Science Fiction

Science Fiction von Frauen #6: Annalee Newitz

Annalee Newitz
Judith Vogt, 11.07.2019
 

In den letzten Jahren wird eine neue, feministische Generation von Autorinnen in der Science Fiction sichtbar. Annalee Newitz ist eine von ihnen ...

Annalee Newitz ist kein unbeschriebenes Blatt, aber eine Newcomerin im Bereich der Science-Fiction. Als Journalistin, die 2008 die Science-meets-Science-Fiction-Seite io9 gegründet hat und für Gizmodo und Ars Technica arbeitet, schreibt sie bereits seit Jahren wissenschaftliche Essays und Sachbücher, von denen „Scatter, Adapt and Remember: How Humans Will Survive a Mass Extinction“ für den LA Times Book Prize nominiert war.

Ihr erster Roman, „Autonom“, erschien 2017 auf Englisch und 2018 auf Deutsch – und prompt wurden bereits die Verfilmungsrechte der Nebula-nominierten Cyberpunk-Erzählung verkauft.

Kanadische Kulisse

Die 1969 geborene Kalifornierin ist für ihre Studien weit gereist, doch sie verbringt so viel Zeit wie möglich in Kanada, besonders in Saskatchewan, dessen Prärie- und Seenlandschaft auch der Hauptschauplatz von „Autonom“ ist. Ein Zitat aus dem Song „The Last Saskatchewan Pirate“ von The Arrogant Worms eröffnet den Roman, und die Band gehört zu den musikalischen Inspirationen, die Newitz in ihrem Dank nennt. Im Song geht es um den Piraten „Tractor Jack“, der Dünger stiehlt – und das wiederum brachte Newitz dazu, ihre Protagonistin Judith „Jack“ Chen zu nennen und sie molekulare Blaupausen für Medikamente stehlen zu lassen. Nicht gerade das, was man heute unter Piraterie versteht, doch für die wissenschaftliche Redakteurin und Journalistin eine logische Fortführung gegenwärtiger Entwicklungen.

Zukunftsvision

Während die Science Fiction oft mehr darüber aussagt, wer wir heute sind, als darüber, wer wir morgen sein werden, spiegelt sich in „Autonom“ viel von dem wider, was Newitz in ihrer nonfiktionalen Arbeit erfahren und weitergedacht hat, die sich von Archäologie bis zur künstlichen Intelligenz erstreckt. Sie sagt selbst, dass sie sehr viel Zeit im Gespräch mit Forschenden, Akademiker*innen und Wissenschaftler*innen verbracht hat und somit sehr viel von der Politik, die die Wissenschaft begleitet, mitbekommen hat. Auch für „Autonom“ hat sie viele Stunden mit Recherche und Gesprächen zu synthetischer Biologie, Neurowissenschaften, Abhängigkeit, Patentrecht und Robotik verbracht.

Somit spiegelt natürlich auch Newitz‘ Debüt die Verhältnisse der Gegenwart wider – beispielsweise die für viele Menschen in den USA unbezahlbaren Medikamentenpreise und damit einhergehende Patentpiraterie. Auch versucht sie sich an einem etwas anderen Konzept der künstlichen Intelligenz: Sie empfindet es als vorauseilende Sklaverei, das heute bereits davon geredet wird, künstliche Intelligenz zu limitieren in der Annahme, dass sie menschliches Leben würde vernichten wollen. Die Ängste bezüglich künstlicher Intelligenz basieren vor allen Dingen auf den Ängsten der Menschen voreinander – muss eine Intelligenz, die sich menschenähnlich entwickelt, unweigerlich mörderische Impulse empfinden? Wäre es nicht auch möglich, dass wir es statt mit einer bösartigen Superintelligenz mit einer fremdartigen, friedlichen „Weirdo-Intelligenz“ zu tun bekommen?

Newitz’ ganz reale Sorge ist, dass wir uns zu wenig damit beschäftigen, wie intelligentes Maschinenleben überhaupt erkannt wird. Was, wenn eine künstliche Intelligenz ganz anders ist als menschliche Intelligenz und wir sie deshalb gar nicht wahrnehmen und weiterhin wie eine Maschine behandeln? Auch das ist ein großes Thema des Romans, in dessen Titel bereits steckt, dass es um das Wechselspiel von Freiheit und Fremdbestimmung geht.

Warum Science Fiction nicht Science ist

Natürlich gibt es für Newitz ganz offensichtliche Unterschiede zwischen fiktionalen und nonfiktionalen Texten – vor allen Dingen, was die Charaktere und ihre Motivationen und Geheimnisse angeht, die man natürlich in der Fiktion wie nirgends anders erforschen kann. Doch für sie war außerdem ein Faktor, dass sie im Roman eine starke Meinung zu Wissenschaften und ihrer Nutzung vertreten konnte, etwas, das sie in journalistischen Texten einem Streben nach Objektivität unterordnen muss.

Dennoch bleiben nonfiktionale Texte ihre erste große Liebe – sie wurde Autorin, um die Wahrheit zu sagen. Doch manche Wahrheiten, so Newitz, kann man nur in der Fiktion erzählen. Sie muss sich darin keine Sorgen machen, dass reale Menschen oder Firmen Schaden durch das nehmen, was sie erzählt, und muss sich nicht dem journalistischen Berufsethos unterwerfen. Das habe einfach Spaß gemacht, sagt sie.

Schnelle und langsame Zukunft

Doch auch in ihren Sachbüchern spekuliert Newitz: In „Scatter, Adapt and Remember“ geht es um ihre Idee der langsamen Zukunft. Weil technologische Entwicklungen so schnell gehen, projizieren Futuristen gerade schnelle Veränderungszyklen in die Zukunft. Newitz jedoch hat einen Gegenentwurf: Der Wandel unserer Realität geht sehr viel langsamer vonstatten, als es uns Medien glauben lassen.

Newitz geht in ihrem Sachbuch davon aus, dass die Menschheit die kommenden Krisen überlebt, ein Ausblick, der von einigen als hoffnungsvoll oder utopisch bezeichnet wurde. Sie findet das ein wenig traurig, da das Szenario, das sie entwirft, erst einmal pessimistisch ist und dann erst im Laufe von Jahrtausenden optimistischer wird. Ihre Theorie ist, dass es zu einem Bevölkerungskollaps durch Hunger und Pandemien kommen wird, und dass die Menschheit auf die harte Tour lernen muss, nachhaltig mit dem Planeten umzugehen. Die Autorin hofft zwar, dass diese harte Tour nicht nötig sein wird, dass morgen schon irgendein Hexenwerk erfunden wird – aber sie glaubt nicht daran, dass Technik auf magische Weise alle Probleme lösen wird.

„Autonom“ spielt denn auch im zweiundzwanzigsten Jahrhundert, ohne dass diese Zukunft im hochtechnologischen Zeitalter angekommen ist, als dass sich Cyberpunk normalerweise präsentiert. Dennoch, so Newitz, hält sie es selbst für unwahrscheinlich, dass wir in einhundertfünfzig Jahren über so weit entwickelte künstliche Intelligenz verfügen, wie es im Buch der Fall ist – aus dem einfachen Grund, dass wir bisher noch nicht einmal unsere eigenen Gehirne richtig verstehen.

Programmierte Menschen

Newitz spiegelt das Thema der KI-Autonomie in ihrem Roman „Autonom“ mit dem Suchtverhalten von menschlichen Körpern. Als Jack versehentlich eine Arbeitsdroge reproduziert, kommt es zu Todesfällen: Menschen können unter Einfluss der Droge nur noch Glück empfinden, wenn sie arbeiten und arbeiten sich somit freudestrahlend zu Tode. Damit sind sie effektiv von der Droge programmiert und ihrer Selbstbestimmung beraubt. „Es ist sehr, sehr viel schwieriger für Menschen, aus Programmierungen auszubrechen, als für Bots. Eine autonome Bot könnte ihre Programme beeinflussen, aber ein autonomer Mensch kann seine Traumata oder andere Erfahrungen, die ihn beeinflusst haben, nicht einfach loswerden“, so Newitz.

Dennoch sind die Bots in ihrem Roman genauso neurotisch und verwirrt wie Menschen – Newitz orientiert sich dabei an den Arbeiten der KI-Forscherin Joanna Bryson, die herausgefunden hat, dass Machine-learning-Algorithmen die Vorurteile der Menschen widerspiegeln, die sie programmiert haben.

Ein weiterer Punkt, der in „Autonom“ aufgegriffen wird, ist die programmierte Beziehung zwischen Mensch und Maschine. Der Bot Paladin ist programmiert, mit dem Soldaten Eliasz auf der Suche nach Piratin Jack zusammenzuarbeiten. Ihm wurde Vertrauen und Verbundenheit mit Eliasz einprogrammiert, der wiederum eine zunehmende sexuelle Anziehung zum militärisch augmentierten Bot empfindet. Das Pronomen „er“ hat Paladin sich nicht ausgesucht, und als die sexuelle Anziehung größer wird, sind sowohl Eliasz als auch Paladin überzeugt davon, dass in ihr noch organische Teile eines weiblichen Gehirns verbaut wurden – denn ansonsten hätte Eliasz sich doch nicht in sie verliebt, oder?

„Autonom“ spielt sehr geschickt mit Themen wie Gender-Identität und Gaslighting. Letztendlich werden wir als Leser*innen nie wissen, wie viel der „Beziehung“ zwischen den beiden freiwillig, autonom geschieht, und wie viel einprogrammiert wurde. Und in wie viel davon sich Paladin einfach flieht, weil die Alternative wäre, sich einzugestehen, dass sie sexuell missbraucht wird.

Klimawandel und der Blick in die Geschichte

Doch nicht nur die Zukunft von maschinellem und menschlichem Leben spielt in Newitz’ Werken (sowohl der fiktionalen als auch vielen non-fiktionalen) eine Rolle: Jedes gute World-Building, das auf unserer jetzigen Welt aufbaut, muss sich in irgendeiner Weise mit der Klimakrise befassen, so Newitz. Auch dabei helfe der Blick in die Geschichte – dies ist nicht der erste Klimawandel, den der Planet mitgemacht hat, wenn auch der erste menschengemachte, und somit können wir Ideen erhalten, wie das Ökosystem damit umgeht, was uns vielleicht wiederum Schlüsse ziehen lässt, wie wir Menschen damit umgehen werden.

Dass sie zudem die Pharmazie als Schlachtfeld ihres Romans gewählt hat, liegt daran, dass mit der Klimakrise vermutlich auch Pandemien und Antibiotikaresistenzen Hand in Hand gehen werden. Die Massentierhaltung kreiere im Prinzip resistente Superbakterien, die uns früher oder später heimsuchen werden. Sie wolle keine Zombiefilmstimmung aufkommen lassen, so Newitz, doch sie glaubt, dass es bald mehr und mehr gefährliche Mikroben und weniger Möglichkeiten zur Heilung geben wird. Alles davon hängt damit zusammen, wie wir gegenwärtig mit dem Planeten umgehen.

Zukünftige Projekte

Für Tor Books arbeitet Newitz gerade an einem weiteren Roman – diesmal über Zeitreisen. Sie sagt, sie widme sich dabei einem Aspekt, über den niemand bislang wirklich geschrieben hat. Die gleichzeitige Arbeit an einem archäologischen Buch über zusammenbrechende Stadtzivilisationen ermöglichte ihr Zeitreisen in einem etwas anderen Sinne. Ich bin gespannt, was wir von Newitz noch zu lesen bekommen!

Science-Fiction-Autorinnen haben dem Genre zu allen Zeiten etwas Neues gebracht, nicht aus dem Grund heraus, dass Frauen „anders“ oder „besser“ schreiben – ich glaube, unsere Geschlechteridentität hat absolut nichts mit unserer Befähigung zum Schreiben zu tun. Ich bin jedoch überzeugt, dass Männer eine andere Perspektive auf Gesellschaft haben, dass Frauen und andere Nicht-Männer an anderem Maß gemessen werden und gewisse Themen, die unter Männern Konsens sind, aus anderem Winkel betrachten (müssen).

Das bringt unweigerlich neue Impulse in die Science Fiction, und das ist der Grund, warum in den letzten zwei Jahrzehnten, seit Science-Fiction-Autorinnen im englischsprachigen Raum prominenter nach vorn drängen (statt in dem Hintertreffen zu bleiben, in dem sie sich im deutschsprachigen Raum noch befinden), so intelligente und vielseitige „speculative fiction“ entstanden ist. Und aus diesem Grund: Lest mehr Frauen! Diese Reihe hier geht natürlich weiter, um euch weiteren Stoff für eure Bücherliste zu liefern.

P.S.: Dieses Porträt wurde Anfang 2019 geschrieben. Annalee Newitz ist nichtbinär und verwendet seit Ende 2019 die englischsprachigen nichtbinären Pronomen "they/them". Mit der freundlichen Zustimmung von Newitz dürfen wir das Porträt weiterhin in der Reihe über SF-Autorinnen führen. Die Formulierungen im Artikel wurden auf Newitz’ Wunsch hin in der ursprünglichen Form belassen.

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.

www.jcvogt.de