Fantasy

Warum lesen wir historische Fantasy?

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Judith und Christian Vogt, 25.02.2022

Die Wurzeln der Phantastik liegen nicht in Mittelerde oder Narnia, sondern in unserer Welt. Wo Geschichtsschreibung aufhört und Mythos beginnt, ist nämlich schwammig und ebenso unklar wie die Antwort auf die Frage, wo bewusst Phantastik geschrieben wurde und wo das Phantastische das Unerklärliche erklärt.

Als Historische Fantasy bezeichnen wir in diesem Essay phantastische Literatur, die in der Geschichte unserer Welt spielt. Allgemein findet man unter dem Stichwort auch Fantasy, die in historisierenden „Sekundärwelten“ spielt, aber das wollen wir bewusst ausklammern – historisierende Fantasy kennt viele weitere Subgenre-Spielarten wie High Fantasy, Epic Fantasy, Grim&Gritty – aber sie ist höchstens an realweltliche Historie angelehnt, wie „Das Lied von Eis und Feuer“ an die Rosenkriege in England oder unsere „Die 13 Gezeichneten“ an die Besetzung des Rheinlands durch Napoleon. Doch die York-Sippschaft heißt Stark und Napoleon Bonaparte heißt Yulian Beaulapièc, und auch, wenn die historische Recherche ähnlich aufwändig sein kann: Diese Geschichten versuchen nicht, unsere Welt abzubilden, sondern nehmen Historisches als Ankerpunkt.

Fantasy ohne Fantasywelt

Dabei schlagen die meisten Fantasywelten Wurzeln in unserer Welt. Wer heute an Fantasy denkt, denkt zumeist erst an die etablierten Sekundärwelten: Mittelerde vielleicht oder Narnia. Diese secondary worlds sind für das Phantastikgenre, wie es heute ist, genreprägend. Und dabei haben beide offensichtliche Bezüge zu unserer Welt: „Narnia“ ist Portal Fantasy, bei der die Pevensie-Geschwister einen Übergang zwischen unserer realen Welt und der Fantasywelt finden. Und Tolkien schrieb Mittelerde als fiktive Vergangenheit speziell Großbritanniens, bei der die Erde – Arda – irgendwann eine Kugel wird und die Lande der Elfen entrückt werden.

Das Setting eines weiteren Grundsteins des Genres – nämlich das Hyperborea der Conan-Reihe – imaginiert ebenfalls eine Vorzeit unserer Welt, etwas, das viele Sword&Sorcery-Autor*innen seitdem aufgegriffen haben. Die vielleicht im besten Sinn hinterhältigste Verknüpfung des Genres mit unserer irdischen Archäologie findet sich in Samuel L. Delanys „Nimmèrÿa“, in dem Delany den Leser*innen im Nachwort sogar erfundene archäologische Fundstücke und „Fakten“ an die Hand gibt.

Auf den ersten Blick wirkt es also leicht, die primary und secondary worlds sauber voneinander zu trennen, auf den zweiten Blick ist es dann doch etwas vertrackter. Grundsätzlich hilft es, sich bei der Unterscheidung die Frage zu stellen: Ist es eine bekannte Historie und eine bekannte Geografie? Denn Historische Fantasy ist Fantasy ohne Fantasywelt – sie erweckt Götter im Alten Griechenland, bekämpft Seeungeheuer im Viking Age oder bringt Magie in Napoleons Feldzüge.

Aber ist „unsere Welt plus Magie“ dann überhaupt noch unsere Welt – oder eine Sekundärwelt, die der unseren sehr stark ähnelt? Analog zu unserer Feststellung aus dem Historische-Urban-Fantasy-Artikel: „Je weiter etwas zurückliegt, desto mehr Magie liegt in der Luft“ können wir bei der Historischen Fantasy generell feststellen:

Je moderner in der Geschichte, desto eher zweigt die „Timeline“ ab

Das ist grundsätzlich mit dem „magischen Status Quo“ zu erklären, auf den wir uns bereits bezogen haben: Je weiter auch historische Romane zurückgehen, desto mehr Magie ist im historischen Weltenbau legitimiert, ganz, als hätte erst die europäische Aufklärung einen Deckel auf die Magie gesetzt. Somit ändert sich also nichts an unserer Geschichtsschreibung, wenn sich nicht nur Trojaner und Hellenen, sondern auch Poseidon und Athene bekriegen, oder wenn als Hexen angeklagte Frauen tatsächlich das Zweite Gesicht haben. Wenn „Jonathan Strange und Mr. Norrell“ allerdings mit Magie in Napoleons Feldzüge eingreifen, führt das zu einer Welt neben unserer Welt, einer magischen Alternate History. Denn Magie, Götterwirken und Ungeheuer sind Teil weit zurückliegender Geschichtsschreibung, aber keinesfalls der letzten drei Jahrhunderte.

Aber nicht nur die Verquickung von Geschichtsschreibung und mythologischer Erzählung ist einer der Ausgangspunkte für die Historische Fantasy – auch die Hinwendung der Romantik zum Märchenhaften, Rätselhaften und das Bedürfnis, dem sehr eng gesteckten vermeintlich rationalen Rahmen der Aufklärung etwas „Ursprünglich-Magisches“ entgegenzusetzen, stellt eine der Wurzeln der Historischen Fantasy dar. Märchen, die ja zum ersten Mal systematisch in der Romantik gesammelt wurden, bedienen ein ähnliches Bedürfnis: In einer Welt, die der Vergangenheit unserer eigenen Welt ähnelt, aber vereinfachte Staats- und Gesellschaftsformen aufweist, besteht die Hauptfigur dank Elementen, die man heute als „Low Fantasy“ bezeichnen könnte – und durchlebt eine Story mit zeitlos moralischer Botschaft, die sich bei Bedarf tiefenpsychologisch interpretieren lässt.

Magie und Religion

Die europäische Aufklärung stellt außerdem die Zeit dar, in der die Wissenschaft anstelle der Religion das Erklären des Unerklärlichen zu übernehmen begann. Wenn also nun Napoleon, wie in Naomi Noviks „Die Feuerreiter Seiner Majestät“, über ein Drachenregiment verfügt, ist das etwas anderes, als wenn Odysseus auf dem Heimweg Zwischenstopps an magischen Inseln macht und dort einige Ungeheuer erschlägt. Letzteres spielt in einer magischen Welt, Ersteres bringt Magie in unsere neuzeitlich-profane Welt. Die Wasserscheide liegt letztlich zeitlich dort, wo in unserer Vergangenheit Religion entmystifiziert wird.

Denn während Religionen natürlich nach wie vor existieren, und manche Religionen wie das Christentum in vielerlei Hinsicht über ungebrochene kulturelle Dominanz verfügen, sind doch ihre Wunder abhandengekommen. Vor dem Anbruch der Aufklärung in Europa war Religion sehr viel stärker mit – nennen wir es mal – Fantasy verknüpft. Dabei unterscheidet sich das „phantastische Worldbuilding“ von Religion zu Religion, die oft eigene Mythenwesen mitbringen.

Die Menschen anderer Zeiten blickten sicherlich auf andere Weise auf ihren Alltag, ihren Glauben und ihre Lebenswirklichkeit – aber sie hatten sicherlich zudem ein Faible für das Phantastische, das immer ein gutes Stück larger than life ist.

Was gibt die Vergangenheit der Gegenwart mit?

Was interessiert uns an der Historischen Fantasy? Ist es eine Welt, in der das Mythische lebendig wird? Die Verquickung von Geschichte mit Sagenhaftem? Laufen wir Gefahr, wie in der Romantik oder in zahlreichen Märchen, eine „alte Zeit“, ein „Es war einmal“ zu verklären? Versuchen wir, uns auch mittels Fantasy Historischem näher zu fühlen, vergangene Epochen und Menschen zu verstehen? Was geben Geschichte und Mythenwelt unserer Gegenwart?

Wir haben das vergangene Jahr mit einem Historischen Fantasyroman verbracht, der Ende Februar im Piper-Verlag erscheint: „Schildmaid – Das Lied der Skaldin“. Unser Historischer Urbanfantasyroman „Anarchie Déco“ war ein rechercheintensiver Ausflug in die (nähere) Vergangenheit, und es gibt nicht gerade viele Parallelen zwischen dem Berlin der Weimarer Republik und dem Skandinavien des Frühmittelalters, was hat uns also bewogen, uns in die historische Epoche des Vikingzeitalters zu stürzen?

Der erste Funke war das prominente Grab auf Birka, von dem ihr sicherlich gehört habt – es wurde jahrzehntelang aufgrund der Grabfunde als „Kriegergrab“ identifiziert, und erst eine DNS-Analyse im Jahr 2017 ergab, dass die bestattete Person Doppel-X-Chromosomen aufwies. Was bedeutet das für Geschlechterrollen im Vikingzeitalter? Ist es der Beleg dafür, dass wir das Patriarchat als eine Art Instagram-Filter unserer Gegenwart über die Funde dieser Zeit gelegt haben? Egal, in welche Richtung unsere eigenen Recherchen sich entwickeln würden, eins stand fest: Wir wollten ein literarisches Buddy-Movie mit zwanzig Frauen auf einem Langboot schreiben!

Wenn wir in die Vergangenheit blicken, bringen wir unsere eigenen Filter mit – es ist weder möglich noch erstrebenswert, einen Blick aufs Viking Age zu werfen, ohne dabei zu sehen, wie völkische Strömungen und (Neo-)Nazis Wikinger mit ihren Männlichkeitsbildern vereinnahmen – und dass auch die Schildmaid nicht die feministische Powerfantasy ist, als die sie uns zunächst erscheint. Im Roman versuchen wir, gesellschaftlichen Frauen- und Männerbildern auf den Grund zu gehen, uns den Grenzen anzunähern, die sie Menschen im Vikingzeitalter gesetzt haben, die Menschen zu finden, die sich geschichtlich und in Sagas und Mythen über sie hinweggesetzt oder gegen sie gestemmt haben. Aber nicht um dieser Menschen willen – sie sind lange tot oder haben vielleicht nie existiert, sie sind Gestalten aus der frühesten europäischen Romankultur, den Sagas, und aus den mündlichen Traditionen davor. Wir wollen die Figuren durch den Filter unserer eigenen Rollenbilder sehen und fragen: Was können wir von ihnen und den ihnen gesetzten Grenzen über unsere eigenen Limitierungen lernen? Was können wir aus ihren Kämpfen für unsere eigenen feministischen Kämpfe lernen? Und kann das Ganze trotzdem ein wildes Abenteuer voller Seeungeheuer und nordischer Gottheiten sein und mit einem Schildwall zwischen ewigem Eis und der Lava der Feuerriesen enden? Ab dem 24.2. könnt ihr es nachlesen!

Und bei allen Rätseln, die uns die Vergangenheit aufgibt, allen befremdlichen Grabriten, allen unerklärlichen Kulten und Weltbildern – auf dem Weg in die Vergangenheit nordischer Sagas sind wir über überraschende Gemeinsamkeiten gestolpert, die nahelegen, dass sich Menschen nicht grundlegend verändern. Vieles in den Isländersagas liest sich wie aus einem Neunzigerjahre-Actionfilm. (Beispiel gefällig? „Ist Gunnar da?“, wird ein Mann gefragt. Er dreht sich mit einem Speer in der Brust um, sagt: „Keine Ahnung. Aber sein Speer auf jeden Fall“ und stirbt. Oder ein weiteres Beispiel, aufgrund der strong language vielleicht eher 2000er- als 1990er-Actionfilm: „Würdest du dich für diese Axt ficken lassen?“ „Nein, aber es ist fair, dass du mir denselben Preis anbietest, den du bezahlt hast!“)

Und wenn die Held*innen dieser Sagas den Humor mit Bruce Willis teilen, vielleicht teilen sich dann auch die, die diesen Geschichten im Feuerschein gebannt gelauscht haben, mit uns das Bedürfnis nach Phantastischem.

Aktuelle Historische Fantasy – ein paar Lesetipps

Doch in der Erzählkultur unserer Gegenwart ist es nicht ganz einfach mit der programmatischen Einordnung: Historisches mit Fantasyelementen geht je nach Zeitepoche noch als historischer Roman durch. Das ist oft der Fall bei Titeln des Arthuriana-Genres, also der Romane um König Artus, wie beispielsweise bei „Der Winterkönig“ von Bernhard Cornwell oder der „Der Falke des Lichts“-Trilogie von Gillian Bradshaw. „Die Nebel von Avalon“, das mit den Nachfolgebänden eine Art Standardwerk der esoterischen weiblichen Empowermentfantasy seiner Zeit darstellt, ist hingegen in belletristischen Verlagsprogrammen gelandet, ebenso wie Kazuo Ishiguros „Der begrabene Riese“. Auch Madeline Millers auf hellenistischen Mythen und Sagen basierende Romane „Das Lied des Achill“ und „Ich bin Circe“ erhielten ein feuilletontaugliches Framing.

Im Prinzip ist es natürlich für die erzählten Geschichten in der Historischen Fantasy egal, welchem Genre und Subgenre sie zusätzlich zugeordnet werden und in welcher Abteilung eines Verlags sie landen – es ist für die Rezeption allerdings nicht unerheblich, denn Historische Fantasy kann es durch die Verknüpfung mit der realweltlichen Geschichte schaffen, den Schmuddelkind-Ruf zu vermeiden, den die Phantastik so oft mit sich bringt. Sie geht dann als ernsthafte Literatur durch, weil ihr zugestanden wird, sich durch die Linse der historischen Forschung mit der Vergangenheit und ihren Mythen zu beschäftigen.

Wir sollten uns aber vor Augen halten, dass es oft einfach eine marketingtechnische Einordnung und keine Wertung ist, in welchem Programm ein Roman erscheint. Nora Bendzkos „Die Götter müssen sterben“ beispielsweise kann es von der Verquickung aktueller feministischer Diskurse mit Mytheninterpretationen durchaus mit Miller aufnehmen.

Aber verlassen wir die Antike und das Frühmittelalter, in dem die Verflechtung von Geschichte, Religion und Mythischem auf der Hand liegt, und wenden uns neueren Epochen zu – denn in der Wahrnehmung liegen diese Stoffe noch deutlich hinter der Antiken-Fantasy und der Arthuriana:

In einem Paris, in dem die französische Revolution gescheitert ist, bringt Kester Grant in „Der Hof der Wunder“ und die gleichnamige Diebesgilde, über die schon Victor Hugo geschrieben hat, mit Motiven aus „Les Misérables“ zusammen.

In V.E. Schwabs „Das unsichtbare Leben der Addie LaRue“ folgen wir einem französischen Bauernmädchen durch die letzten drei Jahrhundert. Sie ist einen Teufelspakt eingegangen und wird von allen Menschen, die sie trifft, sofort wieder vergessen.

In „Hexagon – Der Pakt der Sechs“ interpretiert Henning Mützlitz historische Ereignisse um Kardinal Richelieu – ein wenig später als die Handlung von „Die drei Musketiere“ – geschickt um, sodass sich dämonische Taten im Gewand tatsächlicher historischer Tatsachen verbergen.

Katherine Ardens „Winternacht“-Trilogie („Der Bär und die Nachtigall“ und die Folgebände) spielt im Milieu des russischen Adeld und greift slawische Märchenelemente auf.

Auch die Paranormal Romance hat Überschneidungen zur Historischen Fantasy wie Kerri Maniscalcos „Kingdom of the Wicked“, das im Sizilien des 19. Jahrhunderts spielt, Renée Ahdiehs „The Beautiful“ mit dem historischen New Orleans als Schauplatz oder in der „Glamourist Histories“-Reihe von Alternate-History-Expertin Mary Robinette Kowal.

Wie alle Genres ist auch dieses Genre schwer abzugrenzen, besonders, wenn wir in die jüngere Vergangenheit kommen. Kowal etwa lässt in „Ghosttalkers“ ein Spirit Corps in den Ersten Weltkrieg ziehen. Die Grenzen zur Urban Fantasy werden in unserer urbaneren Welt schwammiger, gleichzeitig machen der Historischen Fantasy gerade in der Übergangszeit zum 20. Jahrhundert die Gothic Novel, der Steampunk und die Victoriana „Konkurrenz“ – wenn man das denn so sagen kann, denn ein Buch kann natürlich mehreren Genres zugeordnet werden. Der Historischen Fantasy liegt im Gegensatz zur Gothic Novel oft eine Beschäftigung mit historischen Ereignissen und politischen Wendepunkten inne. Aber auch hier gilt wie bei allen Genres: Es sind künstliche Kategorien, die uns dabei helfen, unsere eigenen Bedürfnisse nach bestimmten Geschichten wachzukitzeln und zu benennen.