Science Fiction

Was ist Queer*SF? Mehr als nur Science Fiction!

Was ist Queer*SF? Mehr als nur Science Fiction!
Aiki Mira, 17.08.2022
 

Queer*SF Manifest 2.0[1]

Science-Fiction-Autor*in Aiki Mira denkt darüber nach, was Queer*SF ist, was sie mit der feministischen SF zu tun hat und welches Potenzial in ihr steckt.

Queer*SF oder Queer*Scifi ist ein Hashtag[2] bei Social Media, ein Label für Literatur – ein Thema über das gerade gesprochen wird.

Was Queer*SF alles sein kann, ist noch nicht festgelegt.

Eine disruptive, revolutionäre Bewegung? Oder eine kommerzielle Kreatur?

Ein zahmes Haustier? Oder ein echtes Tier?

Klar ist: wir haben es mit einem hochaktuellen, lebendigen Diskurs zu tun, der auf gesellschaftlichen Wandel hinweist.

Wie die feministische Science Fiction führt Queer*SF zu spannenden Weiterentwicklungen in der Literatur ‒ und darüber hinaus. Denn Queer*SF will nicht nur unsere Geschichten verändern – sondern unsere Welt.

Von feministischer SF zu Queer*feministischer SF

Queer*SF kann als eine neue Science Fiction verstanden werden, die an die Tradition feministischer Science Fiction anknüpft, wie sie zum Beispiel von Joanna Russ, James Tiptree Jr., Octavia E. Butler, Ursula K. Le Guin und Margaret Atwood geschrieben wurde. Dank feministischer SF haben wir heute komplexe weibliche Protagonistinnen und das Subgenre der feministischen Dystopie. Queer*SF kann einen ähnlichen Wandel bewirken und dabei zu mehr und komplexerer Repräsentation von Queerness sowie zu kollektiveren Formen von Protagonist*innen führen. Oder gar zu einem neuen Subgenre, bei dem ein diverses Space-Team im Mittelpunkt steht.

Ich verstehe Queer*SF daher als Queer*feministisch und bin überzeugt, dass sie das feministische Projekt nicht nur weiterführen, sondern auch erneuern und bereichern kann. Durch das Hinterfragen von Genrekonventionen kann Queer*SF wie damals feministische SF zum Systemupdate für das gesamte Genre werden.

Von queeren Robotern zu queeren Menschen

Figuren wie Roboter, Androiden oder Aliens dienen in der Science Fiction oft als Projektionsfläche für das Andere oder das Fremde. Dementsprechend wurden solche Figuren auch dazu benutzt, um Queerness anzudeuten, ohne sie aussprechen zu müssen. Beispielsweise können „odd couples“ wie R2-D2 und C-3PO aus Star Wars im Nachhinein als Metapher für eine queere Beziehung interpretiert werden.

In dem preisgekrönten Roman von 1969 Die Linke Hand der Dunkelheit von Ursula K. Le Guin wird Queerness in Form von nichtbinärer Geschlechteridentität zwar von Humanoiden repräsentiert, diese stammen jedoch von einem fremden Planeten. Zudem wird ihre Queerness als etwas dargestellt, das auf der Erde nicht vorkommt.

Ähnliches lässt sich hinsichtlich der Repräsentation von Frauen feststellen. Auch hier wurden zunächst nicht-menschliche Figuren genutzt, um eine neue, widerspenstige, gar gefährliche Weiblichkeit zu entwerfen wie zum Beispiel in dem Roman von Philip K. Dick Träumen Androiden von elektrischen Schafen? aus dem Jahr 1968.

Dank feministischer SF werden komplexe Frauenfiguren heute nicht mehr nur von Androiden oder Aliens dargestellt, sondern von Menschen. Eine ähnliche Rolle kann Queer*SF für die Repräsentation von Queerness spielen, wodurch diese in Zukunft nicht nur ganz selbstverständlich in unseren Geschichten vorkommt, sondern auch ganz selbstverständlich durch Menschen verkörpert wird.

Queere menschliche Protagonist*innen finden wir bereits bei Autor*innen wie Charlie Jane Anders, Karin Tidbeck, Annalee Newitz, Becky Chambers, Kameron Hurley, Catherynne Valente, Arkady Martine, Tamsyn Muir, Rivers Solomon und Yoon Ha Lee.

Auch deutsche Autor*innen wie Annette Juretzki, Judith Vogt, Christian Vogt, James A. Sullivan und Jol Rosenberg schreiben Science Fiction, in der queere Menschen vorkommen. Im Jahr 2022 wurde zudem zum ersten Mal eine Kurzgeschichte mit beiden deutschen Science-Fiction-Preisen ausgezeichnet, in der die Hauptfigur queer und ein Mensch ist.[3]

Von Erdbeben-Queerness zu Casusal Queerness

Queer*SF steht weniger für eine Coming-Out-Literatur, bei der queere Identität zum dramatischen Plot-Element wird. Stattdessen greift Queer*SF auf casual Queerness zurück. Das bedeutet, der Plot dreht sich nicht darum, ob jemand queer ist. Queer zu sein, wird zu einer Eigenschaft von vielen. Wie jede Eigenschaft macht sie Figuren komplexer und stattet sie mit einer individuellen Perspektive aus.

So ist meine Figur Rain aus Titans Kinder. Eine Space-Utopie asexuell und transgender, aber auch eine zahlenverliebte Powergamerin, die richtig abgefuckte Schimpfwörter kennt ‒ Eigenarten, die nichts mit ihrer Queerness zu tun haben. Rain ist all das zusammen und sie ist queer. Das macht sie zu einem Individuum.

Casual Queerness erscheint mir zugleich realistisch und utopisch zu sein. Realistisch, weil wir komplexe Wesen sind, die sich nicht durch eine einzige Eigenschaft erklären lassen. Utopisch, weil es im Alltag von queeren Menschen nicht so reibungslos läuft, wie in einer Space-Utopie, in der Menschen wegen ihrer Sexualität oder ihrem Gender weder abgelehnt noch diskriminiert werden.

Wie William Gibson bemerkte, ist die Zukunft schon da, bloß ungleich verteilt. Während er das besonders auf materielle Dinge und neue Technologien bezog, sehe ich das auch in Bezug auf gesellschaftlichen Wandel und unseren erkämpften Rechten und Freiheiten. Manche haben das Glück bereits in einer Art Utopie zu leben, von denen die Mehrheit auf diesem Planeten nur träumen kann.

Fazit bleibt, dass in Queer*SF nicht nur Menschen queer sind, sondern, dass diese Eigenschaft sie auch menschlicher macht.

Von queeren Held*innen zu neuen Genrekonventionen

Queer*SF hat das Potential mehr als nur Heteronormativität und Cis-Gender zu hinterfragen. Auch andere Konventionen können neu gedacht werden.

Donna J. Haraway (2016:76) schreibt in Staying with the Trouble, dass wir keine Heldengeschichten brauchen, sondern „tales of the ongoing“. Also Geschichten, die über das Weitermachen und Weiterexistieren erzählen. Um zu zeigen, wie ein diverses Forschungsteam über Jahre hinweg auf einem fremden Planeten weitermacht und sich dabei weiterentwickelt ‒ auch über das Ende des Romans hinaus ‒, nutze ich in Titans Kinder. Eine Space-Utopie statt einem Spannungsbogen, mehrere unterschiedlich lange. Ein Spannungsaufbau in großen und kleinen Wellen sowie eine multiperspektivische Erzählweise erschienen mir geeignet, um einem Team als Hauptfigur gerecht zu werden. Aber auch realistischer und im Sinne von Le Guin (1986:168) näher an dem Ideal einer „life story“, die sich nicht am Monomythos der Heldenreise abarbeitet, sondern an gelebten Erfahrungen orientiert. 

Wer darf in der Science Fiction Held*in sein? Aus welcher Perspektive wird erzählt? Durch das Hinterfragen vorherrschender Strukturen und Machtverhältnisse kann Queer*SF auch als politisch und als soziale Bewegung angesehen werden.

Von queeren Strukturen zum eigenen Subgenre

Kollektive Figuren wie das Team, multiperspektivisches Erzählen sowie die Demokratisierung von Heldentum (statt einem Helden, viele Held*innen) deuten auf neue queere Strukturen hin. Verfestigen sie sich, kann daraus ein neues Subgenre entstehen. Obendrein erneuern diese Strukturen das gesamte Genre und können zum Beispiel in der „neuen Space Opera“[4] münden. Zur neuen Space Opera zähle ich Titans Kinder. Eine Space-Utopie aber auch Romane von Becky Chambers oder die TV-Serie The Expanse.

Ähnlich geschah das bei der feministischen SF, die das Subgenre der feministischen Dystopie hervorbrachte und damit bis heute das Genre prägt. Margaret Atwoods Der Report der Magd von 1985 ist wohl das bekannteste Beispiel dafür. Octavia E. Butlers (1993) Die Parabel vom Sämann, Nalo Hopkinsons (1999) Brown Girl in the Ring und Louise Erdrichs (2019) Der Gott am Ende der Straße sind ebenso lesenswert, ergänzen die nordamerikanische Dystopie zudem um die Perspektiven von Black und Native Americans. Feministische Dystopien, deren Setting über das der USA hinausgeht, sind z.B. Nnedi Okorafor (2017): Wer fürchtet den Tod [Sudan], Bina Shah (2022): Die Geschichte der schweigenden Frauen [Mittlerer Osten], Johanna Sinisalo (2014): Finnisches Feuer [Finnland] und Ninni Holmqvist (2011): Die Entberlichen [Schweden].

Queer*SF hat das Potential feministische Themen wie Embodiment, Gender und Menschlichkeit weiterzuentwickeln, aber auch Eigenes hinzuzufügen. Ursula K. Le Guin (1986:168) fordert in ihrem Essay The Carrier Bag Theory of Fiction dazu auf, die andere Geschichte zu erzählen ‒ die, die noch nicht erzählt wurde: die „life story“.

Queer*SF erzählt die andere Geschichte und erzählt sie obendrein anders! Dadurch kann Queer*SF das gesamte Genre erneuern.

Mehr als Science Fiction: Community und Selbstreflektion

Brauchen wir ein neues Label für das Buchregal in der Buchhandlung? Nein, das glaube ich nicht.

Aber um uns zu reflektieren und auszutauschen sind Begriffe nützlich. Dinge zu benennen, bedeutet sie zu begreifen oder zumindest über sie nachzudenken, Missstände aufzudecken und daran zu arbeiten.

Geschichten zu erzählen, erfordert Entscheidungen zu treffen: Was erzähle ich? Wie erzähle ich? Wen lasse ich, wann sprechen und wie? Jede dieser Entscheidung sollten wir möglichst bewusst und reflektiert treffen. In dem Essay Wovon träumen Androiden? Von Queer*Scifi! schreibe ich deshalb: Wir müssen unser eigenes Anti-Virus-Programm sein. Denn Entscheidungen, auch die unbewussten, sollten wir uns wieder bewusst machen und reflektieren. Der Begriff Queer*SF kann uns dabei helfen.

Auch als Hashtag ist der Begriff nützlich. Denn Texte werden damit nicht eingesperrt, sondern lassen sich unendlich vielen Hashtags zuordnen. Unter #QueerSF oder #QueerScifi werden Bücher und Autor*innen zugleich sichtbar und miteinander verknüpft. Das hilft uns, Autor*innen zu finden, die sich den gleichen Projekten verschreiben und Leser*innen, die an diesen Projekten interessiert sind. So finden wir Gemeinsamkeit und Community. Ein Begriff wie Queer*SF kann also eine Brücke oder ein Dach sein, um zueinander zu finden. Im besten Fall.

Mehr als Science Fiction: eine gemeinsame und vielzüngige Zukunft

Science Fiction kann als ein einziger, langer Dialog verstanden werden, den wir lesen und weiterschreiben können. Mit Queer*SF wird diesem Dialog nicht nur etwas Neues hinzugefügt, er wird auch um viele neue Stimmen erweitert.

Genau wie feministische SF, ist Queer*SF damit viel mehr als nur Science Fiction. Beide kämpfen für eine Zukunft: eine gemeinsame Zukunft, in der alle die gleichen Chancen haben und teilhaben. Wie Donna J. Haraway (1991:16) in ihrem Cyborg Manifest schreibt, geht es in einer solchen Zukunft nicht um den Traum einer gemeinsamen Sprache, „sondern einer mächtigen, ungläubigen Vielzüngigkeit.“

Queer*SF trägt zu dieser Vielzüngigkeit bei. Queer*SF ist selbst vielzüngig! Versammelte feministische SF bereits unterschiedlich gelebte Erfahrungen und Identitäten, erweitert Queer*SF diese nun um neue, auch intersektionale Dimensionen.

Mehr als Science Fiction: ein Träumen mit offenen Augen und ein SF-Projekt

Mit Queer*SF können wir eine neue Welt erträumen, die zugleich utopisch und realistisch ist. Eine Welt, in der die Realität gelebter queerer Identitäten weitergedacht, neu erfunden oder einfach repräsentiert wird. Mit offenen Augen zu träumen, bedeutet sich bewusst zu machen, wie wir von dieser neuen Welt erzählen möchten.

Queer*SF kann dadurch zu einem SF-Projekt werden. In Titans Kinder. Eine Space-Utopie verschreibe ich mich dem Projekt einer kritischen queer* Utopie. In einer solchen Utopie sind queere Menschen bereits etablierte Identitäten, werden aber mit zukünftigen, heute noch nicht vorstellbaren Identitäten konfrontiert. Denn ich glaube, das ist das, was wir als Gesellschaft gerade erleben und in Zukunft noch stärker erleben werden: Die Beschleunigung des technologischen und gesellschaftlichen Wandels fordert von uns, sich auf immer neue Identitäten einzulassen. Queer*SF bietet Raum, um diesen neuen Zeitgeist zu erforschen.

Fazit: Queer*SF, eine realistischere SF für eine gemeinsame Zukunft

„It matters what ideas we use to think other ideas“, schreibt Haraway (2016:34) in Staying with the trouble. Ich möchte das auf die Science Fiction übertragen: Es ist wichtig, mit welcher Art von Science Fiction wir über die Zukunft nachdenken.

Eine Science Fiction, die selbst queer ist, in dem Sinne, dass sie Konventionen des Genres hinterfragt, erneuert, was die Welt ist und sein kann – während sie gleichzeitig queeren Figuren erlaubt, ein volles, dreidimensionales Leben zu führen, das sich nicht nur um Queerness dreht.

Queer*SF macht Science Fiction dadurch realistischer und erschafft nebenbei eine gemeinsame Zukunft ‒ für uns alle.

 

Quellen

Atwood, Margaret (1989). Der Report der Magd. Fischer.

Dick, Philip K. [1968] (2017). Blade Runner: Träumen Androiden von elektrischen Schafen?  Fischer.

Haraway, Donna J. (2016). Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Duke University Press.

Haraway, Donna J. (1991). Ein Manifest für Cyborgs. Online:   

  http://www.medientheorie.com/doc/haraway_manifesto.pdf (21.07.2022)

Le Guin, Ursula [1969] (2014). Die linke Hand der Dunkelheit. Heyne.

Le Guin (1986). The Carrier Bag Theory of Fiction. Online:  

  https://bcourses.berkeley.edu/courses/1501649/files/79470889 (21.07.2022)

Mira, Aiki (2021). Wovon träumen Androiden? Von Queer*Scifi! in Queer*Welten (Judith

  Vogt, Kathrin Dodenhoeft, Lena Richter Hrsg.) Ausgabe 6.

Mira, Aiki (2022). Titans Kinder. Eine Space-Utopie. p.machinery.

Fußnoten

[1]Das erste Manifest zu Queer*SF erschien 2021 unter dem Titel „Wovon träumen Androiden? Von Queer*Scifi!“ in Queer*Welten (Judith Vogt, Lena Richter, Kathrin Dodenhoeft Hrsg.). Manifest 2.0 soll darauf aufmerksam machen, dass ich in diesem Beitrag Ideen weiterentwickele, aber auch neue hinzufüge.

[2] Bei Hashtags funktioniert das Sternchen nicht, sie heißen also #QueerSF oder #QueerScifi.

[3] Kurd-Laßwitz-Preis und deutscher Science-Fiction Preis gewann 2022 die Kurzgeschichte Utopie27 von Aiki Mira, in der die Hauptfigur Lu asexuell ist.

[4] Den Begriff neue Space Opera entwickele ich in dem Essay: „Die neue Space Opera im Zeitalter der kommerziellen Raumfahrt: Von Star Wars zu The Expanse, Die Maschinen bis hin zu aktueller deutscher Science-Fiction.“ in Das Science Fiction Jahr 2022 (Melanie Wylutzki, Hardy Kettlitz Hrsg.).

Aiki Mira

Aiki Mira schreibt Science Fiction und lebt in Hamburg.

Essays und Kurzgeschichten erschienen u. a. in Exodus, Phantastisch, Queer*Welten, Future Fiction Magazine und c`t Magazin für Computertechnik.

Gleich drei Kurzgeschichten von Aiki standen 2022 auf der Shortlist für den Kurd-Laßwitz-Preis und für den Deutschen Science Fiction Preis. Mit der Story Utopie27 gewann Aiki beide Preise.

Zusammen mit Uli Bendick und Mario Franke hat Aiki Mira die Anthologie Am Anfang war das Bild herausgegeben, die ebenfalls für den Kurd-Laßwitz-Preis 2022 nominiert wurde und Platz 2 erreichte.

Juni 2022 erschien Aikis Roman Titans Kinder. Eine Space-Utopie.

Für November 2022 ist ein Roman zu Neuro-Gaming geplant.

Mehr unter: www.aikimira.webnode.page