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Quo vadis, Phantastik? – Ein Blick auf einige aktuelle Entwicklungen

Quo vadis, Phantastik?

Alessandra Reß, 15.03.2020

Fantasy und Science Fiction gelten vielen noch immer als sehr einseitige Genres. Dabei haben sich beide gerade in den letzten zwanzig Jahren und unter Einfluss des globalen Siegeszugs der Geek Culture stark ausdifferenziert. Ein Blick auf Trends, Entwicklungen und Genres von Alessandra Reß.

GrimdarkNew Weird, Solarpunk – bitte was? Für die meisten Lesenden sind solche Subgenre-Einordnungen zweitrangig. Avanciertere Diskussionen rund um aktuelle Phantastik-Trends entfachen sich jedoch nur noch selten an klassischen Subgenres wie High Fantasy oder Space Opera. Klar spielen diese Begriffe immer eine Rolle, denn sie geben die grundsätzliche Struktur oder das Setting einer Geschichte vor. Ob sich der Witcher nun durch eine High- oder Low-Fantasy-Welt slasht, ist aber zweitrangig geworden. Wichtiger ist, wie er es tut.

Die subkulturellen Movements und literarischen Strömungen, die dadurch entstehen, stoßen nicht nur auf Gegenliebe. Einigen sind es zu viele Schubladen geworden, andere sehen gerade in neuen Genres reine Marketingtrends ohne sinnvolle inhaltliche Basis.

Ausdruck von Zeitgeist und Zuspruch

Dahinter stehen jedoch zwei miteinander in Verbindung stehende Entwicklungen. Zum einen sind Movements wie Cyberpunk, New Weird oder zuletzt eben Grimdark und Hopepunk Ausdruck eines gesellschaftlichen Zeitgeists und dadurch flüchtiger als die literarischen Subgenres, die sich immer wieder anpassen können. Ein Urban-Fantasy-Roman kann zugleich Hopepunk oder Grimdark sein, je nachdem, welche Werte und Ästhetiken er nutzt. Klassische Genres wie High oder Urban Fantasy sind also flexibel in ihrer Haltung und ihrem Mindset. Genre-Movements wie die „Punks“, die von einem eben solchen Mindset aus Werten, Inhalten und Zielen bestimmt werden, stehen in einer stärkeren Abhängigkeit aktueller Trends. Dafür sind sie nicht auf Literatur und ähnliche Medien beschränkt, sondern können auch Einzug in Mode, Architektur oder andere Bereiche des kulturellen Lebens nehmen.

Zum anderen spricht die Ausdifferenzierung aber auch für den Zuspruch, den die Phantastik inzwischen erfährt. Wer sich mit Fantasy oder Science Fiction beschäftigt, galt lange eher als Sonderling, und das Klischee des weltfremden Nerds ist immer noch bei vielen verankert. Dabei ist die Phantastik längst im Mainstream angekommen! Kaum eine größere Stadt, die ohne Comic Con und Elbenwald-Shop auskommt, kaum ein Blockbuster, der keine Phantastik-Elemente aufweist. Selbst auf den Bestsellerlisten und im Feuilleton ist Phantastik in Form von Magischem Realismus, als Wissenschaftsthriller oder im Near-Future-Bereich häufig anzutreffen.

Den Klischees entwachsen

Natürlich sorgt das auch wieder für Widerstand und manch einer wirft Fantasy und Science Fiction vor, nur immer wieder die gleichen Storys zu erzählen. Fantasy, das ist halt das mit Elfen und Magie, Science Fiction das mit Robotern und Pew Pew. Dabei waren die phantastischen Genres bei näherer Betrachtung schon immer vielfältiger als ihr Ruf – und noch nie so ausdifferenziert wie jetzt.

Die zahlreichen Strömungen, die entstanden sind und weiterhin entstehen, machen es zwar nicht leicht, den Überblick zu bewahren. Aber sie zeigen, dass Fantasy und Science Fiction ihren Klischees entwachsen sind und eine neue Vielfalt erreicht haben, die zu begrüßen ist. Auch wenn gerade im deutschsprachigen Raum leider längst nicht alle Trends in der angemessenen Intensität ankommen. Eine traditionelle High-Fantasy-Quest wird dagegen weiterhin ihre Leserschaft finden, ebenso wie ein gut recherchierter Hard-SF-Roman, selbst wenn er ohne große inhaltliche Innovationen auskommt – oft ist es eben gerade das Bekannte, Verlässliche, was Lesende suchen.

Magischer Realismus als länderübergreifender Erfolg

Aber apropos Vielfalt. Über Jahrzehnte wurde die SFF-Literatur vor allem von britischen und angloamerikanischen Schriftstellenden bestimmt. Das gilt auch für den deutschsprachigen Raum, wenngleich hier beispielsweise osteuropäische bzw. insbesondere russische Science Fiction auf eine lange Übersetzungstradition zurückblicken. International spielt die angloamerikanische SFF-Literatur nach wie vor die bedeutendste Rolle, aber auch das Bewusstsein für Phantastikszenen anderer Kulturkreise ist gestiegen, was wiederum neue Trends oder Variationen klassischer Elemente mit sich bringt.

Der internationale Erfolg der „Trisolaris“-Trilogie von Cixin Liu hat beispielsweise ein Schlaglicht auf die chinesische Science Fiction geworfen, der sich in Deutschland mit Kapsel inzwischen sogar ein eigenes Magazin widmet. Weitere prominente Vertreter*innen der chinesischen SF sind beispielsweise Hao Jingfang („Wandernde Himmel“) oder Ning Ken. Letzterer wurde zwar noch nicht auf Deutsch übersetzt, hat jedoch den Begriff chaohuan, zu Deutsch „Ultra-Unrealismus“ geprägt, der für eine Art chinesischer Form des Magischen Realismus steht. Der Magische Realismus eignet sich schon länger dafür, internationale Phantastik aus dem südamerikanischen Raum (u. a. mit Autor*innen wie Isabel Allende, Jorge Luis Borges oder Gabriel García Márquez) über Ghana und Kenia (u. a. mit Kojo Laing und Ngugi wa Thiongo) bis nach Japan (u. a. mit Haruki Murakami oder Banana Yashimoto) in die deutschen Buchläden und auf die Bestsellerlisten zu bekommen.

Selfpublishing als Wegbereiter neuer Vielfalt

Andere Länder und Regionen treten zwar nicht unbedingt ebenso prominent auf, wenn es um Phantastik geht, doch wächst insbesondere an internationaler Science Fiction das Interesse – was wiederum den Erfolg vieler muttersprachlicher Autor*innen erst möglich macht. Nicht, dass zuvor beispielsweise im arabischen Raum keine SF-Literatur existiert hätte, doch nun finden Romane wie „Hwjn“ von Ibraheem Abbas und Yasser Bahjat auch eine globale Öffentlichkeit. Der Science-Fiction-Roman, der mehr als ein Jahr die Bestsellerlisten Saudi-Arabiens anführte, fand zunächst keinen Verlag und wurde daher von Bahjat selbst herausgebracht.

Gerade das digitale Selfpublishing hat dazu beigetragen, internationale Science Fiction und Fantasy bekannter zu machen. Denn dadurch sind in zahlreichen Ländern nicht-englischsprachige Schriftstellende veröffentlicht worden, die andernfalls kaum eine Chance auf dem von Übersetzungen geprägten Buchmarkt gehabt hätten. Eine ähnliche Rolle spielen unabhängige Online-Magazine wie Strange Horizons oder die indische Mithila Review, die nicht-englischsprachige Phantastik auf Englisch übersetzen, um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Ein ähnliches Konzept verfolgt auch das auf afrikanische Phantastik spezialisierte Omenana Magazine, das u. a. Storys von Wole Talabi, Chinelo Onwualu oder dem ugandischen Bestseller-Autor Dilman Dila („A Killing in the Sun“) veröffentlicht.

Diaspora-Phantastik und indigene Fantasy

Spricht man über afrikanische Phantastik, insbesondere Afro-SF, landet man auch schnell beim Movement des Afrofuturismus, das Themen der afrikanischen Diaspora mit solchen der Science Fiction verbindet. Erstmals benannt worden ist der ursprünglich in der afrikanischen Diaspora Nordamerikas entstandene Afrofuturismus bereits in den 1990er Jahren; Schriftstellende wie Samuel R. Delany oder Octavia Butler lassen sich darunter fassen. U. a. durch den Erfolg der Romane von Nnedi Okorafor (u. a. „Binti“, „Lagune“) sowie die „Black Panther“-Verfilmung ist die Bewegung im letzten Jahrzehnt wieder stärker ins internationale Bewusstsein gerückt.

Auch unter anderen ethnischen Minderheiten des angloamerikanischen Raums finden sich teils spezifische Ausprägungen der Fantasy und Science Fiction. In der Latinx Fantasy werden etwa „traditionelle“ Fantasygeschichten mit Motiven mittel- oder südamerikanischer Folklore verwoben. Prominente Autorinnen dessen sind Maya Motayne („Nocturna“), die Kanadierin Silvia Moreno-Garcia („Gods of Jade and Shadow“) oder J. C. Cervante mit ihrer in den USA sehr populären „Storm Runner“-Reihe, einer Art „Percy Jackson“ mit Maya Mythologie.

Inhaltlich besteht damit eine gewisse Nähe zur indigenen Fantasy. Indigenous Fantasy an sich ist kein neuer Begriff – in der englischsprachigen Literatur wurde er teilweise als Synonym für Contemporary Fantasy verwendet, teilweise als Bezeichnung für Fantasy, die Elemente aus indigenen Kulturen und Mythologien aufgreift. Inzwischen werden darunter aber vor allem Werke Schriftstellender gefasst, die selbst einen indigenen Hintergrund haben und entsprechende Motive in ihre Werke einfließen lassen. Ein prominenter Autor der Indigenous Fantasy ist der Kanadier Drew Hayden Taylor. Bekannt geworden ist er vor allem durch Theaterstücke, aber auch durch die wegweisende SF-Kurzgeschichtensammlung „Take Us to Your Chief And Other Stories“. Weitere Vertreter*innen dieser Form der Indigenous Fantasy oder Science Fiction sind Rebecca Roanhorse, Cherie Dimaline, Jennifer Givhan oder „Robocalpyse“-Autor Daniel H. Wilson.

Silkpunk als ostasiatische Steampunk-Variation

Im Kontext mit (ost-)asiatisch-amerikanischer Phantastik taucht gelegentlich der Begriff „Silkpunk“ auf. Ken Liu, der den Begriff für seine „Seidenkrieger“-Trilogie einführte, definiert Silkpunk dabei wie folgt: „[…] While steampunk takes as its inspiration the chrome-brass-glass technology aesthetic of the Victorian era, silkpunk draws inspiration from classical East Asian antiquity. […]The silkpunk technology vocabulary is based on organic materials historically important to East Asia (bamboo, paper, silk) and seafaring cultures of the Pacific (coconut, feathers, coral), and the technology grammar follows biomechanical principles  […].“ (Link)

Ebenso zum Silkpunk zählen lassen sich beispielsweise „The Green Bone Saga“ von Fonda Lee, J. Y. Yangs „The Black Tides of Heaven“ oder Aliette de Bodards „The Tea Master and the Detective“ (im deutschsprachigen Raum ist de Bodard vor allem für „Das Haus der gebrochenen Schwingen“ bekannt).

Während aber asiatisch-amerikanische Fantasy- und Science-Fiction-Literatur natürlich noch viel mehr Facetten als Silkpunk aufweist, ist das Genre selbst längst in den allgemeinen Kanon eingegangen und wird weltweit von Schriftstellenden genutzt – ebenso wie Steam- oder Cyberpunk.

Punk is not dead, Punk is verdammt vielfältig

Damit wären wir bei den Punk-Movements angelangt. Deren Siegeszug reicht auch weiter zurück, als es auf den ersten Blick scheint: Obwohl nicht alle von ihnen größere Bekanntheit erlangt haben, gehören Dieselpunk, Biopunk, Clockpunk, Stonepunk und Co. spätestens seit Anfang der 2000er zum festen Wording der Phantastik. Den „Urpunk“ bildet bekanntlich der Cyberpunk, der bereits in den 1980ern das Licht der Verlagswelt erblickte. Auch der Steampunk als erster prominenter Nachfolger entstand in den 1980er Jahren, größere Bekanntheit erlangte er in den 1990ern.

Beide haben in den letzten beiden Jahrzehnten ein Revival erlebt und weitere Derivate mit mal mehr, mal weniger großer Themen- und Bedeutungsverschiebung inspiriert. Vergleichsweise große Aufmerksamkeit haben dabei Solar- und Hopepunk erhalten. Weitere Punk-Geschwister sind beispielsweise Ecopunk (legt den Fokus auf die Interaktion von Figur und Umwelt), Mannerpunk (Jane-Austen-like, aber mit Fantasy-Elementen), oder Nano- und Postcyberpunk, die sich in ihrer Technologie mehr am Hier und Jetzt orientieren. Beispiele dafür sind die wegweisende „Nanotech Succession“-Reihe von Linda Nagata bzw. die „Daemon“-Romane von Daniel Suarez.

Nun stoßen gerade diese ständigen Punk-Bezeichnungen nicht bei allen Lesenden auf Verständnis. Für viele scheint das nur alter Wein in neuen fancy Schläuchen zu sein. Und es stimmt schon, nicht alle dieser Genres erfinden das Rad neu. Doch sie geben bestimmten Strömungen einen Namen, aus denen sich eigene Szenen, Subkulturen oder eben Movements, Bewegungen herausbilden. Und selbstverständlich verbirgt sich hinter diesen Benennungen auch ein gesellschaftspolitischer Trend: Cyberpunk war, in vager Anlehnung an die britische New Wave, seinerzeit als Widerstand gegen die Konventionen der konservativ-verknöcherten amerikanischen Hard-SF gedacht. Alle nachfolgenden „Punks“ verstehen sich ebenfalls als Rebellen, meist gegen Erzähltraditionen oder den sozialen Zeitgeist, manchmal auch werkimmanent gegen bestimmte Strukturen und Hierarchien.

Seid lieber nett zu eurem Smart Home!

Mit den hier genannten „Punks“ und internationalen Entwicklungen ist ein kleiner Überblick gegeben, der sich als Weiterführung der Subgenre-Vorstellungen auf TOR Online versteht. Doch das Thema aktueller Fantasy und Science Fiction ist damit noch immer nicht erschöpft. Habt ihr beispielsweise schon von der Kitchen Sink Dystopia gehört? Nein? Wenn sich euer Smart Home gegen euch wenden sollte, seid ihr quasi mitten drin! Die Frage ist dann nur noch, ob ihr dem Haus Grimdark-like mit roher Gewalt oder Hopepunk-mäßig mit einer ruhigen Debatte begegnet …

Alessandra Reß

Alessandra Reß wurde 1989 im Westerwald geboren, wo sie auch aufgewachsen ist. Nach Ende ihres Studiums der Kulturwissenschaft arbeitete sie mehrere Jahre als Redakteurin, ehe sie in den E-Learning-Bereich gewechselt ist.

Seit 2012 hat sie mehrere Romane, Novellen und Kurzgeschichten veröffentlicht, zudem ist sie seit mehr als 15 Jahren für verschiedene Fanzines tätig und betreibt in ihrer Freizeit den Blog „FragmentAnsichten“. Ihre Werke waren u. a. für den Deutschen Phantastik Preis und den SERAPH nominiert.

Mehr unter: https://fragmentansichten.com/