Mehr Phantastik

Der Untergang des Hauses Usher - Die Serienwelten des Mike Flanagan

Portät der kompletten Familie Usher, alle sehr elegant gekleidet und mit Blut verschmiert. Davor schreitet der Tod in rotem Umhang und mit schwarzer Maske
© Netflix

Markus Mäurer, 16.10.2023

Auf keine Serie hat die Horrorfilmgemeinde ungeduldiger gewartet als auf „Der Untergang des Hauses Usher“ von Mike Flanagan. Was macht seine Serienwelten so besonders?

Neun Filme hatte Mike Flanagan bereits gedreht, als ihm der Durchbruch ausgerechnet mit einer Horrorserie gelang. Das Serienformat ist eines, mit dem sich das Horrorgenre lange schwertat. Es gab zwar Anthologie-Serien wie Geschichten aus der Gruft und Monster-der-Woche-Serien mit einem übergreifenden Handlungsbogen im Hintergrund wie Poltergeist oder Akte X und seltene Ausnahmen von durchgehenden Handlungsbögen und leichten Horrorelementen, wie das von Sam Raimi produzierte American Gothic, doch so richtig und auf hohem Niveau konnte sich der Horror in Serienform erst 2011 mit der ersten Staffel von American Horror Story durchsetzen (oder streng genommen auch schon mit The Walking Dead von 2010).

In diesem Beitrag werde ich Mike Flanagans Horrorserien im Einzelnen vorstellen und auf sein neustes Werk Der Untergang des Hauses Usher eingehen, aber auch kurz auf einige seiner Filme.

Mike Flanagan wurde 1978 in Salem, Massachusetts geboren, ein Ort, der aufgrund seiner Vergangenheit mit den Hexen-Prozessen wie prädestiniert für eine Horrorkarriere ist. Da sein Vater bei der Küstenwache arbeitete, ist die Familie viel umgezogen. An der Towson Universität hat er einen Bachelor in Electronic Media & Film gemacht und schon als Student Filme gedreht, sie aber nie veröffentlicht. Seinen ersten richtigen Spielfilm drehte er 2003 mit Ghosts of Hamilton Street.

Die Filme

Danach folgten (und ich gehe hier nur die bekanntesten Filme Flanagans ein):

Ouija: Ursprung des Bösen (Origin of Evil, 2016) ist das Prequel zu Ouija – Spiel nicht mit dem Teufel (2014) kann aber auch eigenständig angesehen werden. Ein wirklich gruseliger und spannender Film über das, was schiefgehen kann, wenn die Regeln beim Ouija nicht beachtet werden, der am Ende noch eine kuriose Wende nimmt.

Still (Hush, 2016) ist ein kleiner, aber effektiver Home-Invasion-Thriller, in dem eine taubstumme Protagonistin in ihrem abgelegenen Waldhaus von einem Fremden überfallen wird.

Mit Das Spiel (Gerald’s Game, 2017) hat Flanagan ein Kammerspiel nach der Buchvorlage von Stephen King inszeniert, in der eine Frau beim Sex von ihrem Liebhaber mit Handschellen ans Bett gefesselt wird, der dann an einem Herzinfarkt stirbt und sie in einer misslichen Lage zurücklässt.

Doctor Sleeps Erwachen (Doctor Sleep, 2019) setzt Stephen Kings Shining fort, wobei sich Flanagan teilweise an der Kubrick-Verfilmung orientiert, auf die es einige Anspielungen gibt. Ein ganz ordentlicher Urban-Fantasy-Film, der mit Kubricks Meisterwerk wenig gemein hat, aber Kings Vorlage adäquat umsetzt, wobei der starke Auftakt mit dem Alkoholiker-Porträt etwas zu kurz kommt.

Spuk in Hill House (The Haunting of Hill House, 2018)

Als ich 2018 den ersten Trailer zur kommenden Serie sah, war ich wenig beeindruckt. Das wirkte alles so wirr und gehetzt, kein Vergleich zur eleganten Vorlage von Shirley Jackson. Und die erste Folge bestätigte mich in meinem abschätzigen Urteil. Doch was danach folgte, war für mich nicht weniger als die Neuerfindung des Horrorgenres oder zumindest eine wirkliche Innovation.

Der Roman diente Flanagan nur als Themenvorlage, aus der er seine ganz eigene Geschichte entwickelte. Puristen sollten bei Robert Wises hervorragender Verfilmung Bis das Blut gefriert von 1963 bleiben.

Ausgangspunkt ist eine dramatische Nacht, in der eine Familie mit fünf Kinder aus Hill House fliehen muss. Viele Jahre später werden die inzwischen erwachsenen Kinder noch immer von den Ereignissen dieser Nacht heimgesucht, was sie schließlich nach Hill House zurückführt. Doch in dieser Serie wartet und lauert Hill House nicht, sondern geht proaktiv vor.

Wie sicher und selbstbewusst Mike Flanagan in jeder Folge leicht den Stil wechselt, ohne den Grundtenor der Serie zu verlassen. Wie dynamisch, aber nie hektisch im Wackelkamerastil, sich die Kamera in leichten Kreisbewegungen um die Familienmitglieder dreht, wie bei einer Familienaufstellung, während rundherum das Treiben weitergeht wie bei Robert Altmann, ist schon der Hammer. Für mich die beste Horrorserie, die je gedreht wurde. Gerade in den Folgen 5 und 6 kommen ein paar Sachen vor, die es so im Horrorbereich noch nicht zu sehen gab (auch wenn sie neben dem Familiendrama nur eine kleine Rolle einnehmen). Mir gefällt, wie sich die Serie Zeit nimmt, die einzelnen Figuren vorzustellen, wie in jeder Folge eines der anderen Geschwister im Fokus steht, wie die beiden Zeitebenen miteinander verknüpft werden, und wie sich die Episoden narrativ ergänzen (bzgl. der jeweiligen Version der Geschichte). Auch wenn es gegen Ende, vor allem in den Folgen 8 und 9 leichte Längen gibt. Das Ende regte viele auf, mir hat es gefallen.

Spuk in Bly Manor (A Haunting of Bly Manor, 2020)

Nach dem Überraschungshit mit Hill House, waren die Erwartungen an die Nachfolgeserie von Mike Flanagan entsprechend hoch, und wie viele wurde ich wohl Opfer meiner zu hohen und falschen Erwartungen (die teilweise auch durch den Titel geschürt wurden). Denn ich hoffte auf einen neuen Horror-Kracher, erhielt aber ein ruhig inszeniertes Drama mit leichten Gruselelementen und behäbigem Tempo.

Eigentlich machte Flanagan es richtig, nicht zu versuchen, einfach das Konzept vom Vorgänger zu wiederholen, auch wenn mit Das Drehen der Schraube von Henry James wieder eine Literaturvorlage Pate stand, an deren Motiven er sich nur grob (wenn auch deutlich stärker als in Hill House) orientierte.

Die Haupthandlung spielt 1987 in Großbritannien, wo die junge Amerikanerin Dani Clayton eine Au-Pair-Stelle auf dem Landsitz eines Anwalts antritt, und dessen Nichte und Neffe betreut. Letzterer kehrt gerade aus dem Internat zurück, wo er wegen unschöner Vorfälle rausgeworfen wurde. Soweit noch am Original, treten die Abweichungen vor allem durch das Spiel mit verschiedenen Zeit- und Realitätsebenen zu Tage, die dem Ganzen eine traumhafte Atmosphäre verleihen.

Wie Shirley Jackson in Spuk in Hill House, lässt auch Henry James offen, ob es sich wirklich um übernatürliche Ereignisse handelt oder eher um Einbildung. Diese Ambiguität gibt es bei Flanagan nicht. Am Ende wird der Erzählerin von einer Zuhörerin gesagt, es handele sich mitnichten um eine Gruselgeschichte, sondern um eine Liebesgeschichte. Und genau das ist mein Problem mit der Serie: Es wird zu viel erklärt, vor allem in den letzten beiden Folgen, statt uns Zuschauer*innen es intensiver erleben zu lassen, damit wir unsere eigenen Schlüsse ziehen können. Die Liebesgeschichte ist aber trotzdem bewegend.

Midnight Mass (2021)

Mit dieser Serie wollte sich Flanagan vermutlich vom Ruf, Literaturvorlagen zu etwas Neuem zu formen, lösen und dachte sich seine eigene Geschichte aus, die teils autobiografisch geprägt ist und sich auf seine katholische Erziehung, den Wandel zum Atheismus und seine Zeit auf Governors Island bezieht, wo sein Vater bei der Küstenwache stationiert war.

Ein Konzept, das gut funktionierte. Die Einflüsse von seinem großen Vorbild Stephen King (Brennen muss Salem z. B.) sind nicht zu übersehen, trotzdem gelang es ihm, ein eigenständiges Werk zu schaffen. Erzählt wird von einer amerikanischen Kleinstadt auf einer kleinen Insel, in die der verlorene Sohn zurückkehrt, nachdem er Buße für seine Sünden leisten musste. Doch der Ort hat sich verändert und langsam hält das Böse Einzug. Protagonist Riley Flynn erhält die Möglichkeit zum Märtyrer zu werden, um seine Lieben zu retten.

Auch Midnight Mass ist als Slowburner inszeniert, nimmt sich viel Zeit und Spannungen aufzubauen. Exemplarisch dafür steht Folge fünf, die sehr langsam, fast schon träge auf einen Höhepunkt hinarbeitet, der dann umso heftiger und wirkungsvoller eintritt.

Gänsehaut um Mitternacht (Midnight Club, 2022)

Auch in Midnight Club (ich weigere mich, den deutschen Titel zu verwenden) wird es gruselig, trotzdem betrat Flanagan mit dieser Serie Neuland und zielte auf ein jüngeres Publikum ab. Denn bei den Romanvorlagen handelt es sich um mehrere Jugendbücher von Christopher Pike, die hier teils für die Geschichten verwendet wurden, die sich der Mitternachtsclub erzählt. Es geht um eine Gruppe todkranker Jugendlicher, die sich in einem abgelegenen Hospiz mit Spukpotential nachts heimlich vor einem Kamin treffen und sich gegenseitig mit gruseligen Geschichten unterhalten, damit aber auch mit der unheimlichen Vergangenheit des Gebäudes in Kontakt kommen, was zu einigen dramatischen Ereignissen führt.

Die Serie kann zwar nicht ganz das Niveau der Vorgänger halten, ist aber sehr einfühlsam und vielschichtig erzählt. Wie immer bei Flanagans Serien gibt es auch hier eine Folge (7, Anaya), die noch mal besonders heraussticht und für sich meisterhaft erzählt und aufgebaut ist. Midnight Club war nicht zwangsläufig als Mini-Serie gedacht und Flanagan hatte schon weitere Staffeln konkret geplant, wurde von Netflix aber leider abgesetzt. Zwar hat Flanagan danach mit Der Untergang des Hauses Usher noch eine (vermutlich vertraglich schon vereinbarte) Serie für Netflix gedreht, inzwischen aber einen Deal mit Amazon unterschrieben.

Der Untergang des Hauses Usher (The Fall of the House of Usher, 2023)

Staatsanwalt Auguste Dupin und Pharma-Magnat Roderick Usher sitzen in einem verfallenen Haus am Kaminfeuer und unterhalten sich. Dupin ist seit Jahrzehnten hinter Usher her, konnte aber nie eine Verurteilung erwirken. Usher ist am Ende und legt gegenüber Dupin ein Geständnis ab, in dem er ihm erzählt, wie es dazu kam, dass alle seine sechs Kinder innerhalb der letzten zwei Wochen gestorben sind und warum seine Familie dem Untergang geweiht ist.

Wie schon in Hill House und Bly Manor basiert Usher lose auf einer Vorlage, in diesem Fall die gleichnamige Kurzgeschichte von Edgar Allen Poe – die allein nicht genügend Stoff für eine Serie bietet -, bedient sich aber wie Midnight Club auch an anderen Werken des Autors und übernimmt Motive aus ihnen. So trägt jede Episode den Titel einer von Poes Kurzgeschichten. Die Bezüge zu ihnen sind mal stärker, wie in The Black Cat, mal nur rudimentär, wie in The Gold Bug, doch wer die Geschichten kennt, kann das Ende der jeweiligen Folge bereits erahnen. Wir haben hier also viel klassischen Horror, den Flanagan mit modernen Themen wie der Opioid-Krise in den USA (inspiriert durch die Familie Sackler und deren Konzern Purdue Pharma) verbindet, einer Art von Menschen aus Profitgier geschaffenen Pest, die unter der roten Maske der Schmerzbekämpfung daherkommt.

Mir hat die Serie gut gefallen, die Verbindung zwischen Klassikern und Moderne ist geschickt gemacht, die Gesellschaftskritik an den USA trifft ins Schwarze, so richtige Gruselstimmung will aber nicht aufkommen. An manchen Stellen wird zu sehr auf Jump-Scares gesetzt, doch insgesamt ist Usher auch keine Gruselserie, sondern ein Familiendrama über Schuld und Sühne, und moralische Fragen und Entscheidungen.

Was fehlt, ist die eine Folge, die besonders heraussticht, die eine ganz eigene Magie verbreitet, wie in allen anderen Serien Flanagans - vielleicht die letzte Folge in der letzten halben Stunde, wenn die letzten Puzzleteile mit Wucht an ihren Platz fallen.

Mit Poes Geschichten hat Mike Flanagan hier die bisher älteste Vorlage gewählt, trotzdem aber seine modernste Serie abgeliefert. Eine Mischung aus Hill House, Succession und Dopesick, die ihre volle Wucht weniger in den einzelnen Folgen sondern über die gesamte Länge entfaltet. Wer aber eine getreue Adaption der titelgebenden Kurzgeschichte von Edgar Allen Poe erwartet, sollte lieber zur Roger-Corman-Verfilmung House of Usher von 1960 greifen.

Fazit

Mike Flanagan hat seine Nische gefunden, in der er sich stilsicher bewegt. Er erzählt Geschichten mit Horror-Elementen, mal mehr, mal weniger stark mit gesellschaftlich wichtigen Themen verknüpft, bei denen aber immer die Figuren und ihre Beziehungen untereinander im Mittelpunkt stehen. Auch nach fünf Mini-Serien machen sich noch keine Abnutzungserscheinungen bemerkbar. Zwar greift er regelmäßig auf ähnliche Stilmittel und Erzählstrukturen zurück, arbeitet immer wieder mit den selben Schauspieler*innen zusammen - die teils schon seit seinen ersten Filmen dabei sind, allen voran seine Frau Kate Siegel -, schafft es aber immer, sie zu etwas Neuem zu mischen. Er ist keiner dieser Franchise-Filmemacher, die immer wieder den gleichen Film erzählen, um die Geldkuh weiter zu melken, sondern jemand, der seinen Stil gefunden hat, ohne sich zu stark zu wiederholen. Insofern passt er wirklich gut zu Stephen King.

Ausblick

Wie schon erwähnt, hat Mike Flanagan nach der Absetzung von Midnight Club einen Vertrag bei Amazon unterschrieben. Geplant ist eine Verfilmung von Stephen Kings Der dunkle Turm (The Dark Tower), einer epischen Fantasyserie, an deren Adaption schon einige gescheitert sind (unter anderem auch der Film mit Idris Elba). Geplant sind fünf Staffeln. Mit King ist Flanagan durch seine Adaptionen von Gerald’s Game und Doctor Sleep bereits vertraut. Ob es ihm gelingen wird, das ungewöhnliche Setting mit seinen außergewöhnlichen Figuren adäquat umzusetzen, bleibt abzuwarten, aber Flanagans bisherige Serien geben allen Grund zur Hoffnung.

Daneben arbeitet er noch an einer Film-Adaption von Stephen Kings Kurzgeschichte Chucks Leben (The Life of Chuck), unter anderem mit Tom Hiddleston and Mark Hamill.

Markus Mäurer

Der ehemalige Sozialpädagoge und Absolvent der Nord- und Lateinamerikastudien an der FU Berlin, der seit seiner Kindheit zwischen hohen Bücherstapeln vergraben den Kopf in fremde Welten steckt, verfasst seit über zehn Jahren Rezensionen für Fantasyguide.de, ist ebenso lange im Science-Fiction- und Fantasy-Fandom unterwegs (Nickname: Pogopuschel), arbeitet seit einigen Jahren als Übersetzer phantastischer Literatur und ist auf Tor Online für das Content Management und die Redaktion verantwortlich.

Unsere aktuellen Titel