Science Fiction

Science Fiction von Frauen #10: Bina Shah

Science Fiction von Frauen #10: Bina Shah
Judith Vogt, 03.03.2020
 

Weiter geht es mit unserer Kolumne über großartige Frauen in der Science-Fiction-Literatur. Heute im Porträt: Bina Shah.

Die in Pakistan geborene Autorin wird häufig darauf reduziert, ihr Buch Die Geschichte der Schweigenden Frauen behandle das Thema Misogynie in einer muslimisch geprägten Dystopie. Diese Art der Rezeption verhindert jedoch, dass wir Shahs Stimme so wahrnehmen, wie sie es verdient: als feministische, bikulturelle Perspektive, die eine Geschichte über Fremdbestimmung erzählt, von der wir uns in Mitteleuropa alles andere als freisprechen können.  

Shah wuchs in den USA und Pakistan auf, studierte in den USA Psychologie und Educational Technology und lebt zurzeit in Karachi. Sie schreibt meist auf Englisch; unter anderem für die New York Times, den Guardian und Al Jazeera und ihren eigenen Blog „The Feministani“. Die Geschichte der Schweigenden Frauen ist ihr fünfter Roman und ihr erster Science-Fiction-Roman.

„Feminismus ist ein zeitloses Konzept“

Als Bloggerin setzt sich Shah mit dem Vorwurf auseinander, Feminismus sei ein importiertes, westliches Kulturgut. Viele junge Männer fragen sie auf den Social Media danach, schreibt sie auf „The Feministani“: „Ich habe mittlerweile verstanden, dass viele falsche Vorstellungen zu Feminismus kursieren und dass pakistanische Frauen, die Ermächtigung suchen, mit so viel Gegenwind rechnen müssen, dass wir sehr vorsichtig sein und manchmal ganz zurück an den Anfang gehen müssen, um andere verstehen zu lassen, was Feminismus als Ganzes ist und was damit zusammenhängt. Junge Frauen sehnen sich danach, dass ihr Ehrgeiz, ihre Wünsche und Hoffnungen für ihr Leben als berechtigt anerkannt werden, dass es nichts Falsches ist, sich Ermächtigung zu wünschen.“

Als pakistanische Feministin wird sie immer wieder darauf angesprochen, ob ihr Roman vor allem Aussagen zu Feminismus in muslimisch geprägten Ländern enthalte und ob sie in Pakistan mit Konsequenzen oder Einschränkungen zu rechnen habe aufgrund ihrer Arbeit als Schriftstellerin. Während Shah darüber Aufklärungsarbeit leistet, ist ihr jedoch auch wichtig klarzustellen, dass auch die europäischen und nordamerikanischen Länder noch viel feministische Arbeit vor sich haben.

Das dystopische Thema der Fruchtbarkeit

Denn die Themen, die Shah behandelt, sind vertraut: Sie entspringen der gleichen Quelle feministischer Dystopie wie beispielsweise Der Report der Magd von Margaret Atwood, mit der Shah wieder und wieder verglichen wird. Eine feministische Dystopie, die davon ausgeht, dass hierarchische Machverhältnisse in einer Postapokalypse, die die Fortpflanzungsfähigkeit der Menschheit beeinträchtigt, dort wieder einkehren, wo sie aufgehoben schienen.

Schauplatz von Shahs Roman ist Green City, die Hauptstadt von Sub-West-Asien, eine säkuläre Stadt, in der Religion und Glauben untergeordnete Rollen spielen. Was jedoch eine Rolle spielt, ist die Frage, wie das Individuelle durch äußere Umstände gezwungen wird, sich dem Allgemeinwohl unterzuordnen, und wie in einer Gesellschaft Intimität zum größten Mangel wird. Aber worum geht es überhaupt in Shahs erstem Science-Fiction-Roman?

In einer unbestimmten, näheren Zukunft gab es einen Nuklearkrieg in Pakistan und eine aus den Konflikten resultierende Krankheit tötete viele Menschen, vor allen Dingen Frauen, und stellte dadurch ein Geschlechterungleichgewicht her. In Green City lebt man nun in einem streng reglementierten Alltag, und den Preis fürs Überleben müssen die gebärfähigen Menschen zahlen: In Shahs Roman werden einer Frau im gebärfähigen Alter mehrere Männer in aufoktroyierter Polygamie zugeordnet, Beziehungen, die nur existieren, damit die Frau möglichst viele Kinder gebiert und die viele Menschen der Stadt unglücklich machen oder sogar in den Suizid treiben. Auch die Mutter der Protagonistin Sabine nahm sich das Leben. Sabine selbst jedoch rettete sich als junge Frau außerhalb der Stadt in den Untergrund, die Panah. Frauen und Mädchen aus der Panah betreten Green City nur noch aus einem Grund: Sie bieten den Mächtigen der Stadt etwas an, was diese in ihren Ehen und Familien nicht mehr erhalten – Zärtlichkeit.

Wie und ob Zärtlichkeit mit Sex verbunden ist, was das Aufsetzen und Erhalten von Hierarchie mit Menschen macht, erzählt Shah ruhig und aus verschiedenen Ich-Perspektiven. Dabei sind bei ihr die Männer durchaus nicht die Täter – das Unrecht ist systemisch, und auch Männer können sich den Traumata nicht entziehen. Shah geht da subtil vor, macht deutlich, dass Frauen dieser hierarchischen Ordnung nur entkommen können, wenn sie Männer als Beschützer oder Komplizen haben, wenn sie also von Männern ermächtigt werden.

Antwort auf 1984

Während Die Geschichte der Schweigenden Frauen oft mit Der Report der Magd verglichen wird, sieht sich die Autorin selbst vor allen Dingen von Orwells 1984 geprägt, das sie als Zwölfjährige las. Aber Shah ist mehr als eine feministische Stimme für Zentralasien, eine pakistanische Atwood oder eine weibliche Orwell. Shah widmet sich in ihrem Buch dem Verlust von Nähe und Intimität und der Frage, was das mit einer Gesellschaft macht. Natürlich spiegeln sich darin die Folgen der Geschlechterselektion in Pakistan, Indien und China. Natürlich hat das Buch einen zentralasiatischen Subtext, den Leser*innen mit mitteleuropäischem Background trotz der Tatsache, dass der Roman auf Englisch geschrieben wurde, nicht so einfach verstehen können. Man müsse aus europäischer Perspektive „arbeiten“, um ihre Botschaft ganz zu erfassen, sagt Shah.

Und das ist okay. Wir haben eurozentrische Literaturkanons in die ganze Welt exportiert, Kulturimperialismus betrieben und führen das auch munter weiter fort, wie jüngst, als Barnes&Nobles beschloss, zum BlackHistoryMonth Klassiker der Weltliteratur als „Diverse Editions“ einfach neu herauszugeben – aber mit Schwarzen Protagonist*innen auf dem Cover. So einfach kann es nicht sein: Wir müssen Arbeit investieren, auch vielleicht mit dem Gefühl leben, etwas nicht komplett verstanden zu haben, wenn wir den Blick über den Tellerrand der eurozentrischen Literatur heben wollen.

Das Recht aufs unperfekte Buch

Shah selbst war sich nicht sicher, wie ihr Buch aufgenommen werden würde. Sie hatte Angst, es sei unglaubwürdig, hätte eine lächerliche Prämisse. Das Gefühl der Unsicherheit ist ein steter Begleiter: Sie begann überhaupt erst zu schreiben, nachdem sie nach einem Jahr Arbeit in einer Softwarefirma in Boston in die pakistanische Hauptstadt zurückzog und sich sehr verloren fühlte. Um sich wiederzufinden, schrieb sie – zunächst Sachtexte, dann Kurzgeschichten, die sie als Sammlung „And the World Changed“ herausgab, und schließlich ihren ersten Roman „When They Dream in Blue“. Mehr als der Anfang einer Geschichte macht ihr das Ende zu schaffen – es sei ein regelrechtes Gefühl der Panik, wenn eine Geschichte ihrem Ende naht.

In Pakistan selbst rechne sie immer mit massivem Gegenwind, sagt Shah. „In Pakistan hat man oft widerstreitende Gefühle gegenüber Menschen, die nach ihren eigenen Regeln Erfolg haben.“ Das sei zum Beispiel auch an Malala Yousafzai zu sehen: „Was Malala zugestoßen ist, weil sie Bildung suchte, sagt Schlechtes über Pakistan aus. Menschen schämen sich dafür und bekämpfen das, indem sie Malala zur Bösen in dieser Geschichte machen. Je mehr sie erreicht, desto mehr hassen sie sie.“ Als jemand, der international Ansehen genießt und in den USA studierte, ist auch Shah ähnlichem Misstrauen ausgesetzt. Obwohl man in Pakistan durchaus eine Faszination für den Westen habe, sei man auch abgestoßen davon. Die Wurzel dessen sieht Shah in den postkolonialen Abhängigkeitsbeziehungen zum Westen – die Furcht davor, dass eigene Kultur überschrieben werde, mündet schlussendlich auch in Furcht vor feministischen Stimmen.

Eine eher westliche Kritik an Die Geschichte der Schweigenden Frauen lautet, dass das Buch keine Protagonisten beinhalte, die das Cis-Heteronormative des Settings durchbrechen. Shah ist dieses Dilemma bewusst – im Schreibprozess habe sie sich einem beispielsweise trans Charakter noch nicht gewachsen gefühlt. Seitdem widmete sie den politischen und gesellschaftlichen Kämpfen von trans Frauen in Pakistan eine Kurzgeschichte. Queerness sei durchaus im Roman enthalten – doch Green City beschneide die Rechte Homosexueller auf eine Weise, dass auch diese Interaktion nur im Subtext und vielleicht nicht für alle westlichen Leser*innen sichtbar wird, erklärt sie.

Da die Frauen in Shahs Roman nur durch Männer Ermächtigung finden – reagieren, wo Männer agieren –, hat Shah vielleicht nicht das perfekte feministische Buch geschrieben. Aber ist das überhaupt nötig? In der Science Fiction wie auch in anderen Bereichen der Literatur tendieren wir dazu, Frauen dann Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, wenn sie den großen, herausragenden, perfekten Roman schreiben. Shahs Roman ist ein Puzzlestück auf der Suche nach einer internationalen, solidarisch feministischen Bewegung – Perfektionismus ist dabei überbewertet, und der Weg ist das Ziel.

Die weltgrößte Religion ist das Patriarchat

Und in dieser Religion ist kein Staat säkulär, hat Shah zwischen den USA und Pakistan festgestellt. Im Westen gibt es die fest verankerte gläserne Decke, das Recht auf selbstbestimmte Fortpflanzung wird nicht nur in den USA beschnitten, auch in europäischen Ländern wird der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen erschwert. Weibliche Staatsoberhäupter und Frauen in wichtigen wirtschaftlichen und politischen Posten sind überall in der Minderheit. Und dennoch zeigen im Westen viele mit dem Finger auf muslimisch geprägte Länder, wenn es um das Thema Patriarchat und toxische Männlichkeit geht. Eines ist sicher: In vielen dieser Länder ist der Einsatz, den Feminist*innen leisten, höher und der Kampf härter als beispielsweise in Mitteleuropa.

Shah führt ihre Überlegung fort: Wenn die weltgrößte Religion das Patriarchat ist, vollzieht sich „die weltgrößte Revolution gerade um uns herum: die Revolution der Frauen“. Frauen in Pakistan leben ein Leben als Bürgerinnen zweiter Klasse in ihrer eigenen Heimat, so Bina Shah in ihrem TED-Talk „Why Pakistan needs feminism“: „Feminismus ist die Bewegung, die auf Missstände aufmerksam macht und uns eine Stimme verleiht. Pakistan braucht mehr Feminismus, damit wir ein besseres Pakistan schaffen können.“

Feminist*innen in muslimisch geprägten Teilen der Welt steht es ebenso wie Frauen in Europa und Nordamerika zu, feministische Kämpfe auf die Weise auszutragen, die ihren Bedürfnissen entspricht – und nicht den westlichen Ideen. Wenn wir als Feminist*innen Mitteleuropas also etwas tun können, dann, solidarisch zu sein, Anteil zu nehmen, zuzuhören, zu „arbeiten“; und zwischen den Zeilen zu lesen.

Von Bina Shah jedenfalls wird es noch mehr zu lesen geben: „Erinnert ihr euch an diesen Satz aus den Neunzigern, der die Leute für AIDS sensibilisieren sollte? Stille = Tod. So fühlt es sich für mich an. Wenn ich schweigen müsste und mir keinen Ausdruck verleihe dürfte, würde ich sterben.“

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.

www.jcvogt.de