürlich die beiden Weltkriege. Im ersten ist Peter Bender als Fliegerpilot beteiligt, kehrt mit einer Kopf- und Kieferverletzung zurück, die ihm ein Leben lang zu schaffen machen. Den zweiten erlebt er teils im Irrenhaus, teils im heimischen Domizil, wo man vor Knappheit fast verhungert, in Luftschutzbunkern („Und die Frau da. Die ist schwanger wie ein Fass – entweder das oder er sieht wieder einmal alle Formen verzerrt und aufgedunsen. Zu der schwangeren Frau sagt er: ›Ich wünschte, ich würde in das alles hier hineingeboren werden. Dann hielte ich es für normal!“) und in ständiger Angst um seine jüdische Frau Charlotte. Wie Charlotte zu ihm hält, ist unglaublich.

Die andere Seite seiner Lehre beinhaltet nämlich ein seltsames Gedankengebilde, das er die Quadratur der Geschlechter nennt. Ich habe es so verstanden, dass ein Mann durchaus mit einer anderen Frau als der eigenen zusammen sein kann, wenn er auch ihren Mann durch sie liebt. Also, so eine Art Swinger-Club, wo man mit gegenseitigem Einverständnis aneinander herumschraubt - oder doch nur ein Freibrief für Seitensprünge. Jedenfalls gibt es da Peter Benders Gemeinde (ich habe das oben Sekte genannt), in der er seine Lehren, die zur Welt und den Monden und die zu den Geschlechtern, verbreitet und umzusetzen versucht. Die Anzahl der Mitglieder seiner eigenen Gemeinde und einer ähnlichen in den USA, die sich auf einen Vorgänger Benders, der sich Koresh nannte, beruft, ist aber gering. Im Gespräch zeigen sich viele von Benders Ausführungen beeindruckt, wirklich zum Glauben über, geht kaum einer von ihnen.

Peter Bender ist ein außergewöhnlicher Mensch, „Sie (Charlotte) liebkost seine Stirn, dieses ernste Religionsstifterantlitz. Manchmal scheint er ihr wie ein grübelnder Hund, der nichts von der Menschenwelt begreift, in die es ihn, rudel- und herrenlos, verschlagen hat“. Clemens J. Setz zeichnet ein Porträt, das ihn weder verherrlicht noch verhöhnt. Bender ist ein Mensch, der permanent nachdenkt, über Äpfel, über Ziegen, über Eier, über Geld, über Sonnenflecken, über Quadrat- und Kreisformen, über alles, was seine Aufmerksamkeit streift. Da fühlte ich als Leserin mich sehr unserer Zeit gemahnt, in der ebenfalls die wenigsten denken, die meisten lassen sich vom Alltag, von Sorgen und Lüsten vorwärts spülen. „Bender stellte sich vor, der Mutter von Hasso Keller zu begegnen. Sie war eines dieser blühenden, kerngesunden Geschöpfe, die im Alltag beim Denken so häufig unterbrochen werden, dass ihre Gedanken inzwischen nur noch aus einer Art gutmütigem Summen bestehen“. Sicher gibt es Ausnahmen, aber die Mehrheit der Menschheit: ein einziges, mal mehr mal weniger gutmütiges Summen. Deckt sich genau mit meiner Beobachtung.

Man fragt sich beim Lesen unwillkürlich, ob das alles wahr oder ausgedacht ist, so phantastisch, so himmelschreiend mutet manches an. Tatsächlich hat Setz Benders Geschichte bis ins Detail in diversen Archiven recherchiert, ins Buch viele Fotos, Schriften und Diagramme hineinkopiert. Das I-Tüpfelchen und Element, das Benders Geschichte vielleicht doch auf eine Art überhöht, ist die Sprache. Die kuriosen Beobachtungen und unglaublich schönen Formulierungen tragen einen mühelos und leicht durch die vielen Seiten, über die oft verstörenden und schrecklichen Ereignisse hinweg.

„Zwei flötendünne Knaben, ganz zerknittert vom vielen Sitzen“. „… ein kahlköpfiger Junge auf dem Kontrabass. Er drückte die Saiten weit unten nieder und zupfte dadurch erstaunlich hohe Töne aus dem Instrument, ein Geräusch, dachte Bender, als pflückte man Insekten vom Mond“. „Ja, so machte das dieser Staat! Weg mit ihm, in den Eimer der Geschichte! Wofür war der ganze endlose Krieg überhaupt gut gewesen, wenn nun alles im Staat bloß wieder so aussah?“. „Aber als er dann zum ersten Mal mit ihr abends im Garten stand, erschienen im westlichen Himmel die Plejaden – und er schenkte sie kurzerhand seiner Tochter.“

Wenn das nicht genial ist, dann weiß ich auch nicht.

[Caro]

Tom Hillenbrand | Thanatopia (Aus der Welt der Hologrammatica #3)

Kiepenheuer & Witsch: €18

Die Ankündigung eines neuen Hologrammatica-Romans hat mein Herzchen echt höherschlagen lassen. Hillenbrands hologrammüberblendete, hoch-technisierte Welt Ende unseres Jahrhunderts, sein schillerndes Figurenpersonal und sein extra-gekühlter scheiß-doch-drauf-Stil machen mir einen irren Spaß. Und dass ihm für die Story wieder was Cooles einfallen würde, hatte ich auch keine Bedenken.

Tatsächlich hat er für den dritten Teil keinen komplett neuen Schwerpunkt, er vermischt vielmehr das Deather-Thema aus Teil 1 mit Superintelligenz aus dem zweiten.

Um das Jahr 2090 teilt sich die Menschheit in Hohlköpfe (oder Quants), die sich auf einen kleinen Quantencomputer überspielen haben lassen und diesen in ihrer Rübe mit sich herumtragen und jene (immer noch die Mehrheit), die noch ein Hirn oben drin haben und deshalb Schwammköpfe heißen. Die Gruppe der Deather versucht mithilfe künstlicher Körper näher an die thin black line, die Linie, die Tod vom Leben scheidet, heranzukommen und die Superintelligenz, tjaaa, eigentlich hatte man doch festgestellt, dass das keine so gute Idee ist und extra strenge Gesetze erlassen, die sowas in Zukunft verhindern sollen. Leichter gesagt als getan. Ständig sind Leben, die Welt, das Jenseits, die Moral, alles in höchster Gefahr, aber man wird den Eindruck nicht los, dass die Polizisten, Privatdetektive und Geheimagenten der Hologrammatica einen Heidenspaß daran haben, ihren Alltag mit der Jagd auf bedrohliche Individuen und Phänomene zuzubringen.

Neben den altbekannten Galahad Singh (früher Quästor und jetzt jawaseigentlich) und Fran Bittner (Geheimagent/in, Hauptfigur aus Cube) stößt der alternde, übergewichtige Schwammkopf-Polizist Wenzel Landauer zur Truppe und muss sich bald fragen, ob er lieber die Welt oder sich selber retten will (und wenn ja, wie viel davon).

Ich mag die vielen Fragen zu Selbst, Bewusstsein, Simulation, Transformation und Transzendenz, die hier aufgeworfen werden und die Hillenbrand für mich zu einem Kind Philip K. Dicks machen. Dann mag ich den Stil, der eher im Geiste eines Raymond Chandler mit einem Schuss Sin City, Bladerunner (oh, doch wieder Dick) und Hellboy daherkommt. Ich mag die Agententhriller- und Krimikniffe, die dem ganzen einen gehörigen Drive verleihen. Und natürlich die vielen kuriosen Wortschöpfungen dieser schönen neuen Welt: Neben Hohl- und Schwammköpfen gibt es nämlich auch Intimschmuckorden, Mietschränke und Rinky-Dinking. Was es damit auf sich hat, müsst ihr selber herausfinden. Hehe.

Selten hat übrigens eine Stimme mehr zum Inhalt gepasst, wie die Faust aufs Auge: Oliver Siebeck! Ein Hoch auf den Sprecher der Hörbücher, das ist echt genial, wie der das macht. Wer Geschichten lieber durchs Ohr genießt, drücke besten Gewissens auf Play und lasse sich einsaugen, hinein in die Welt der Hologrammatica. Ich höre jetzt alle drei nochmal von vorne.

[Caro]

Horror

Olga Tokarczuk | Empusion

Kampa Verlag: €16

Der neue Roman der Nobelpreisgewinnerin Olga Tokarczuk war heißersehnt und kletterte im Nu auf den Bestsellerlisten ganz nach oben. Eine Schauergeschichte soll es sein, ganz im Stil von (Grusel)Geschichten des vergangenen Jahrhunderts.

Die Kritiker*Innen sind nach wie vor überschwänglich, heben die Autorin auf ein Podest und verschlingen alles, was sie produziert. Ich habe bisher zwei Bücher von ihr gelesen und kann mich dem leider nicht anschließen. Klar, die Bücher sind fantastisch geschrieben, feinsinnig, satirisch und zeugen von einer tollen Beobachtungsgabe. Wenn man sich jedoch viel im Genre SF, Fantasy und Horror bewegt, hauen sie einen nicht vom Hocker. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich ihre „grenzüberschreitenden“ Ideen, so oder sogar besser, bereits gelesen habe.

Genau das gleiche Empfinden hatte ich auch bei Empusion, eine feministische Nacherzählung von Thomas Manns Zauberberg. Den habe ich (noch) nicht gelesen, daher kann ich dazu nichts sagen. Der feministische Twist besteht zum einen aus extremer Satire – die Gruppe an Hauptcharakteren (Männer) hat viel zu sagen, vor allem über die Rolle und Intelligenz des weiblichen Geschlechts – und zum anderen in einem literarischen Stilmittel, das Nabokov bereits in Lolita angewendet hat: die Abwesenheit einer weiblichen Stimme. Nabokov hat dafür seinen kompletten Ruf aufs Spiel gesetzt, um zu zeigen, was Missbrauch mit Minderjährigen macht: Er lässt sie vollkommen verschwinden. Wer sich hier weiter einlesen möchte, dem empfehle ich Monsters von Claire Dederer. Bei Olga Tokarczuk wirkt das alles eher ein bisschen offensichtlich. Das ändert sich auch leider nicht mit der großen Enthüllung am Ende. Und die übernatürlichen Elemente …. hmm alles schon in unzähligen Folk-Horror-Geschichten gelesen und wirken hier eher so, als ob ein bestimmter Punkt unterstrichen werden soll. Manche sagen, dass ihnen die Geschichte zu sehr mäandert hat, das Gefühl hatte ich aber gar nicht - eher im Gegenteil, jeder Satz deutete auf einen Punkt hin, den die Autorin machen wollte.

Wer Bock auf Retromania hat und alte Ideen in einem neuen Gewand lesen möchte (oder alte Ideen in einem neuen Gewand? Oder alte Ideen in einem alten Gewand??) oder sich nicht an den Zauberberg herantraut (wie ich) dann Go for it! Denn es war trotz allem ein schöner Zeitvertreib und wirklich hübsch geschrieben, wird mir aber nicht im Kopf bleiben.

Ich kann es euch aber empfehlen, falls ihr ein Geschenk für jemanden braucht, der oder die nichts mit „diesem ganzen Gruselzeug“ anfangen kann. ;)

[Esther]

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