Science Fiction

Cyberpunk lebt: Fünf aktuelle Romane

Cyberpunk lebt: Fünf aktuelle Romane

BUCH

 

Judith Madera, 12.02.2020

Stylish, ätzend, cool, aber seit der Erfindung von Social Media und mobilem Internet irgendwie aus der Zeit gefallen: Als Genre hat der Cyberpunk in den letzten Jahren nicht viel zu melden gehabt. Aber guess what? Cyberpunx not dead. Fünf Buchtipps von Judith Madera.

Seit seiner Entstehungs- und Boomzeit in den 1980ern wurde Cyberpunk regelmäßig für tot erklärt, da die Realität die dreckigen Dystopien einholte. Klassische Elemente diffundierten in andere SF-Genres, wurden durch Kinofilme und Videospiele zunehmend zum Mainstream. Einstige Genregrößen wie William Gibson wechselten zu Tech-Thrillern und das Internet der Jahrtausendwende war noch weit entfernt von der schillernden Matrix aus Neuromancer.

Inzwischen steigt das Interesse am Cyberpunk mit all seinem Schmutz und Neonglanz wieder. Dank moderner CGI-Technik sehen Filme wie Blade Runner 2049 und die Realverfilmung des Animemeisterwerks Ghost in the Shell beklemmend realistisch aus. Die Serienadaption von Altered Carbon bescherte den Zuschauern schlaflose Nächte und das heiß ersehnte Open-World-Rollenspiel Cyberpunk 2077 lässt die Spieler tief in den hochtechnisierten, düsteren Großstadtdschungel eintauchen.

Auch SF-Autor*innen schreiben wieder vermehrt Cyberpunk und spinnen aktuelle gesellschaftliche und technologische Entwicklungen weiter. Mit der realen Entwicklung Künstlicher Intelligenz und der zunehmenden sozialen Spaltung sind klassische Cyberpunkthemen aktuell wie nie. Die heutigen Romane sind dabei teils weniger düster, überschneiden sich beispielsweise mit Solarpunk, und entwickeln ihre Zukunftsvisionen unter Einbeziehung heutiger Technologien. In diesem Artikel will ich euch fünf ganz unterschiedliche Cyberpunkvisionen aus den letzten Jahren vorstellen:

Mars Override von Richard Morgan

Der Autor von Altered Carbon ist zurück in der SF: In Mars Override schickt Richard Morgan mit Hakan Veil erneut einen derben Protagonisten ins Rennen, der als genetisch und technisch modifizierter Supersoldat auf dem Mars quasi entsorgt wurde. Der Rote Planet befindet sich mitten im Prozess des Terraformings, doch unter der künstlichen Atmosphäre ist die technische Utopie längst zu einem korrupten Moloch verkommen. Veil schlägt sich dabei mehr schlecht als recht durch, sein Deal mit den Triaden scheint geplatzt und die Chance, zur Erde zurückzukommen, minimal. Gezwungenermaßen hilft er der Polizei und spielt den Babysitter für eine Agentin, die im Fall eines verschwundenen Lotterie-Gewinners ermittelt.

Bei Richard Morgan ist der Mars eine hochtechnisierte, schrille und verdammt dreckige Cyberpunkwelt. Das Erzähltempo ist hoch, Veils Aktionen teils schockierend brutal und blutig. Trotzdem mag man diesen zynischen Kerl, der innerhalb des finsteren Settings authentisch ist und sich einen letzten Funken Moral und Anstand bewahrt hat. Stilistisch spielt Mars Override in der gleichen Liga wie Neuromancer und steckt voller Marstech-Porn, derben Flüchen und unerwarteter Poesie. Richard Morgan schreibt fordernd und kontrastreich und seine Metaphorik geht unter die Haut.

Neon Birds von Marie Graßhoff

„Supersoldaten kämpfen gegen Cyborg-Zombies“ war die Prämisse von Marie Graßhoffs Neon Birds, das als spannender Mix aus Cyber- und Solarpunk seine Leser*innen begeistert. Ein technisches Virus verwandelt Menschen in emotionslose, mörderische Cyborgs, genannt Mojas. Sie werden von der Künstlichen Intelligenz KAMI gelenkt, die die Menschheit optimieren und sie dabei ihrer Menschlichkeit berauben will.  Viele Großstädte sind bereits Sperrzonen, umgeben von gigantischen Mauern, die die Moja einsperren sollen. Als sich eines Tages die Tore der Sperrzone Nordchina öffnen, werden die Protagonisten in einen Krieg Mensch gegen Technologie gezwungen, bei dem sich bald die Frage stellt, wer eigentlich der Feind ist.

Neon Birds ist der Auftakt einer Trilogie, in der die Menschheit nach einem langwierigen Kalten Krieg im 21. Jahrhundert scheinbar aus ihren Fehlern gelernt hat. Städte wie Ulan Bator sind grüne Oasen, es gibt ein bedingungsloses Grundeinkommen und jeder scheint die gleichen Chancen im Leben zu haben. Die Utopie bekommt jedoch schnell Risse und die Protagonisten die Schattenseiten der schönen neuen Welt zu spüren. Neon Birds erinnert mit seinen mystischen Elementen an japanische Cyberpunkanimes, was auch anhand der Charakterillustrationen von Mona Finden sichtbar wird. Zwar bietet der Trilogieauftakt bereits reichlich Action, konzentriert sich jedoch stark auf die Einführung der Figuren und lässt viele Fragen für den zweiten Band Cyber Trips offen. Marie Graßhoffs Stil ist schlichter und weniger derb als der Richard Morgans und eignet sich damit auch für Genreeinsteiger.

Alter Ego von Mike Krzywik-Groß

Shadowrun ist zurück! Nach mehreren Jahren Pause erscheinen bei Pegasus Spiele wieder neue Romane aus dem Universum des Cyberpunk-Dauerbrenners – auch aus deutschen Tastaturen. Alter Ego von Mike Krzywik-Groß ist einer der hochspannenden Leckerbissen der SF/Fantasy-Serie, insbesondere durch das deutsche Setting im Berlin des Jahres 2076. Im Großstadtmoloch regieren skrupellose Konzerne und kriminelle Banden und Detektiv Paule Dante hat längst die Schnauze voll. Er ist ein typischer Antiheld des Genres: magisch ausgebrannt, mit sich selbst im Unreinen, mehr Feinde als Freunde. In der Hoffnung auf schnell verdientes Geld zieht er einen fragwürdigen Auftrag an Land und versinkt damit tiefer im Dreck als je zuvor.

Man muss kein Rollenspieler sein und auch keine anderen Shadowrun-Romane gelesen haben, um in der actiongeladenen Story zu versinken. Im Cyberpunk wird ohne hin wenig bis gar nichts erklärt. Der Leser wird in die düstere Welt hineingeworfen und findet sich intuitiv in ihr zurecht, sofern das Genre nicht komplett neu ist und man sich an ein paar Fantasyelementen nicht stört. Trotz Magie ist Shadowrun Cyberpunk pur und mit deutschem Setting für deutschsprachige Leser besonders interessant und beklemmend.

Autonom von Annalee Newitz

Die Zukunft in Autonom ist nicht gänzlich düster, denn neue Technologien schonen die Umwelt und bescheren den Menschen ein längeres und glücklicheres Leben. Zumindest denen, die es sich leisten können. Wer arm ist oder ein Bot muss sein Dasein als Kontraktarbeiter (Arbeitssklave) fristen, mit der vagen Hoffnung auf Autonomie. Entsprechend sind Arbeitsdrogen wie Zacuity heißbegehrt. Patentpiratin Jack kopiert die Droge, um sie jedem zugänglich zu machen. Leider hat das Präparat fatale Nebenwirkungen: Die Menschen arbeiten sich auf Zacuity sprichwörtlich zu Tode. Während Jack versucht, die Dinge in Ordnung zu bringen, wird sie von Militärbot Paladin und Agent Eliasz gejagt, die nach und nach ihre Verbindungen in den Untergrund aufdecken.

Autonom begeistert insbesondere mit der Entwicklung der KI Paladin, die durch die Zusammenarbeit mit Eliasz beginnt, über sich selbst, ihre Umgebung und ihre Identität nachzudenken. Jack dagegen ist eine taffe, wahnsinnig sympathische Protagonistin, eine edle Piratin, die Drogen kopiert, um die Welt ein bisschen gerechter zu machen. Klingt paradox und zeigt eindrucksvoll, wie kaputt die Gesellschaft der Zukunft ist, auch wenn die Welt grüner und friedlicher erscheint als in den meisten anderen Cyberpunkromanen. Der Schreibstil von Annalee Newitz ist klug und subtil, teils auch humorvoll, aber nicht immer leicht zugänglich. Man merkt, dass sie aus der Wissenschaft kommt, die Biotechnologie im Roman ist absolut authentisch beschrieben, dafür mangelt es ein wenig an Tempo und Drive.

Songs of Revolution von Emma Trevayne

Als vor ein paar Jahren Jugenddystopien den Markt überschwemmten, bedienten sich viele davon diverser Cyberpunkelemente, dennoch würde man keine davon als Genrebeispiel nennen. Eine Ausnahme ist Songs of Revolution von Emma Trevayne (passender ist der Originaltitel Coda) – ein neonschillerndes Jugendbuch, in dem codierte Musik als staatliche verordnete Droge eingesetzt wird. Protagonist Anthem ist, wie alle in seiner Welt, süchtig nach codierten Streams. Doch er hat ein Geheimnis: Zusammen mit seiner Band macht er echte, verbotene Musik und wird so, ohne es zu wollen, zum Mittelpunkt einer jugendlichen Revolution gegen das System.

Songs of Revolution punktet unter anderem mit der Diversität der Figuren. Dass Anthem bi- und sein bester Freund homosexuell ist, erscheint dem Leser ganz selbstverständlich. Das urbane Setting steckt voller Cyberpunkelemente, wie den zerstörerischen Streams, dem krassen Kontrast zwischen Armut und Reichtum, futuristischem Körperschmuck und Technologien wie Memory Chips, auf denen die Erinnerungen Verstorbener gespeichert sind. Natürlich ist Songs of Revolution als Jugendbuch zahmer als ein typischer Cyberpunkroman, fühlt sich aber mit seinem Wechselspiel aus Düsternis und Neonfunkeln absolut danach an.

Judith Madera

Judith Madera ist Literatopia-Chefredakteurin und Herausgeberin des Online-Fanzines PHANTAST. Seit 2019 schreibt sie gelegentlich für TOR online über Science Fiction, Anime und Manga. Mehr unter www.literatopia.de