Otherland, 07.2.2024
Regelmäßig gibt euch das Team der Berliner Fantasy- und Science-Fiction-Buchhandlung Otherland Tipps zu den interessantesten neuen Büchern aller Verlage.
Otherland, 07.2.2024
Regelmäßig gibt euch das Team der Berliner Fantasy- und Science-Fiction-Buchhandlung Otherland Tipps zu den interessantesten neuen Büchern aller Verlage.
„Frankreich siecht dahin, damit die Unsterblichen von Versailles ewig leben können“
Ich muss sagen, ich bin sehr angetan vom ersten Teil der Vampyria-Trilogie aus Frankreich. König Louis XIV. zum untoten Herrscher eines sich über die Grenzen Europas ausbreitenden Großreichs zu machen, ist genial. Der Hochadel hat sich vampirisieren lassen, der niedere Adel darf bei Hofe oder auf seinen Landsitzen herumscharwenzeln und das gemeine Volk wird monatlich zur Ader gelassen, damit die Vampirhoheiten zuverlässig was zum Saufen haben. Unsere Hauptfigur, eine Apothekertochter, verliert zu Beginn ihre komplette Familie, die, wovon Jeanne selbst nichts ahnte, für den Widerstand tätig war. Sie entkommt den Häschern nur knapp und kann sich – Kleider machen Leute – als Adelstochter ausgeben. Als jetzt elternloses Mündel des Königs wird sie an den Hof von Versailles gebracht, um dort in die Marstallschule eingegliedert zu werden.
Ab jetzt sind also einige Hogwarts-Vibes und Dark Academia Essentials zu spüren: wer sind meine Freunde, wer meine Feinde unter den Mitschülern, wie gut meistere ich welches Fach und was da nachts heimlich auf der Toilette alles abgeht, Wahnsinn. Jeanne Froidelac, Deckname Diane de Gastefriche, kennt jedoch nur ein Ziel: Rache. Zuerst hat sie es auf den Vampir abgesehen, der die Auslöschung ihrer Familie überwacht hat, bald aber Ludwig den Unwandelbaren selbst als die Wurzel allen Übels ausgemacht. Auf dem Weg zu seiner Vernichtung gilt es einige Zwischenziele zu erreichen und dabei nicht enttarnt und umgebracht zu werden.
Den Stil, eine eindringliche Ich-Erzählstimme im Präsens, fand ich ähnlich wirkmächtig, aber weniger bombastisch-schwulstig als im thematisch vergleichbaren „Reich der Vampire“ von Jay Kristoff. Es passiert richtig viel, sodass ja keine Langeweile aufkommt und vieles vom Big Picture dieser seltsamen Gesellschaft, die, seit Ludwig zum Unwandelbaren geworden ist, zwar mehr 200 Jahre ins Land hat streichen sehen, gleichzeitig aber von der Entwicklung her seltsam stehengeblieben ist, wird im ersten Teil nur angedeutet. Richtig toll fand ich die vielen Ideen, die die Untotenwelt bereichern, wie z. B. dass hier nicht nur Menschen zum Vampir gemacht werden können, es gibt vielmehr auch Vampirrosen, Vampirgeigen und Vampirstuten und was weiß ich noch alles, was sich allnächtlich vom kostbaren Saft ernährt.
Die Alchemisten, für das Umwandlungsprozedere verantwortlich, haben außerdem einiges an missglückten Experimenten hervorgebracht. Ihre Kreaturen sind zum Teil in die Welt entwichen, wo sie sich verstecken müssen, um nicht der Säuberung zum Opfer zu fallen. Und was ist eigentlich mit Ludwigs Gesicht los, das so entstellt sein soll, dass es dauerhaft hinter einer goldenen Maske versteckt werden muss? Durch deren Sehschlitze funkeln dann die Augen, vom Tenebrin vernebelt, tot und durstig. Ja, schaurig geht’s schon auch zu! Am unheimlichsten ist vielleicht, dass den restlichen Adligen (und auch dem Leser) die Vampirherrschaften so normal erscheinen. Man kann zu einem höheren Essen geladen sein und dass man gerade neben einem Vampir steht, merkt man höchstens an seinen roten Absätzen oder an seiner kalten Haut, sollte man diese streifen. Und – toller Einfall – an dem, was aufgetafelt wird. Da gibt es dann zwei parallele Speisekarten. Auf der einen steht „SUPPE – Pilzcremesuppe, Mit Haselnüssen vom Hof von Genua, verfeinert mit schwarzen Trüffeln; Weinbegleitung: Pomerol rot“ und auf der anderen „ZWEITES BLUT – Waldcuvée, Cuvée von Holzfällern aus dem Schwarzwald, an der frischen Luft aufgewachsen; Beschreibung: rubinrote Farbe, holzige Aromen, vollmundige Struktur“. Na dann Prost!
Ein sehr guter Auftakt, bin gespannt wie es weitergeht in Vampyria! [Caro]
Meine Tochter hat eine Auswahl an Büchern, die ihre Freunde und sie regelmäßig aus unserem Bücherregal stehlen, um sie als „Zauberbücher“ zu verwenden, wenn sie Hexenzirkel, Zauberschulunterricht oder epische Abenteuerquests spielen (alles erfordert das Umstellen unserer Möbel).
Die Anforderungen an ein passendes Buch sind klar: Es muss alt, ungewöhnlich, schön aussehen und so, als würde man es zufällig im Sperrbereich der Hogwarts-Bibliothek mit einer dicken Staubschicht darauf finden. Nun, ich bin froh, sagen zu können, dass „Die große Hobbit-Enzyklopädie“ alle Anforderungen erfüllt. Was für ein wunderschönes Buch. Ein Schatz, auch wenn Sie sich nicht für die 333 Seiten mit detaillierten Notizen zum besten Fantasy-Buch aller Zeiten interessieren (wenn Sie anderer Meinung sind, werde ich gegen Sie kämpfen). Bador, Potot, Stocker und Vogot – die Autoren, nicht vier weitere Zwerge – haben ein wahres Kunstwerk geschaffen.
Dieser Band enthält eine kurze Geschichte des Buches selbst, von seinem ersten strahlenden Erscheinen bis zu späteren, düstereren Ausgaben, die so bearbeitet wurden, dass sie dem verderblichen Einfluss des Rings in „Der Herr der Ringe“ gerecht werden. Es gibt eine Liste der guten und bösen Charaktere, von Azog bis Thranduil, und eine Liste der Völker, vom majestätischen allmächtigen Adler bis hin zu den wunderbaren Zwergen, jedermanns Lieblings-Fantasy-Völk (oder? ). Das Kapitel „Sprache und Schriften“ führt uns durch Tolkiens Verwendung mittelalterlicher Sprachen wie Altnordisch (viele der Zwergennamen und auch Gandalfs wurden aus den Gedichten der Lieder-Edda übernommen) sowie durch seine selbstgemachten Sprachen Elbisch und Khuzdul. "Gegenstände und Bauten" befasst sich mit wichtigen Gegenständen wie dem Schwert Glamdring und Thrors Karte, während "Orte des Geschehens" sich mit Tolkiens Regionen und Orten befasst – dem gemütlichen Beutelsend und der furchterregenden Festung Dol Guldur. Das Kapitel "Bedeutende Ereignisse" befasst sich mit wichtigen Ereignissen in der Geschichte Mittelerdes, und in "Inspiration und Einflüsse" sammeln die Autoren Notizen zum altenglischen Beowulf, zum mittelenglischen Sir Orfeo, zum altirischen Sidh sowie zu einer Vielzahl von Rätseln und Runen.
Alles in allem, ist dies eine sehr moderne Betrachtung des Romans. Ich glaube nicht, dass extreme Hardcore-Fans viel Neues entdecken werden, aber es ist ein sehr schönes Buch rund um deine Hobbithöhle zu haben, und dass, wie Tolkien selber sagt, Behaglichkeit bedeutet. Tom]
Das Herz der Sonne ist das vierte und letzte der vier Geheimprojekte, die Sanderson in seiner Zwangspause zu Covid-Zeiten ausgebrütet hat. Es ist das mit dem größten Cosmere-Bezug, also zur großen, viele Zeiten, Planeten und Figuren umspannenden Sanderson-Saga gehörig.
Wir befinden uns zeitlich im Space-Age und ursprünglich war wohl ein Planet als Schauplatz angedacht, der über die Oberfläche eines anderen rollt. Das erwies sich in der Umsetzung aber als zu schwierig und so haben wir es stattdessen mit einer Welt zu tun, deren Bewohner einer tödlichen Sonne ausgesetzt sind. Permanent sind sie vor den todbringenden Strahlen auf der Flucht, zu Fuß, mit Gefährten und sogar in beweglichen Städten, immerzu rennt alles gen Schattenseite. Ringe, die den Planeten saturnähnlich umlaufen, haben einen zusätzlichen Effekt auf die ganze Misere. Was sich in diesem an sich schon spannenden Setting abspielt, ist eine beliebte und in zig Varianten durchgespielte Western-Idee: Der Held kommt in eine kleine Stadt, hilft den Bewohnern ein Problem zu lösen und verschwindet wieder (manchmal stirbt er auch). Und so also reitet, quatsch landet (oder hüpft) unser Protagonist Nomad auf seiner Flucht vor der Nachtbrigade auf diese Welt und hilft in mal turbulent-actionreicher, mal in knifflig-durchdachter Weise, den Kampf gegen den berüchtigten Cinder König aufzunehmen. So manches ist dabei für die Figuren und für den Leser zu entdecken und zu enträtseln und die Situation wird oft dermaßen brenzlig, dass alles verloren scheint.
Das Herz der Sonne ist ein fantastischer Lese-Spaß!! Ich würde behaupten, dass man die Geschichte auch dann genießen und verstehen kann, wenn man sonst noch keines der Cosmerebücher gelesen hat. Es bleiben sicher ein paar Fragezeichen, aber die dürften höchstens Lust machen auf mehr. [Caro]
„… stattdessen sitze ich in einem selbst erschaffenen Gefängnis und quäle mich ohne Ende. Manchmal stopfe ich um Mitternacht Kekse mit Feigenfüllung in mich rein, nur um nicht zu weinen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die gesellschaftlichen Normen, die Geschlechterrollen und die stumpfe Biologie mich zu dieser Person gemacht haben, trotzdem kann ich immer noch nicht ganz verstehen, wie es soweit kommen konnte. Ich bin ständig wütend. Eines Tages würde ich gern Kunst produzieren, die meine Kritik am gegenwärtigen System zum Ausdruck bringt, aber mein Gehirn funktioniert nicht mehr wie vor der Geburt des Kindes. Ich bin jetzt wirklich dumm. Ich fürchte, ich werde nie wieder clever, glücklich oder dünn sein. Ich fürchte, ich verwandle mich in einen Hund.“
Der Zufall will es, dass ich aktuell einige Mütter von Kleinkindern in meinem näheren und etwas ferneren Umfeld habe. So sehr alle von ihnen ihr Kind lieben und alles für es tun würden, bei keiner von ihnen habe ich nicht diesen in Nightbitch beschriebenen glasigen Blick, der verloren ins Nichts stiert, beobachtet. Alle geben an, sich vor Schlafmangel oft kaum konzentrieren zu können. Nicht alle, aber die meisten von ihnen, verzweifeln am Bild, das die moderne Frau abgeben soll, die Familie und Beruf und am besten noch so etwas wie Selbstverwirklichung unter einen Hut bringen soll.
Die Schilderungen und die Zwangslage in die die Hauptfigur in Rachel Yoders Roman geraten ist, kamen mir daher sehr real vor. Sie hat ihren Galeriejob aufgegeben, um sich um ihren kleinen Sohn kümmern zu können, damit er seine Tage nicht mehr schreiend auf dem Kitaboden zubringen muss. Dafür hat sie jetzt keine Zeit und Kraft mehr für irgendwas anderes und blickt in eine tiefschwarze Zukunft. Und dann nimmt sie plötzlich merkwürdige Veränderungen an ihrem Körper war: Fell im Nacken, lange spitze Eckzähne? Ihr Mann sagt, sie mache Späße und krault ihr das Nackenfell. Nun dachte ich, dass etwas ganz Monstermäßiges passieren müsste, weswegen das Buch auch in unserer Horrorecke gelandet ist, aber eigentlich passt es da nicht wirklich hin. Denn wie sich zeigt, hat die Rückverwandlung ins Tierstadium (oder eher ein Evolutionssprung nach vorne?) eine sehr heilsame Wirkung.
„Nightbitch“ ist was Besonderes und richtig toll geschrieben! Wer nicht von vornherein eine Abneigung gegen die Thematik mitbringt, sollte sich von dieser Transformations- und Rettungsgeschichte berauschen lassen. [Caro]