Science Fiction

10 aktuelle SF-Romane ohne Roboter & Raumschiffe

10 aktuelle SF-Romane ohne Roboter & Raumschiffe

BUCH

 

Christian Endres, 15.07.2019

Science Fiction soll es sein, jedoch ohne Aliens, Roboter und Raumschiffe? Bitte sehr: Zehn ausgewählte Zukunftsromane, die Vielfalt, Vitalität und Aktualität des Genres verkörpern.

 

"Die Mauer" von John Lanchester

Deutsch von Dorothee Merkel • Klett-Cotta, Hardcover, 348 Seiten • 24,00 Euro

In seinem Roman Die Mauer verarbeitet der in Hamburg geborene, in Hongkong aufgewachsene und in England lebende John Lanchester den Klimawandel, das Brexit-Chaos, die weltweite Flüchtlingskrise, den Rechtsdruck in Politik und Gesellschaft sowie das weltweit zu beobachtende Streben nach Abschottung. Wie alle jungen Männer und Frauen leistet Joseph Kavanagh seinen Wehrdienst auf der 10.000 km langen Betonmauer um Großbritannien an. Auf dem kargen, den Elementen ausgesetzten Mauerabschnitt wacht er in ständiger Furcht vor den „Anderen“, die vom Meer kommen und mit Gewalt über die Mauer ins Land flüchten wollen, wo Geburten kontrolliert werden und Drohnen die Felder bestellen. Obwohl Lanchesters drastische, nie belehrende Brexit-Dystopie ein bisschen schwach als Endzeit-Abenteuer ausläuft, macht der Roman wieder einmal deutlich, dass die Mauer zwischen guter Science Fiction und unserer Wirklichkeit eine niedrige sein muss.

 

"Wie man einen Toaster" überlistet von Cory Doctorow

Deutsch von Jürgen Langowski • Heyne, Hardcover, 176 Seiten • 12,00 Euro

Seit Jahren zeigt uns Cory Doctorow unermüdlich und, fast noch wichtiger, verständlich, die Gefahren von Digitalisierung, Globalisierung und den fragwürdigen Reformen des Urheberrechts auf. In seiner Novelle Wie man einen Toaster überlistet präsentiert sich der Zukunftsseher und Internetversteher in Höchstform und auf dem Niveau seines Highlights Little Brother. Im Hardcover, dessen Erzählung im Original mit drei anderen Novellen in einem Band erschien, beschreibt Doctorow, wie die junge Migrantin Salima nach der Hölle in Flüchtlingscamps und Notunterkünften in Boston in einem von Ungerechtigkeit beherrschten Wohnhaus Haushaltsgeräte hackt, da diese an schwachsinnige, den Verbraucher knebelnde kapitalistische Bedingungen und Beschränkungen gebunden sind. Eine hyperaktuelle Geschichte über Migration, Urheberrecht, das Internet of Things und unsere trügerische moderne Freiheit, in der Doctorow gekonnt kritisiert, sensibilisiert und aufweckt. 

 

"Der Wal und das Ende der Welt" von John Ironmonger

Deutsch von Maria Poets u. Tobias Schnettler • S. Fischer, Hardcover, 480 Seiten • 22,00 Euro

In John Ironmongers neuem Roman Der Wal und das Ende der Welt entwickelt der Londoner Analytiker Joe für das private Finanzwesen eine Künstliche Intelligenz, die letzten Endes aus ihrem Daten-Input die Zukunft ableiten und somit in gewisser Weise vorhersagen kann – z. B. den Weltuntergang, vor dem Joe in das kleine Fischerdorf St. Piran in Cornwall flieht. Rund dreihundert verschrobene Dorfbewohner, ein gestrandeter Wal, ein feindseliger Pfarrer und viel Menschlichkeit stehen einer Pandemie gegenüber, vor der Joe St. Piran gerne retten würde. Ironmongers Buch erfreut seine Leser als warmherzige, sympathische Endzeit-Geschichte über ein raues, aber herzliches britisches Küstendorf, die so gar nichts mit den kargen Stoffen gemein hat, die das Subgenre definieren und dominieren. 

"Die letzten Tage von Neu-Paris" von China Miéville

Deutsch von Andreas Fliedner • Golkonda, Paperback, 250 Seiten • 18,00 Euro

Seit Jahren kämpft der preisgekrönte Genre-Punk China Miéville mit seinen Werken gegen das Schubladendenken in der Phantastik. Seine Novelle Die letzten Tage von Neu-Paris ist eher faszinierend als fesselnd und letztlich ein Statement – ein weiteres Manifest Miévilles für die Grenzenlosigkeit von Genre-Literatur, die sich ihre Grenzen nicht selbst setzt. Im belagerten Paris des Zweiten Weltkriegs werden die Kunstwerke und Gedanken des Surrealismus als abgedrehte, monströse Manifestationen lebendig, die Nazi-Besatzer beschwören daraufhin teuflische Höllenmächte. Mittendrin: Thibaut und andere französische Freiheitskämpfer, dem Sozialismus ebenso verbunden wie dem Surrealismus. Miévilles schmales Buch ist von echter Kunst inspiriert, wie der Anhang aufzeigt, und strotzt vor Szenen, die der Vorstellungskraft des Lesers alles abverlangen.

 

"Mars Override" von Richard Morgan

Deutsch von Bernhard Kempen • Heyne, Paperback, 736 Seiten • 15,99 Euro

In den letzten Jahren schrieb der Engländer Richard Morgan hauptsächlich epische Fantasy. Nachdem Netflix seinen mit dem Philip K. Dick Award ausgezeichneten Science-Fiction-Roman „Altered Carbon – Das Unsterblichkeitsprogramm“ als TV-Serie adaptierte und aktuell an einer zweiten Staffel gearbeitet wird, wandte Morgan sich nun ein weiteres Mal der Science Fiction zu. In seinem neuen Cyberpunk-Roman, einem echten Wälzer, geht es um einen künstlich verbesserten, übermenschlichen Killer, der sich in der korrupten Mars-Kolonie der Zukunft viel Ärger einhandelt. Das schildert Morgan mit viel Action, Brutalität, Mars-Techporn und plakativem Sex. Ein hartgekochter, zynischer Macho-Krimi, keine Frage – aber auch sehr guter, zeitgemäßer Post-Cyberpunk. 

 

"Der Würfel" von Bijan Moini

Atrium, Hardcover, 400 Seiten • 22,00 Euro

Bei Der Würfel handelt es sich um das Romandebüt des Juristen, Politologen, Journalisten und Bürgerrechtlers Dr. Bijan Moini, seines Zeichens Experte für Digitalisierung, Überwachung und Datenschutz. In seinem Einstand als Romancier zeigt der 1984 in Karlsruhe geborene Moini eine Deutschland der nahen Zukunft, in dem der titelgebende Algorithmus das Leben aller lenkt. Es gibt keine Probleme mehr, alles ist bequem – aber es wird auch alles überwacht und reguliert. Nur wenige, darunter der junge Taso, wenden alle möglichen Tricks an, um sich der Komplettüberwachung und den Vorhersagen zu entziehen. Ein relevanter Science-Fiction-Roman, der einen hinterfragen lässt, wie oft wir jetzt schon Freiheit und Privatsphäre für gedankenlose Bequemlichkeit oder Faulheit opfern. 

"Enemy" von Iain Reid

Deutsch von Anke u. Eberhard Kreuzer • Droemer, Paperback, 301 Seiten • 14,99 Euro

Hinter dem als solchen beworbenen „Psychothriller“ Enemy des Kanadiers Iain Reid, im Original übrigens Foe, steckt ein Science-Fiction-Thriller, der Philip K. Dick sicher gefallen hätte. In der nahen Zukunft geht es um ein Ehepaar, das Probleme hat und noch mehr Probleme bekommt, als ein Raumfahrtunternehmen in ihr Leben drängt und die Eheleute regelrecht verhört. Irgendwann stehen Dinge wie Identität und sogar Realität in Frage. Stilistisch so interessant wie Reids The Ending – Du wirst dich fürchten, das demnächst auf Netflix aufschlägt, und mit einer netten Pointe: Wäre schade, würde man dieses ungewöhnliche Stück Zukunftsliteratur übersehen.

 

"Der Gott am Ende der Straße" von Louise Erdrich

Deutsch von Gesine Schröder • Aufbau, Hardcover, 360 Seiten • 22,00 Euro

Für Leserinnen und Leser von Margaret Atwood: In ihren von der literarischen Welt gefeierten Büchern setzt die Amerikanerin Louise Erdrich meisten genauso auf ihre erzählerische Klasse wie auf ihre indigenen Wurzeln. Im Roman Der Gott am Ende der Straße sucht die junge, schwangere Native Cedar Hawk Songmaker ausgerechnet dann erstmals nach ihren leiblichen Eltern in einem Reservat, als die moderne Gesellschaft aufgrund der rückwärtslaufenden Evolution von Tieren und Pflanzen in Panik gerät und Schwangere von Milizen und Denunzianten ins Visier genommen werden. Die Science-Fiction-Möglichkeiten des Szenarios kommen etwas zu kurz, dafür sticht dieser stilsichere Endzeit-Roman durch seine literarische Güte, seine Blickwinkel und seine Erzählstimme hervor. 

"Miami Punk" von Juan S. Guse

S. Fischer, Hardcover, 640 Seiten • 26,00 Euro

Die Presse ist begeistert, man spricht von einem möglichen Kultroman, ja sogar von einem Exzess und von größenwahnsinnigem Genie. Was ist dran? Nun. Der 1989 geborene Juan S. Guse vermengt in Miami Punk Cyberpunk und andere Subgenres, Nertdum, E-Sports, Familiensorgen, Gegenwartsprobleme, Zukunftsaussichten und spannende Ideen zu einem bunten, ambitionierten, beachtenswerten und beeindruckenden SF-Roman-Monster aus Deutschland. Von Anfang an schimmern dabei J. G. Ballard und William Gibson durch, und sicher, hin und wieder schlägt Guse über die Stränge. Dennoch imposant und lesenswert. Selbst das Einbandmotiv der Künstlerin coniaii, das durch de Typografie des Covers blitzt und unter dem Schutzumschlag zum Vorschein kommt, ist alles andere als Standard.

 

"Die Schleife" von Peter Clines

Deutsch von Marcel Häußler • Heyne, Taschenbuch, 525 Seiten • 9,99 Euro

Peter Clines schreibt super-sympathische, super-easy wegzulesende Schmöker – schneller kann man 500 Seiten meistens nicht inhalieren. Seine ersten Bücher „Der Spalt“ und „Der Raum“ waren lose miteinander verknüpft und verbanden Weird Fiction, Horror und Science Fiction auf höchst unterhaltsame Weise. Die Schleife ist ein unabhängiger Zeitreise-Einzelroman, mit dem der u. a. von Andy Weir gepriesene Mr. Clines alle Fans des britischen Kult-Franchise „Doctor Who“ glücklich macht und ihnen noch ein bisschen „American Gods“ als Glasur oben draufgibt. 

Christian Endres

Christian Endres schreibt für den Tagesspiegel, Tip Berlin, diezukunft.de, phantastisch!, Doppelpunkt, Geek! und viele mehr. Für Panini betreut er redaktionell die Comic-Ausgaben von Spider-Man, Batman, Conan, den Avengers und anderen. Neben den Büchern „Sherlock Holmes und das Uhrwerk des Todes“ und „Die Zombies von Oz“ veröffentlichte er Geschichten in Anthologien, Magazinen wie c’t und Exodus, der Heftreihe Basement Tales, Basteis Horror Factory sowie auf Englisch im Sherlock Holmes Mystery Magazine und in Heavy Metal. Er wurde bereits mit dem Deutschen Phantastik Preis und dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.


 

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