Fantasy

Phantastische Kurzgeschichten: Fünf Erzählbände mit Fantasy- und SF-Kurzgeschichten

Phantastische Kurzgeschichten: Fünf Erzählbände mit Fantasy- und SF-Kurzgeschichten

Björn Bischoff, 25.03.2019

Die Kurzgeschichte ermöglicht Hochgenuss in verdichteter Form. Hierzulande wird sie sträflich vernachlässigt – völlig zu unrecht, findet Björn Bischoff und empfiehlt fünf gelungene Phantastik-Erzählbände.

Manchmal überzeugen die kleinen Dinge, die kurzen Geschichten, die unheimlichen Begegnungen der schnellen Art. Dabei gehören Kurzgeschichten nicht gerade zu den liebsten Publikationen bei deutschen Verlagen. Weshalb auch? Hierzulande haben vor allem Roman und Drama eine lange Tradition. Während in den Vereinigten Staaten mehrere Magazine phantastische Kurzgeschichten einfordern und die Sammlungen von Autoren wie Joe Hill, Neil Gaiman und Karen Russel zur Backlist großer Verlage gehören, gibt es in Deutschland kaum veröffentlichte Übersetzungen. Und die Bände deutschsprachiger Autoren finden sich selten bei den Besprechungen oder auf den Bestsellerlisten. An der Qualität kann es nicht liegen, dafür bietet die Form viel zu viele Eigenheiten und Freiheiten. Und ab und zu schafft es ja doch ein Erzählband, einen Verlag zu überzeugen, so dass eine Veröffentlichung folgt. Ein kurzer Einblick in kurzes Phantastisches – meine persönliche Auswahl der besten Sammlungen aus den letzten Jahren.

Steven Millhauser – Stimmen in der Nacht (2018)

Es gibt diesen Moment zwischen Tag und Nacht, wenn sich die Dämmerung am Himmel abzeichnet und die Welt in neuen Farben erscheint. Genau aus diesem Zwischenraum muss Steven Millhauser die Inspiration für seine Geschichten ziehen. Der 75-Jährige gehört zu den begnadetsten Autoren der kurzen Form – weswegen ihn hierzulande bisher auch kaum jemand kennt. Im letzten Jahr erschien mit »Stimmen in der Nacht« seine aktuelle Sammlung an Geschichten. Immerhin: Zur Erscheinung des Bands gab es beim Deutschlandfunk eine freundliche Besprechung. Ansonsten? Nichts. Dabei vermögen es wenige Autoren der Gegenwart, solche Sätze wie Millhauser zu schreiben, voller Atmosphäre und Anspannung: »Der Knabe Samuel erwacht in der Dunkelheit. Irgendetwas stimmt nicht.« Und nach ein paar Seiten wissen wir: Es stimmt etwas ganz gewaltig nicht. Wie Ray Bradbury oder Stephen King reflektiert Millhauser in seinen Kurzgeschichten stets die amerikanische Gesellschaft, jene kleinen Vororte, deren Straßen uns ebenfalls geläufig sind, die wir unter unseren Füßen zu spüren meinen – durch all die amerikanischen Serien und Filme, die wir als Kinder sahen. In der »Wunderpolitur« liegt das Phantastische unter der Oberfläche und bebt doch in jedem Wort, das »Meerjungfrauenfieber« spielt mit der Gier des Menschen nach Wunderlichem. Märchenhaftes, Sagen und Moderne vermischen sich bei ihm zu seiner eigenen Sprache, einer eigenen Welt. »Die Phantome unserer Stadt tauchen nicht, wie einige denken, nur nachts auf. Einmal begegneten wir ihnen am helllichten Tag, als die Schatten scharf auf unseren Rasen und Straßen lagen«, schreibt Millhauser in einer Geschichte. Die Begegnungen sind kurz, doch ihr Eindruck bleibt. Millhausers Phantome finden sich in diesem Band in ihrer eindringlichsten Form.

Die Kurzgeschichte »A Voice In The Night« gibt es beim New Yorker im Original zu lesen.

Samanta Schweblin – Die Wahrheit über die Zukunft (2010)

Als ob sich Franz Kafka, David Lynch und Julio Cortázar in einem Café in Buenos Aires einen Fiebertraum ausgedacht hätten. Samanta Schweblins Geschichten wecken Erinnerungen an all jene Autoren, die sich dem Unbewussten hingegeben haben, die unter der Oberfläche das Unerklärliche aufdeckten – dabei allerdings nie komplett am Surrealismus hängenblieben. Denn nur im Kontrast zwischen Alltäglichem und Außergewöhnlichem lässt sich jener Riss finden, aus dem Schweblin ihre Inspiration zieht. 14 Geschichten finden sich in »Die Wahrheit über die Zukunft«, alle nur wenige Seiten lang, aber darum nicht minder intensiv und verstörend. Die 41-jährige argentinische Autorin gehört zu jenen Schreibern, die mit bewusst gewählter Lakonie und Knappheit arbeiten. Alle Sätze dünnt sie bis auf ihre Essenz aus. In »Letzte Runde« verfliegt etwa ein Leben innerhalb von nicht einmal drei Seiten, ein Karussell schluckt ganze Jahre. Dabei sind es nicht diese offensichtlichen phantastischen Elemente, sondern vor allem jene Geschichten, die damit behutsamer umgehen, die absurder, merkwürdiger werden. Manchmal lässt sich nicht einmal genau benennen, was in der Geschichte gerade nicht stimmt. Das Unsagbare liegt dann hinter dem Text, bleibt verborgen, sein Geist streicht aber trotzdem durch die Sätze. Oftmals ist es das Unwahrscheinliche, das Assoziative, das Schweblins Geschichten bestimmt. Und dann wäre da noch jener Text von dem Mädchen, das Vögel frisst. Roh und lebendig. Guten Hunger bei dieser Kurzgeschichtensammlung.

John Ajvide Lindqvist – Im Verborgenen (2010)

Freunde der modernen Horrorliteratur dürfen aufhorchen, denn John Ajvide Lindqvist hat vor einiger Zeit eine Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht. Erschienen vor neun Jahren, erhielt der Band allerdings eher weniger Aufmerksamkeit. Was auch daran lag, dass sich kaum jemand für den schwedischen Autor in Deutschland interessierte. Die Verfilmung von »So finster die Nacht« kam zwar beim Publikum gut an, jedoch blieb es eben ein Publikum mit einem speziellen Interesse (anspruchsvoller Horror) und einer speziellen Größe (eher klein). Trotzdem lohnt sich der Blick auf die Erzählungen: Eine Geschichte stellt einen thematischen Epilog zu eben jenem berühmten und verfilmten Roman des schwedischen Autors dar; eine gestrichene Szene von »So ruhet in Frieden« findet sich hier ebenfalls als eigenständige Geschichte wieder. An anderer Stelle erwachen Hochhäuser zum Leben, Tentakel greifen um sich. Der Vergleich ist müßig, aber: Stephen King hätte es nicht besser hinbekommen. Denn der 50-jährige Autor arbeitet mit genau ausgearbeiteten Charakteren, jede Figur weckt innerhalb kurzer Zeit Empathie. Daneben beherrscht Lindqvist alle Grundlagen des Horrors: Atmosphäre, Schrecken, Angst. Kaum jemand schafft es, diese Dinge so perfekt zu verdichten wie Lindqvist. Wer sich überzeugen lassen mag, kann zu jedem seiner Romane greifen – oder hier eine ganze Breite an Themen bekommen.

Kij Johnson – Pinselstriche auf glattem Reispapier (2014)

Selten passt ein Titel so perfekt wie bei Kij Johnsons Kurzgeschichtensammlung. Die 58-jährige US-Autorin schreibt wunderbare und leichte Sätze, ihre Geschichten stecken mit Ruhe und Atmosphäre die phantastischen Elemente ab. Wer mag, darf sich davon an das japanische Anime-Studio Ghibli erinnert fühlen. Die große Rätselhaftigkeit steckt in »Pinselstriche auf glattem Reispapier« in den Begebenheiten und dieser unaufgeregten Art, mit der Johnson erzählen kann. Da wäre etwa die Geschichte über die Brücke über den Nebel. Kit kommt nach Diesseits, dort soll jene Brücke entstehen, die den Ort mit Jenseits verbindet. Beide Orte trennt ein Fluss aus Nebel, den Fährschiffer bislang überquerten. Kit soll beim Bau der Brücke helfen. Innerhalb weniger Seiten erschafft Johnson eine phantastische Welt, die wundersam und poetisch anmutet. Für diese Geschichte erhielt sie vor einigen Jahren sowohl den Hugo Award als auch den Nebula Award als beste Novelle. Doch nicht nur die längste Geschichte überzeugt in dieser Sammlung. Natur und Tiere tauchen immer wieder als starke Motive bei Johnson auf – etwa in »An der Mündung des Bienenflusses«, einer Kurzgeschichte, die eben genau davon handelt: dem Bienenfluss. An anderer Stelle bieten 26 Affen ein Mysterium, denn bei einer Show verschwinden sie in einer Badewanne, um am Ende wieder bei Aimee im Wohnwagen aufzutauchen. Der Trick? Bleibt undurchschaubar. Wie jede dieser acht Geschichten. Eine besondere Sammlung an feinen Ideen.

Die Geschichte »Die Brücke über den Nebel« kann man hier online lesen.

Christiane Neudecker – Das siamesische Klavier (2012)

An dieser Stelle muss ein Missverständnis enden. Beim Erscheinen ihrer Kurzgeschichtensammlung »Das siamesische Klavier« lobte der eine oder andere Feuilleton-Redakteur den schmalen Band als eine Neuerfindung des Genres. Das war er nicht. Und ist es bis heute nicht. Überhaupt: Braucht die dunkle Kurzgeschichte überhaupt eine Neuerfindung? Vielleicht für deutschsprachige Autoren – aber selbst dann: Steile These. Mit dem Untertitel »Unheimliche Geschichten« ausgestattet, lieferte die heute 44-jährige Autorin aus Erlangen sieben beeindruckende Kurzformen ab. Jeder Text bewegt sich zwischen Leben und Sterben, überall hallen das Unheimliche und die Vergänglichkeit nach. Oftmals erinnern die Geschichten an die dunkle Romantik. Dabei arbeitet Christiane Neudecker mit einer geschliffenen Sprache, die sich jeder Opulenz, jedem Pathos verweigert. In »Ein Geräusch, so hässlich, so ein hässliches Geräusch« verdichtet sich ihr Können, ihre Prägnanz in den Sätzen auf eine der eindringlichsten Geschichten der letzten Jahre. Ein MMA-Kämpfer gerät im Ring in einen Albtraum aus Halluzination, Wahn und Abscheulichkeit. Hier kämpft jemand mit der Vergänglichkeit, mit dem Tod selbst, allerdings lässt Neudecker diese Geschichte nie zur bloßen Allegorie werden. Die Brutalität und Gewalt arten nicht zum Selbstzweck aus, hier schreibt jemand genau an seiner Idee entlang, weiß, wie sie diesen Text mit Atmosphäre auflädt. Der Kontext mag für »Das siamesische Klavier« nicht stimmen, es ist keine Neuerfindung, keine Wiederbelebung. Vielmehr gehört dieses Buch zu den Werken, die viel zu wenig Aufmerksamkeit für ihre Großartigkeit bekommen haben.

Hier gibt es eine kurze Lesung aus dem Band von der Autorin selbst als Video: 

Björn Bischoff

Björn Bischoff, geboren 1987, studierte Literatur und Buchwissenschaft, liebt Horror und Comics, lebt in Erlangen, schmeißt mit Buchstaben um sich für seinen Blog Tentakelbuch und verschiedene Medien wie Alfonz, Tagesspiegel, Nürnberger Nachrichten, Plattentests, phantastisch! und vielen anderen.