Science Fiction

Science Fiction von Frauen #3: James Tiptree Jr.

Science Fiction von Frauen #3: James Tiptree Jr.
Judith Vogt, 18.04.2019
 

Science Fiction gilt allgemein als Feld, in dem sich männliche Leser und männliche Autoren austoben. Vielleicht, so wird angemerkt, interessieren sich Frauen auch nicht so sehr für SF, gefolgt vom versöhnlichen Schluss, dass es ja immer Ursula K. Le Guin gibt, wenn man sich nach weiblicher Science Fiction umsehen möchte. In dieser Reihe stellen wir dem Einzelfall Le Guin weitere, vielfältige Einzelstorys an die Seite – in der Hoffnung, dass sie ein größeres Ganzes ergeben, ein Mosaik weiblicher Zukunftsvisionen.

James Tiptree Jr. alias Alice B. Sheldon

Der Name James Tiptree Jr. lässt erst einmal nicht vermuten, dass es sich um eine Autorin handelt. Aber die Psychologin, Geheimdienstmitarbeiterin und Hühnerzüchterin Alice B. Sheldon schrieb ihre Kurzgeschichten, Novellen und zwei Romane unter einem männlichen Pseudonym, dessen Nachname ihr auf einem englischen Marmeladenglas ins Auge fiel. Aus dem Nichts, nur schriftlich unter einer Postfachadresse zu erreichen, trat James Tiptree Jr. im Jahr 1968 mit der Geschichte „Birth of a Salesman“ an die Öffentlichkeit und schrieb sich in den folgenden zehn Jahren zu Weltruhm.

Geheimdienst und Hühnerfarm

Doch auch wenn Tiptree aus dem Nichts kam, hatte Alice B. Sheldon bereits 52 bemerkenswerte Lebensjahre hinter sich, als sie zu veröffentlichen begann. 1915 als Tochter einer Autorin von (vornehmlich) Reiseliteratur und eines Anwalts und Natur- und Afrikaforschers geboren, bereiste sie bereits in den 20er Jahren die Welt. Sie heiratete jung und ließ sich jung wieder scheiden. Zunächst strebte sie eine Laufbahn als Künstlerin und Kunstkritikerin an, doch dann verschlug es sie im 2. Weltkrieg in ein vollkommen anderes Feld: 1942 trat sie in die U.S. Army ein und war in den nächsten Jahren für die Air Intelligence, die Photo Intelligence und die Army Intelligence tätig. Die Frauen, die in dieser Zeit in der Armee waren, wurden in ihren Tätigkeitsfeldern stark beschränkt, und oft war Sheldon, die den Rang einer Major erlangte, die erste Frau in ihrem Sektor. 1945 heiratete sie Huntington Sheldon, der einen hohen Rang beim US-Geheimdienst innehatte, und nachdem sich das Paar nach dem Krieg zunächst auf eine Hühnerfarm zurückgezogen hatte, wurden beide Anfang der Fünfziger zum Aufbau der neugegründeten CIA „reaktiviert“. Bereits 1955 verließ Sheldon die CIA wieder, um Psychologie zu studieren – zudem behagte ihr die Richtung nicht, in die sich die Behörde entwickelte. Weil sowohl ihr Mann als auch die CIA großen Druck auf sie ausübten, verschwand sie für ein halbes Jahr von der Bildfläche, indem sie alles, was sie bei ihrer Arbeit gelernt hatte, dazu verwandte, nicht gefunden zu werden.

Die Beziehung zu ihrem Mann überdauerte diese Zeit, aber aus dem Geheimdienst schied Sheldon ein für allemal aus. Die Beziehung zu Huntington sollte sogar bis zu ihrem gemeinsamen Freitod andauern – obwohl harmonisch, gab es in der Ehe jedoch keine sexuelle Erfüllung, und Sheldon begann, sich Hals über Kopf in andere Frauen zu verlieben, ohne sich jedoch in der Lage zu sehen, diesen Leidenschaften nachzugehen. Auch in der feministischen Bewegung fand sie keinen Platz. Obwohl sie in experimenteller Psychologie promovierte, stellte sie ihre Forschungen schließlich ein. Ihre Essays zur Gleichstellung veröffentlichte sie nicht und geriet in diesen orientierungslosen Zeiten immer wieder in depressive Phasen. Trost fand sie draußen – und beim Blick zu den Sternen. Ihrem Mann, den sie „Ting“ nannte, schrieb sie einmal: „Es muss andere Spezies da draußen geben, die unsere kleine gelbe Sonne in einem ihnen unbekannten Himmelsfeld leuchten sehen. Begehren sie uns so sehr, wie wir sie begehren?“

Das Jahrzehnt der Tiptree-Erzählungen

Im März 1968 erschien ihre erste unter dem Pseudonym James Tiptree Jr. veröffentlichte Kurzgeschichte – sie hatte zuvor schon unter ihrem richtigen Namen Kurzgeschichten in anderen Genres in Zeitungen veröffentlicht. „Birth of a Salesman“ erschien in der Zeitschrift „Analog“, und das Pseudonym sollte sie von da an zehn Jahre lang begleiten.

Von Anfang an wurden ihre Kurzgeschichten bewundert – nicht nur aufgrund ihrer Ideen und ihres Stils, sondern auch, weil sie im Tonfall so unterschiedlich sein konnten. Dasselbe Thema griff sie mal humoristisch und mal tragisch auf, oft spielten ihre Protagonist*innen mit dem Tod oder dem Gedanken daran. Viele davon wurden mit den großen Genrepreisen prämiert.

Ihr Durchbruch war dabei sicherlich die Erzählung „The Last Flight of Dr. Ain“ („Doktor Ains letzter Flug“), die im Jahr 1969 erschien. Darin lässt sie die Leser*innen mit einem Charakter mitfiebern, der die Menschheit mit einem Virus auslöschen will. Er hat eben seine Gründe.

Immer wieder nahm Tiptree die männliche Perspektive ein.  Gerade Übergangsriten und „männliche“ Verhaltensweisen gehörten zu den Phänomenen, die sie sehr stark faszinierten und die sie gleichzeitig durchschauen und entlarven konnte. Dabei spielte auch immer wieder das Begehren nach Frauen und weiblichen Körpern eine Rolle – vielleicht war es das, was ihre Kolleg*innen davon überzeugte, bei Tiptree könne es sich nur um einen Mann handeln. (Haha, aber sicher, Sherlock!)

Gleichzeitig hatten ihre Geschichten jedoch einen unverkennbar feministischen Unterton. Tiptrees Themen und Gedanken zu zumeist männlicher Gewalt und gesellschaftlicher Unterdrückung des Weiblichen, ihre Art, sich leise über „männliche“ Verhaltensweisen, oft in zwei Positionen desselben Dialogs, lustig zu machen: Tiptree besaß den scharfen Blick einer Frau, die all das im Militär, in akademischer Karriere, in ihrer Alltagswelt erlebt hat.

Eine ihrer bekanntesten Geschichten ist „Houston, Houston, Do You Read?“ („Houston, Houston, bitte kommen“), in der Astronauten auf eine Erde treffen, auf der nur noch Frauen leben. In „The Women Men Don’t See“ („Frauen, die man übersieht“) wird aus der Sicht eines unsympathischen Mannes erzählt, wie zwei Frauen, mit denen er nach einem Flugzeugabsturz gestrandet ist, lieber mit Außerirdischen die Erde verlassen und somit die unbekannten Monstren dem Monstrum, das sie kennen, vorziehen.

Mitte der Siebziger schrieb Sheldon ihren ersten Roman „Die Mauern der Welt hoch“, der ebenfalls Motive wie das Spannungsfeld zwischen den Geschlechtern, alternative Lebensentwürfe in einer Alienkultur aus psionisch begabten Himmelsrochen, ein Erstkontakt der ungewöhnlichen Art, (Para-)Psychologie und militärische und maskuline Hierarchien zum Thema hatte, die auch in vielen ihrer Kurzgeschichten auftauchen. Als der Roman 1978 erschien, hatte die dreiundsechzigjährige Sheldon bereits gesundheitliche Probleme.

Außerdem wurde ihr großes Geheimnis bekannt …

„Genderfuck!“: Tiptree ist eine Frau!

Ich denke, Sheldon wusste, dass der Zeitpunkt ihrer „Entlarvung“ irgendwann kommen würde. Wie Kameron Hurley auch in ihrem Essay „Becoming What You Hate“ schrieb, gibt es bei Identitäten, Pseudonymen und Verwicklungen zwischen Schriftsteller*innen unweigerlich einen Punkt, an dem die Wahrheit ans Licht kommt. Tiptree kommunizierte mit „seinen“ Kolleg*innen immer über ein Postfach, telefoniert nie mit seinen Verlagen und nahm seine Preise nicht persönlich entgegen.

Seinen Freunden schrieb Tiptree: „Ich kann es nicht wirklich erklären. Es ist, fürchte ich, teils Sturheit. […] Warum kann ich nicht in Frieden in meiner Höhle hocken? Ich bin ein einfacher, alter Sterblicher, ich verstehe nicht, warum ich im knorrigem Fleisch und Blut anwesend sein sollte, nur damit man vergeblich danach sucht, was an mir diese Worte produziert.“

Seine Identität war natürlich in der SFF-Szene ein Rätsel, und auch, dass es sich bei ihm um eine Frau handeln könne, wurde durchaus schon angesprochen – besonders berühmt oder eher berüchtigt ist nach wie vor das Zitat von Robert Silverberg, der sagte, dass Tiptree keine Frau sein könne, denn „es stecke etwas unausweichlich Männliches in Tiptrees Schreibe.“

Tiptree hatte einige Details über Sheldons Vergangenheit verlautbaren lassen – es wurde vermutet, dass „er“ Geheimagent oder beim Militär tätig war. Es wurde auch gemunkelt, es handle sich um das Pseudonym von bereits bekannten Schriftstellern wie Salinger und Kissinger. Auf die Schliche kam man ihr – ihm –, als Tiptree in einem Brief an seinen Herausgeber vom Tod seiner Mutter berichtete, von der bekannt war, dass sie Weltenbummlerin und Reiseliteraturschriftstellerin gewesen war. Durch einen zeitgleichen Nachruf auf Alice Sheldons Mutter, auf die all das auch zutraf, kam dann zutage, dass Alice B. Sheldon und James Tiptree Jr. ein- und dieselbe Person waren.

In einem Brief von ihrem Freund und Lektoren Jeff Smith darauf angesprochen, antwortete sie denn auch: „Ja, Alice Sheldon. 1,72 m, 61 Jahre, die Überreste eines gutaussehenden Mädchens sind noch halbwegs sichtbar, grinst oft auf trübsinnige Weise, phasenweise sehr aktiv.“

Als wäre der Zauber gebrochen, erschienen nicht mehr viele Kurzgeschichten von Tiptree – wohl aber im Jahr 1985 ihr zweiter Roman „Helligkeit fällt vom Himmel“.

„Jetzt,” schrieb Sheldon im Jahr 1986, „war ich nur noch eine weitere Frau, mit meiner eigenen Leidensgeschichte. Alle Magie verflogen.“

Als sich im Jahre 1987 sowohl ihr als auch Tings Gesundheitszustand immer weiter verschlechterte, erschoss die seit ihrer Kindheit schusswaffenbegeisterte Sheldon erst den bettlägerigen Ting und dann sich selbst – Sheldon wurde 71 Jahre alt, ihr Mann war 13 Jahre älter. 

Der James Tiptree Jr. Award

Der Tiptree-Preis wurde vier Jahre nach ihrem Tod ins Leben gerufen. Die Science-Fiction-Autorinnen Pat Murphy und Karen Joy Fowler begründeten den Preis damit, dass nach wie vor eine Marginalisierung von Science-Fiction-Autorinnen und weiblichen Figuren im Genre stattfände (Ups. Was für ein Zufall. Diese Reihe hier entstand aus demselben Grund, und dabei sind seitdem fast dreißig Jahre vergangen …).

Die meisten englischsprachigen SFF-Preise tragen die Namen von Männern – ironischerweise hat nun auch der Tiptree-Preis einen männlichen Namen, wird jedoch für Science Fiction und Fantasy verliehen, die Geschlechterrollen auf besondere Weise untersuchen, in Frage stellen und erweitern. Er wird jährlich für aktuelle Romane und Erzählungen vergeben, im Jahr 1996 zudem retrospektiv für ältere bedeutende Werke. Dabei werden nicht nur Frauen ausgezeichnet, sondern Autor*innen, „die mutig genug sind, über Veränderungen der Geschlechterrollen nachzudenken, die zu den grundlegenden Aspekten jeder Gesellschaft gehören.“

Die Neuausgabe im Septime-Verlag

Tiptree verfasste ihre zwei Romane mehr oder weniger auf Drängen ihres Verlags – sie fühlte sich in der Kurzform zu Hause und ist vielleicht auch darum in Deutschland nicht so bekannt. Das deutschsprachige Publikum schätzt Romane nach wie vor höher als Kurzgeschichten und Novellas.

Seit dem Jahr 2011 veröffentlicht der Wiener Septime Verlag Tiptree Jr.s Werke als Gesamtausgabe – sieben gebundene Erzählbände und beide Romane als luxuriöse Werksausgabe, so dass nun endlich alles von Tiptree Jr. auf Deutsch erhältlich ist. Viel Liebe und gewissenhafte Arbeit ist in die überwiegend von Frauen übersetzte Neuausgabe geflossen. Auch die Biographie von Julie Philipps, die 2007 den Ehren-Tiptree-Award erhalten hat, ist Teil der Gesamtausgabe.

Alice B. Sheldons Werke sind nach wie vor aktuell – oft höre ich die Frage, ob sich denn nicht schon sehr viel seit den Siebzigern getan hätte, ob wir nicht mittlerweile in einer ganz anderen Welt mit ganz anderen Möglichkeiten leben würden. Ich behaupte, die Schritte nach vorn sind mit viel Gegenwind verbunden gewesen und sind es noch. Vieles sind nur Zugeständnisse und ist kein echter, systemischer Wandel. Wie fest wir noch in den Geschlechterrollen und Geschlechterbildern stecken, zeigt der Blick auf Tiptrees Literatur, in deren klarsichtiger gesellschaftlicher Schilderung wir uns nach wie vor ohne Befremden zurechtfinden.

Ich könnte jetzt zitieren, was Denis Scheck zu Tiptree gesagt hat, aber ich lasse ihn schweigen und zitiere lieber Sheldon selbst: „Ich habe nie gelogen oder meine natürliche Stimme verändert … Ich kann nichts dafür, was allgemein für eine männliche und was für eine weibliche Stimme gehalten wird.“

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.

www.jcvogt.de