Fantasy

Wenn Kathedralen atmen: Magische Gebäude in der Fantasy

Magische Gebäude in der Fantasy
© Fischer Tor

Alessandra Reß, 10.03.2023

Ob Bibliothek oder Kathedrale, Internat oder Herrenhaus: Magische Gebäude haben in der Fantasy eine große Tradition und können den Figuren an jeder Ecke über den Weg laufen. Ein guter Grund, sich das Wesen solcher Bauwerke einmal genauer anzuschauen.

Haben Sie schon einmal ein Haus oder eine Wohnung betreten und sich sofort heimisch gefühlt? Oder umgekehrt – waren Sie schon einmal in einem Haus, das Sie gar nicht schnell genug verlassen konnten?

Unabhängig davon, dass wir solche Gefühle meist auf äußere Einflüsse zurückführen können – den Geruch, den Lichteinfall, die Umgebung oder Architektur –, schreiben wir Gebäuden gerne eine gewisse Aura zu. „Dieses Haus hat Charakter!“, so heißt es in mancher Immobilienanzeige. Gelegentlich mag es sich dabei schlicht um einen Euphemismus handeln. Doch viele Häuser haben in der Tat Charakter, und das kann antike Tempel oder Rheinburgen ebenso einschließen wie moderne Urban-Legend-Gebäude wie das Cecil Hotel, oder schlicht die verfallene Villa am Ende der Straße.

Wen wundert es da, dass Bauwerken in der Fantasy gerne ein munteres Eigenleben zugestanden wird? Man denke etwa an das Familienhaus aus „Encanto“ oder den Spielwarenladen aus „Mr. Magoriums Wunderladen“. Während es sich hierbei aber um zwei vornehmlich freundliche Beispiele handelt, sind viele ihrer Gebäude-Kollegen von weitaus düstererer Natur.

Das zwielichtige Haus im Schauerroman

Deren Geschichte beginnt innerhalb der phantastischen Literatur schon sehr früh, genauer gesagt Ende des 18. bzw. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Damals waren Schauerromane (Gothic Novels) beliebt, die sich um ein Grauen innerhalb eines Gebäudes, oft eines Schlosses oder Klosters, rankten. Quasi begründet wurde das durch Horace Walpoles „Das Schloss von Oronto“ (1764), später folgte beispielsweise Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ (1839).

Allerdings müssen die mit dem Gebäude verbundenen Schrecken nicht unbedingt einen übernatürlichen Ursprung haben; vielmehr leben die phantastischen Schauerromane jener Zeit von der nicht immer eindeutig zu beantwortenden Frage, ob die auftretenden Phänomene einen übernatürlichen oder einen psychologischen Ursprung haben – eine Variante, die heute noch in der Mystery beliebt ist. Fast zweihundert Jahre nach Walpole feierte z. B. die US-amerikanische Autorin Shirley Jackson mit dieser Mischung große Erfolge. Einer ihrer bis heute bekanntesten Titel ist dabei „Spuk in Hill House“ (1959), was seither in verschiedenen Adaptionen für jede Generation neu aufbereitet wurde, z. B. als „Das Geisterschloss“ (1999) mit Liam Neeson oder 2018 als Netflix-Serie.

John Clute und das fantasy edifice

Die Gegenwarts-Fantasy und -Phantastik kennt jedoch noch viele andere Varianten magischer Gebäude: Manche sind feindlich, andere hilfsbereit. Manche verfolgen einen bestimmten Zweck, andere sind sich selbst genug. Manche werden von außen kontrolliert, andere verfügen über ein eigenes Bewusstsein.

John Clute, Herausgeber der Encyclopedia of Science Fiction“ sowie derEncyclopedia of Fantasy“, brachte in diesem Zusammenhang den Begriff des edifice ins Spiel. Das ist zunächst einfach eine Übersetzung für „Bauwerk“ oder „Gebäude“, doch Clute erweiterte die Bedeutung in Bezug auf die Fantasy: „Ein edifice ist mehr als ein Haus und weniger als eine Stadt, auch wenn es von außen einem Haus und von innen einer Stadt ähneln kann.“[1] Das heißt, ein solches Fantasy-Gebäude beinhaltet von innen oft mehr, als es von außen scheint. Um ein recht bekanntes Bild aus der Popkultur zu nehmen: Wenn in „Harry Potter und der Feuerkelch“ Harry ein scheinbar normales Zelt aufbaut und sich beim Hineingehen wundert, dass innen eine ganze Ferienwohnung Platz findet, macht er mit genau diesem Effekt Bekanntschaft.

Um ein fantasy edifice im engeren Sinne handelt es sich bei dem Zelt aber nicht, jedenfalls nicht, wenn es nach den siebzehn Merkmalen geht, die Clute weiterhin für eben solche aufstellt. Diese umfassen beispielsweise, dass das Gebäude ein Portal, ein Weltenbaum, ein Zentrum oder ein Mikrokosmos der Welt ist. Dass es lebendig ist und von innen weitläufiger oder bemerkenswerter, als es von außen den Anschein hat. Dass es entweder einen Namen oder betont keinen Namen hat. Dass die Person, die das edifice erbaut hat, namentlich genannt wird oder aber das Gebäude immer schon da war. Dass es eine Metamorphose durchläuft. Dass es Labyrinthe beinhaltet. Dass es einen Dunklen Herrscher repräsentiert oder von diesem abhängig ist.

Innerhalb der Strukturen einer Geschichte dienen edifices zudem oft entweder als Ort, aus dem die Hauptfigur flüchten muss, oder als Ziel bzw. Ereignispunkt einer Queste. Anders als im Horror mit all seinen dämonenbesessenen Villen und monsterverseuchten Labyrinthen wird die Magie der Fantasy-Gebäude darüber hinaus grundsätzlich akzeptiert. Sie muss erforscht und entdeckt werden, aber nicht unterdrückt.

Ein fantasy edifice braucht nicht alle genannten Merkmale zu umfassen, aber doch einen Teil dessen. Entsprechend können einige Dungeons problemlos als edifice durchgehen. Auch Erin Morgensterns „Der Nachtzirkus“ hat gute Karten, ebenso wie Kai Meyers „Fürimmerhaus“, das Hochhaus aus Maja Ilischs „Unten“, die Abtei aus „Das Geheimnis von Kells“, oder „Das magische Baumhaus“ aus der gleichnamigen Kinderbuchreihe. Bei besagtem Zelt könnte man hingegen argumentieren, dass es sich schlicht um ein verzaubertes Objekt handelt, auch wenn es das Kriterium der inneren Weitläufigkeit erfüllt. Ähnlich steht es um Objekte wie die Nimmervollen (D&D-)Beutel.

 

[1] Eigene Übersetzung. Original in der “Encylopedia of Fantasy: An edifice is more than a house and less than a City, though it may resemble a house from the outside and a city from within.”

Von Schlössern und Fabriken: Vielfalt der edifices

Ein Paradebeispiel für Fantasy, dessen Handlung rund um ein nicht nur als Kulisse dienendes edifice aufgebaut ist, ist die zwischen 1946 und 1959 veröffentlichte „Gormenghast“-Trilogie von Mervyn Peake. Bei Gormenghast handelt es sich um ein Schloss, eine beliebte Variante in Sachen Fantasygebäude – es grüßen Joan Aikens „Castle Barebane“, Diana Wynne Jones‘ „Das wandelnde Schloss“ oder Jim Hensons „Die Reise ins Labyrinth“.

Doch auch viele andere Gebäudearten durften schon ein Eigenleben entwickeln, etwa Paläste und Zitadellen (in Michael Moorcocks „Gloriana oder Die unerfüllte Königin“, Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, Ralf Isaus „Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte“), Schulen und Universitäten (in Kathleen Dueys „Die Gabe der Magie“, Lev Grossmans „Fillory – Die Zauberer“), Fabriken (in Roald Dahls „Charlie und die Schokoladenfabrik“, Oliver Plaschkas „Fairwater“) oder Herrenhäuser (V. E. Schwabs „Gallant“, „Böses Blut“ von Rhiannon Lassiter). Ein visuell sehr beeindruckendes Beispiel, in dem die Lebendigkeit einer Kathedrale greifbar wird, findet sich in Tomasz Bagińskis Kurzfilm „Katedra“ nach der gleichnamigen Kurzgeschichte von Jacek Dukaj.

Fast schon ein eigenes Subgenre bildet zudem die Bibliotheksfantasy: Von Akram El-Bahays „Bücherstadt“ bis hin zu Genevieve Cogmans „Die unsichtbare Bibliothek“ oder einem Exemplar aus Jay Kristoffs „Nevernight“ finden sich zahlreiche sehr lebendige Büchereien und Buchhandlungen in der Literatur.

Gebäude lauern überall

Apropos Subgenres: Magische Gebäude sind hier keinen Einschränkungen unterworfen. Zwar besteht eine Nähe zur Urban Fantasy durch die Ähnlichkeiten in der Darstellung einer lebendigen Stadt und des lebendigen edifice. Beispielsweise kann beides als Portal zwischen Welten oder zwischen dem „Oben“ und „Unten“ fungieren oder einen eigenen Mikrokosmos bilden. Trotzdem tauchen magische Gebäude nicht nur in der Urban Fantasy auf. Ob als Raumschiff in der Space Fantasy, als sagenumwobener Turm in der Queste eines High-Fantasy-Helden oder als Buchhandlung mitten in London: Magische Gebäude gibt es überall. Und manchmal bemerkt man ihren Zauber erst, wenn man sie betritt.

Als E-Book schon erhältlich

Alessandra Reß

Alessandra Reß wurde 1989 im Westerwald geboren, wo sie auch aufgewachsen ist. Nach Ende ihres Studiums der Kulturwissenschaft arbeitete sie mehrere Jahre als Redakteurin, ehe sie in den E-Learning-Bereich gewechselt ist.

Seit 2012 hat sie mehrere Romane, Novellen und Kurzgeschichten veröffentlicht, zudem ist sie seit mehr als 15 Jahren für verschiedene Fanzines tätig und betreibt in ihrer Freizeit den Blog „FragmentAnsichten“. Ihre Werke waren u. a. für den Deutschen Phantastik Preis und den SERAPH nominiert.

Mehr unter: https://fragmentansichten.com/