Science Fiction

Akte X und die Macht der Dystopie

X-Files: I Want To Believe
© Fox

Natascha Strobl, 05.01.2023

War Akte X die Vorstufe zu den Querdenkern? Leben wir jetzt in der Dystopie, die von der Serie auf so vielfältige Weise vorausgesehen wurde? Wie hat uns Akte X kulturell beeinflusst? Diese Fragen beantwortet uns Natascha Strobl über die Kult-Serie der 90er.

Akte X war eine DER Serien der 90er. Zusammen mit Twin Peaks und Emergency Room zeigten sie, welche Möglichkeiten das Serienformat bot. Statt billig gemachter Sitcoms, gab es Woche für Woche kleine Filme, anspruchsvolle Plots, und eine Serie, die ihre Zuschauer*innen ernst nahm. Der heutige Serienstandard (an den selbstverständlich keine dieser frühen Serien heranreicht) wäre undenkbar ohne diese Pioniere.

Was Akte X außerdem besonders macht, sind aber auch zwei weitere Dinge. Einerseits, dass die Serie einen UFO-Alien-Verschwörungs-Hype mitangefacht hat, der ein gutes Jahrzehnt gehen sollte. Andererseits, dass der Start der Serie mit der größeren Verbreitung des Internets zusammenfiel. So war Akte X tatsächlich eine der ersten Serien, die Fandoms im aktuellen Sinne begründet haben. Woche für Woche nach Ausstrahlung der Serie im linearen Fernsehen fanden sich Fans auf Mailinglisten und in Chats zusammen, um die Episoden zu besprechen. Mehr noch - die Fans haben Theorien darüber gesponnen, wie es wohl weiter gehen würde, und schrieben Alternativhandlungen oder versuchten, Leerstellen zu füllen. Online-Fanfiction und Shipping waren geboren. (Schon bei Star Trek gab es übrigens solche Ansätze, ohne, dass es die Begrifflichkeit gab) Sogar bis heute gibt es ein aktives Fandom.

Of wolf and man

Soviel zur kulturellen Relevanz der Serie. Was ist aber nun mit den Inhalten? Was ist Akte X eigentlich? Akte X ist tatsächlich Vieles. Das liegt am Format der Serie, deren Staffeln aus 24 Episoden bestanden. Das ist ein großer Kontrast zu den heutigen 5-8 Episoden, die ganz dicht aufeinander abgestimmt sind. Akte X hatte Stand-alones, so genannte Monster-of-the-Week-Episoden, und eine (mehr oder minder) zusammenhängende Handlung, die sich über ganze Serie zog: der Myth-Arc.

Beginnen wir mit den Monster-of-the-Week-Episoden. Neben (mehr oder minder) realen Monstern gibt es eine Subkategorie von Episoden, die sich mit der Macht der Technik beschäftigt. Künstliche Intelligenz, Online-Dating oder auch Smart Homes sind Teil von Akte X. Die Episode „Kill Switch“ aus Staffel 5 ist hierfür ein herausragendes Beispiel. Zwei Hacker*innen kreieren eine AI, die sich verselbständigt und einen von ihnen tötet, als er einen Kill Switch, der die AI zerstören soll, programmieren möchte. Nicht nur die Handlung an sich, sondern auch die Darstellung der Hackerin Invisigoth zeigen die Computer Nerd-Subkultur (in der Serie versinnbildlicht durch Mulders Freunde von den Lone Gunmen), aus der heute die milliardenschweren Silicon-Valley-Konzerne hervorgegangen sind. Diese setzen die Dystopien von damals heute in ihren Geschäftsmodellen um. Was bei Akte X noch pure, faszinierende Science Fiction war, steht heute kurz vor der Realisierung. Es gibt viele Episoden, die sich mit diesen technischen Aspekten von Utopie/Dystopie beschäftigen. Nicht alle sind geglückt, vieles wirkt aus heutiger Sicht komisch. Aber die Relevanz besteht darin, dass Akte X, unter der Vorgabe einer Alien-Mystery-Serie, auch diese Themen bearbeitet hat. Es ist der wohl stärkste Konnex zu späteren Serien wie Black Mirror. Im Revival (auch hier ist vieles nicht geglückt) gibt es eine fantastische Episode „Rm9sbG93ZXJz“, die wiederum von Black Mirror inspiriert zu sein scheint. Auch hier macht sich eine AI selbstständig und Mulder und Scully fliehen am Ende quasi vor ihren gesamten Alltagsgegenständen. Die Beschäftigung mit Technik, ihren Gefahren und auch Möglichkeiten ist eine Konstante bei Akte X, die heute noch genauso relevant ist wie in den 90ern.

Humanismus statt Sozialdarwinismus

Ein zweites wichtiges Merkmal der Monster-of-the-Week-Episoden ist ihr Umgang mit Außenseitern und Marginalisierten. Das ist eine Ebene, die mir erst sehr viel später klar geworden ist. Einige Episoden würde man heute wohl nicht mehr so drehen (ich denke an „Hell Money“ mit Lucy Liu), aber der Grundton dieser Episoden offenbart eine tiefe Humanität in der Original-Serie. Besonders Mulder übernimmt hier die Rolle des mitfühlenden (und „weichen“) Charakters (was auch aus Geschlechterperspektive spannend ist). Dabei macht es sich die Serie aber nicht immer einfach. Die bedauernswerten „Opfer“ sind selbst voller Fehler oder gehören zu jenen Gruppen, die in der amerikanischen Öffentlichkeit kein gutes Image haben. Trailer-Park-Bewohner*innen, Drogenabhängige, oder Prostituierte. Ein weiteres Beispiel ist die Episode „Drive“ aus Staffel 6 (mit einem fantastischen Bryan Cranston, der diesem Auftritt sein Casting in Breaking Bad verdankte, das von Akte X-Schreiber/Regisseur Vince Gilligan entwickelt wurde). Ein Mann, Patrick Crump, wurde offensichtlich Opfer eines verdeckten Experiments der Regierung, das seinen Gleichgewichtssinn beeinflusst. Er muss in Bewegung bleiben, damit die Schmerzen aushaltbar sind. Mulder fährt Meile um Meile, um Crump zu retten. Crump entpuppt sich während der Fahrt als blanker Rassist und Verschwörungsgläubiger. Mulder kontert ihm sarkastisch, dass er Teil der jüdischen Weltverschwörung sei. Es ist einer von vielen kleinen Momenten, die zeigen, dass sich die Macher von Akte X zumindest rudimentär der Notwendigkeit bewusst waren, eine Abgrenzung zu dem herzustellen, was heute als „Schwurbler“ bekannt ist. Auch die Episoden „Kaddish“ aus Staffel 4 und „Pine Bluff Variant“ aus Staffel 5 beschäftigen sich mit den Themen Antisemitismus, Verschwörung und Rechtsextremismus.

Das Thema „Umgang mit der Natur“ kommt ebenfalls ausgiebig vor. Auch hier sind Dystopien, wie schmelzendes Eis und verborgene Organismen und Viren ein Thema. Die wundervolle Episode „Darkness falls“ aus der grandios düsteren ersten Staffel oder „Field Trip“ aus Staffel sechs zeigen eine unbarmherzige Natur, die besser nicht ge/zerstört wird. In „Darkness falls“ kommt das Thema „Wie militant darf Umweltschutz sein“ vor, was in seiner Bedeutung nur gewachsen ist.

Das Revival von 2015 wiederum hat eine weltweite Pandemie zum Thema, die massenhaftes Sterben und den Zusammenbruch der Zivilisation mit sich bringt. Dagegen hilft nur ein schnell entwickelter Impfstoff. Damals hielt ich das für gar zu dick aufgetragen. Interessant ist, dass in diesem allgemeinen Chaos Reiche planen, den Mars zu kolonialisieren, auch um den Verwerfungen der Klimakrise zu entkommen. Leider wird dieser Aspekt nicht so ausführlich ausgeführt, wie er es sich verdient hätte. Es zeigt aber, dass, trotz vieler prinzipiellen Kritikpunkte am Revival, hier Akte X wieder ganz nah an unseren real werdenden Dystopien war.

Es gibt noch viele weitere Ebenen der „Monster-of-the-Week“-Episoden, etwa über die Abgründe von Religion und Sekten oder die gruseligsten Monster von allen: ganz reale, menschliche Männer, die morden.

Verschwörung gegen die Menschheit

Der Myth-Arc gestaltet sich um einiges komplexer, hier kommen auch die Aliens vor, für die Akte X eigentlich steht. In aller Kürze gestaltet sich die Handlung so, dass 1947 in Roswell ein UFO abgestürzt ist. Aus diesem wurde ein lebendes Alien geborgen. Die höchsten Militärs und Funktionäre der Sicherheitsbehörden schworen, das geheim zu halten. Es folgte weiterer Kontakt mit der Alien-Zivilisation, die die Erde kolonialisieren will. Das Konsortium der Verschwörer*innen soll verschont bleiben, wenn sie dabei helfen. Eine Verschwörung gegen die Menschheit also. Als Pfand geben die Verschwörer*innen jeweils ein Familienmitglied an die Aliens, darunter Samantha Mulder, Fox Mulders kleine Schwester. Es kommen dann feindliche Alien-Zivilisationen, ein Alien-Krieg, Bounty-Hunter, die Ausrottung der Menschheit mittels einer extraterrestrischen Substanz und das Züchten von Mensch-Aliens-Hybriden hinzu. Es ist komplex und einiges nicht besonders gut gealtert. Spannend ist aber, dass wir es hier mit medizinischer Science Fiction zu tun haben. Die Fragen nach dem Kreieren von Hybriden (und dem, was wäre, wenn wir wirklich auf außerirdische Zivilisationen stoßen würden), der Ausbeutung von Frauen für medizinische Experimente oder der faschistischen Ideologie, die hinter der Idee steht, Supermenschen in der Petrischale zu erschaffen (bei Akte X wenig subtil von ehemaligen Nazi-Ärzten vollführt) sind aber nur noch relevanter geworden. Wo beginnt das Menschsein, und soll man auch dürfen, was man theoretisch kann? Chris Carter, der Erschaffer von Akte X, hat selbst berichtet, dass er von den furchtbaren medizinischen Experimenten (und damit verbundenen Morden) der Nazis dazu inspiriert wurde. In einer Zeit des anschwellenden Faschismus ist die Frage nach der Wertigkeit des Menschseins eine der drängendsten unserer Zeit.

Ungenießbar für Querdenker*innen

Akte X hat viele Dystopien erschaffen und visualisiert. Wieso wird diese Serie dann nicht eigentlich mehr von Schwurbler*innen rezipiert, die so viele dystopische Werke für sich kapern und ins Gegenteil der eigentlichen Aussage verkehren? (Man denke nur an den Sozialisten George Orwell und sein Hauptwerk 1984.) Die Antwort liegt in der Serie selbst. Sie bietet schlicht wenige bis keine Anknüpfungspunkte für Verschwörungsgläubige. Das mag paradox erscheinen, ist die Verschwörung doch zentral für die Serie. Mulder und vor allem Scully, als stoisches, rationales und analytisches Gegenstück, sind zu zweifelnd, zu reflektiert und zu ambivalent, als dass sie sich als Held*innen für Verschwörungsgläubige anbieten. Das Poster im Kellerbüro der Beiden sagt schließlich „I want to believe“ und nicht „I believe“. Immer wieder sehen wir wie Scully und Mulder zweifeln, streiten und in Finten und Sackgassen laufen. Besteht die Verschwörung überhaupt? Oder gibt es eine Verschwörung in der Verschwörung? Und sind die Guten nicht eigentlich die Bösen und haben die Bösen vielleicht sogar verständliche Beweggründe? Alles dreht sich einmal im Verlauf der ganzen Serie, so dass diese Serie schlicht keine Möglichkeit bietet, wie Querdenker*innen sie sich aneignen können. Das ist ein später, und so wahrscheinlich nicht intendierter oder voraus zu sehender, Verdienst der Serie.

Akte X hat in einer Zeit des allgemeinen Aufbruchs, New Labour, den Clinton-Jahren und dem Ende der Geschichte gewagt, zu albträumen. Die Serie hat uns gezeigt, was passiert, warum Zivilisationen zusammenbrechen, was geschieht, wenn Menschen nur Experimentiermasse sind und wie gefährlich künstliche Intelligenz sein kann. Das ist auch der Grund, weshalb die Serie manchmal veraltet wirkt und so heute nicht mehr gemacht werden könnte: Die Dystopien sind wahr geworden. Wir leben in einer Dystopie. In diesem Sinne: Trust No 1. But trust each other.

Natascha Strobl
© Christopher Glanzl

Natascha Strobl

Natascha Strobl, geboren 1985 in Wien, ist Politikwissenschaftlerin und Publizistin. Sie schreibt unter anderem für den StandardZeit online und die taz. Auf Twitter veröffentlicht sie unter #NatsAnalyse Einschätzungen zu rechter Sprache und rechten Strategien. 2015 erschien von ihr (mit Julian Bruns und Kathrin Glösel) Rechte Konterrevolution. Wer und was ist die Neue Rechte von heute? (2015). Im Jahr 2021 folgte mit Radikalisierter Konservatismus ein Sachbuch-Bestseller, für den Sie 2022 den Bruno Kreisky Anerkennungspreis für das politische Buch erhielt.

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