Mehr Phantastik

"Wednesday" von Tim Burton und Co. auf Netflix - Die neue Serie aus dem Kosmos der morbiden Addams-Familie

Wednesday von Tim Burton und Co. auf Netflix
© Netflix

Christian Endres, 02.12.2022

Mit „Wednesday“ ist Netflix Ende 2022 noch eine echte Serien-Sensation gelungen. Das moderne Spin-off des klassischen „Addams Family“-Franchise wird von der brillanten Hauptdarstellerin Jenna Ortega getragen, während Grusel-Altmeister Tim Burton als Regisseur sein Streaming-Debüt gibt – und die „Smallville“-Schöpfer Alfred Gough und Miles Millar sich über einen weiteren Publikumsliebling freuen dürfen. Grund genug für eine Betrachtung der Addams-Familiengeschichte und des neuesten Asts am Stammbaum.

Comic-Adaptionen beherrschen derzeit unsere Popkultur. Aber es müssen nicht immer Superhelden sein, was das angeht, und wie im Sommer bereits Neil Gaimans „Sandman“ auf Netflix bewiesen hat. Auch der neueste Netflix-Serien-Hit „Wednesday“, ein Spin-off um die Tochter der herrlich grotesken Addams Family, basiert auf gezeichneten Charakteren. Schließlich begann die multimediale Erfolgsgeschichte des Addams-Clans 1938 (und damit ein Jahr vor Supermans Debüt), als der amerikanische Künstler Charles Addams seinen ersten Addams-Family-Cartoon im Magazin „The New Yorker“ veröffentlichte – und der amerikanischen Bilderbuchfamilie sowie der damals allgemein gültigen Vorstellung von Romantik mit seinen Graustufen-Comics einen düsteren Zerrspiegel vorhielt.

Addams realisierte in seiner Karriere über 1000 Ein-Bild-Gags, 150 davon widmeten sich seiner fiktiven übernatürlichen Familie mit den schrägen Vorlieben, den bizarren Spleens und den teils mörderischen Neigungen. Der 1912 geborene Illustrator arbeitete später sogar mit Genre-Gigant Ray Bradbury zusammen, die Addams-Familie sollte jedoch seine größte Schöpfung bleiben. Nicht zuletzt deshalb, weil Mutter Morticia, Vater Gomez, Tochter Wednesday, Sohn Pugsley, Onkel Fester, Butler Lurch und Co. letztlich einen Siegeszug durch mehrere Medien und Epochen antraten.

1964 wurde die erste schwarz-weiße Fernsehserie über die Addams-Familie ausgestrahlt – in direkter Konkurrenz zu den ähnlich tickenden „Munsters“. Beide satirische Horror-Familien im damaligen TV inspirierten übrigens gemeinsam die Schaudersteins in den Trickserien-Abenteuern der Familie Feuerstein). 1972 gab es ein animiertes Film-Crossover der Addams-Sippe mit der Gang von Scooby-Doo, im Folgejahr produzierte Hanna-Barbera eine erste eigenständige Addams-Family-Trickserie. In den 1980ern blieben die Addams weitgehend abgetaucht, obwohl Erfinder Charles Addams kurz vor seinem Tod 1987 die düsteren Cartoons noch einmal zurück in den „New Yorker“ bringen durfte, wo sie aufgrund der Fernsehserie bis zum Tod des langjährigen Chefredakteurs William Shaw für mehrere Dekaden nicht mehr erwünscht gewesen waren.

1991 holte Regisseur Barry Sonnenfeld mit einem Live-Action-Film die Addams-Familie für ein Franchise-Comeback auf die Kinoleinwand, 1993 entstand das Sequel „Die Addams Family in verrückter Tradition“. Daraufhin erblühten weitere Fernsehserien, sowohl gezeichneter als auch gespielter Natur, die eine neue Generation an die Familie der etwas anderen Art heranführen sollte. Tim Burtons 2010 angekündigter Stop-Motion-Film kam dagegen nie zustande, dafür stieg die Addams-Sippe 2019 ins moderne Animationsfilm-Rennen ein, vor und während Corona wurden zwei Filme veröffentlicht. Im November 2022 startete nun die Netflix-Live-Action-Serie „Wednesday“, ersonnen von Alfred Gough und Miles Millar, den Machern der „Smallville“-Serie über Clark Kents Jugend.

Die Neue auf der Nevermore Academy

„Wednesday“ beginnt damit, dass einige Mitglieder des Wasserball-Teams Pugsley Addams an der Schule mobben – wofür dessen taffe Gothic-Schwester Wednesday (überragend: Jenna Ortega aus „Mittendrin und kein Entkommen“) den Sportlern beim nächsten Training ein paar Piranhas ins Schwimmbecken schmeißt. Danach muss Wednesday logischerweise die Schule wechseln. Also bringen Mutter Morticia (perfekt für die Rolle: Catherine Zeta-Jones aus „Die Maske des Zorro“) und Vater Gomez (kultverdächtig: Luis Guzmán aus „Magnolia“ und „Code Black“) Wednesday auf die altehrwürdige Nevermore Academy, die nach dem Raben-Gedicht von Edgar Alan Poe benannt ist, dessen Schaffen übrigens ein realer Einfluss auf Addams-Family-Schöpfer Charles Addams war. An der Schule für Kids mit monströs-besonderen Naturells und Fähigkeiten, die außerhalb der Kleinstadt Jericho im US-Bundesstaat Vermont steht, soll die unnahbare Wednesday am Besten aufgehoben sein.

Allerdings ist die eigensinnige Goth-Prinzessin mit ihrem Außenseiterinnen-Status mehr als zufrieden – selbst unter Werwölfen, Sirenen, Vampiren, Hellsehern, Telekinesen und Gorgonen. Eiskaltes Händchen (Thing im Original), eine abgetrennte Hand mit Bewusstsein und autonomen Bewegungsdrang, wird von Wednesdays Eltern als Spion an der Schule gelassen, von Wednesday aber schnell zum Sidekick umgedreht. Die nette Werwölfin Enid (sofort sympathisch: Emma Myers aus „Girl in the Basement“) gibt sich als Wednesdays Mitbewohnerin alle Mühe, mit ihrer Vorliebe für bunte Klamotten und Social-Media-Klatsch erreicht sie bei Fräulein Addams bloß nicht viel. Auch Biologie-Lehrerin Ms. Thornhill (schönes Gimmick: Christina Ricci, die in den „Addams Family“-Filmen der 1990er selbst Wednesday spielte) bemüht sich um die kühle neue Schülerin von Nevermore genauso wie der Barista und Sheriff-Sohn Tyler (Hunter Doohan aus „Your Honor“) und Hellseher-Erbe Xavier (Percy Hynes White aus „The Gifted“).

Top-Schülerin Bianca (Joy Sunday aus „Dear White People“) hat Wednesday dafür von Anfang an auf dem Kieker, was auf Gegenseitigkeit beruht und früh in einem Fechtduell mündet. Wednesday interessiert sich trotz allem in erster Linie dafür, wieso jemand versucht sie umzubringen, und wie eine alte Weissagung, der tote Hexenjäger-Stadtgründer und ein im Wald wütendes Monster in all das reinpassen. Mit Talenten (und sozial fragwürdigen Marotten) irgendwo zwischen Sherlock Holmes und Sheldon Cooper, lebhaften Visionen und einer zusätzlichen Hand, macht Wednesday sich ungeachtet der schiefen Blicke ungerührt ans Ermitteln und geht bereitwillig auf Monsterjagd ...

Begeisterung trotz Stereotypen

Dass Grusel-Genie Tim Burton vier der acht Folgen als Regisseur verantwortet hat und zudem als Produzent Einfluss nahm, verleiht „Wednesday“ schon ein gewisses Siegel – und einen bestimmten Style. Vieles von dem, was sich aus den Zutaten der Serie ergibt, scheint im Dunstkreis von Coming-of-Age, Kleinstadt-Krimi, Hexen-Horror, Monster-Internat und „Freaks vs. Normies“ trotzdem relativ vorhersehbar. „Wednesday“ bedient sich recht großzügig an gängigen Stereotypen, sei es nun beim Plot oder den Protagonistinnen und Protagonisten. Es spricht für die Qualität von Cast und Story, dass die Serie zwischen allen Klischees so viel Drive hat und Spaß macht, mit jeder der knapp einstündigen Episoden für Begeisterung und Entzücken sorgt. Die Serie funktioniert innerhalb ihrer Parameter prima, und die Botschaften stimmen: Bei Wednesday geht es genauso um Selbstsicherheit wie um Unsicherheit, Freundschaft und Familie.

In den ersten Episoden von Burton liegt es dennoch vor allem an der Leistung der 2002 geborenen Jenna Ortega als stolze Außenseiterin mit sarkastischer Erzählstimme, dass man „Wednesday“ als Lieblingsserie der Weihnachtssaison durchsuchtet. Wie sie die coole Grufti-Einzelgängerin mit schwarzem Herz mimt, beeindruckt. Ortegas großartige Wednesday-Momente fangen Aussetzer wie das Kanu-Wettrennen locker ab. Allein ihre Cello-Session über Nevermore stellt ein Highlight dar, das man sich immer wieder ansehen kann – selbst wenn man die klassischen Interpretationen von Metal- oder Pop-Songs nicht erst seit Netflix’ „Bridgerton“ kennt. Wednesday unbekümmert-schräger Ball-Tanz wurde innerhalb einer Woche derweil gar zum Internet-Meme.

Einige Serienjunkies trieb unterdessen um, dass Jericho als mustergültige US-Kleinstadt mit einem zentralen Café starke Erinnerungen an den unvergessenen Serien-Darling „Gilmore Girls“ und dessen erdachtes Städtchen Stars Hollow weckt. Die Ähnlichkeiten – weitere Klischees und Stereotypen, genau – sind auch hier unbestreitbar, doch Wednesdays Abenteuer wurden in Rumänien gedreht. Eine beabsichtigte Hommage, MGM-typisches Kulissen-Recyling wie nach „Der Zauberer von Oz“ mit Judy Garland oder Überschneidungen bei der zuständigen Crew? Wer weiß.

Fortsetzung der Familiengeschichte

Ob Wednesdays Geschichte – die jüngste Erfolgsgeschichte der Familie Addams – in einer zweiten Staffel weitergehen wird, steht noch nicht fest. Immerhin hat man im Finale der ersten Staffel schon ein paar potentielle Handlungsstränge für eine Fortsetzung ausgelegt, an denen man anknüpfen könnte. Außerdem sind Kritiken und Feedback gut, und die Zahlen scheinen ebenfalls zu stimmen: „Wednesday“ hat sogar die vierte Staffel des Serien-Phänomens „Stranger Things“ vom Thron der englischsprachigen Netflix-Shows mit den meisten gestreamten Stunden innerhalb einer Woche gestoßen (laut Netflix 341 Millionen Stunden in den sieben Tagen nach der Premiere).

Es sollte einen wundern, wenn da nicht noch mehr Stunden und demnach Folgen dazukommen. Könnte allerdings schwer werden, diese sehr süffige, sehr runde erste Staffel zu toppen. Aber wenn es Wednesday nicht schaffen sollte, wer dann?

Christian Endres

Christian Endres ist Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Artikeln und anderem. Im April 2023 erscheint sein neuer Fantasy-Roman „Die Prinzessinnen – Fünf gegen die Finsternis“ über eine Gruppe knallharter Söldnerinnen.

Daneben schreibt er für den Tagesspiegel, Tip Berlin, diezukunft.de, phantastisch!, Doppelpunkt, Geek! und viele mehr. Für Panini betreut er redaktionell die Comic-Ausgaben von Spider-Man, Batman, Conan, den Avengers und anderen. Neben den Büchern „Sherlock Holmes und das Uhrwerk des Todes“ und „Die Zombies von Oz“ veröffentlichte er Geschichten in Anthologien, Magazinen wie c’t und Exodus, der Heftreihe Basement Tales, Basteis Horror Factory sowie auf Englisch im Sherlock Holmes Mystery Magazine und in Heavy Metal. Er wurde bereits mit dem Deutschen Phantastik Preis und dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.

www.christianendres.de 

https://twitter.com/MisterEndres

Neu im Handel