Science Fiction

Vom utopischen Erzählen

Vom utopischen Erzählen  - Coverausschnitt. Farbige Linien, die über- und untereinander verlaufen

Ilija Trojanow, 18.10.2023

Wo sind die utopischen Romane hin, hat sich Ilija Trojanow gefragt und prompt selbst einen geschrieben. Warum utopisches Denken und Erzählen so wichtig ist, erklärt er uns in diesem Essay.

Das gegenwärtige System weltweiter kapitalistischer Durchherrschung lässt keine Alternative zu, um seine eigene Alternativlosigkeit zu propagieren – ein Perpetuum Mobile der Ideologie. Umso wichtiger ist es, Alternativen in Erinnerung zu rufen, utopische Erzählungen zu formulieren. Utopien sind bekanntlich Lebensformen, die es nirgendwo gibt, die es aber entweder geben sollte oder die es geben wird, je nachdem, wie zuversichtlich wir sind.

Das Utopische speist sich seit je aus schon Existierendem. Das kennen wir aus der Fantasy-Literatur, aus der Science-Fiction-Literatur, es gibt selten oder vielleicht überhaupt keine Entwürfe, die nicht teilweise aus schon Erlebtem, aus anthropologischen Konstanten, aus sozialen Erfahrungen, aus individuellen Geschichten weiterwachsen. Etwas völlig Neues zu erfinden, ist dem Menschen kaum möglich. Wir müssen entdecken, was es schon gegeben hat. Dafür gibt es viele Beispiele, wie z.B. jene, die Rebecca Solnit (2020) aufgeschrieben hat, in dem Buch A Paradise built in Hell.

Neulich habe ich einen spannenden wissenschaftlichen Artikel über Panik eher zufällig entdeckt: Panic: Myth or Reality?, geschrieben von Lee Clarke (2002). Faszinierend, weil offensichtlich das, was wir aus unseren populären Narrativen kennen – vor allem aus Hollywoodfilmen –, dass nämlich die Darstellung des Menschen, des entfesselten Menschen, der um sein Überleben kämpft, zu einer egomanen Wutmaschine wird, die um sich schlägt, die jegliche Form von Gemeinschaftlichkeit negiert, mit den Realitäten wenig zu tun hat. Panik ist ein eher seltenes Vorkommnis. Und doch basiert ein Großteil der theoretischen Notwendigkeit von repressivem Zwang auf derartigen hysterischen Erzählungen.

Positive Beispiele

Utopien speisen sich aus positiven Beispielen. Beispiele, die ich zum Beispiel selber recherchiert habe und deswegen von ihrer Lebendigkeit und Beseeltheit berichten kann. Etwa die selbstverwalteten Fabriken in Buenos Aires, die Reaktionen der Menschen in Karachi nach einem Brand in einer Textilfabrik von Ali Enterprises, die Formen des solidarischen Miteinander in Dörfern in Simbabwe. Vor dreißig Jahren traf ich einen alten Mann, der sich noch an das Leben erinnerte, bevor die Weißen kamen, und er sagte einen Satz, den ich nicht vergessen kann: »Wir sind aufgewachsen mit der Haltung, was nützt es dir, wenn du als einziger im Dorf einen vollen Magen hast.« Das war alles. Wie kann es sein, dass wir in einer Welt leben, in der es als normal und nicht als pathologisch gilt, dass einige Hundert Leute die Hälfte des Weltvermögens ihr Eigentum nennen. Diesem alten Mann, der inzwischen bestimmt nicht mehr am Leben ist, würde das als schierer Wahnsinn vorkommen, denn es gibt keinen Nutzen; keinen geistigen, keinen seelischen, keinen materiellen Nutzen, dass nur einer im Dorf einen vollen Magen hat.

Diese Aussage korrespondiert mit einem schönen Satz aus einem alten utopischen Roman: »Wenn wir erfahren würden, dass ein einziger Mensch irgendwo auf Erden hungert, würden wir uns alle als schuldig betrachten, würden wir uns alle aufgefordert fühlen, diesen Missstand zu beseitigen.« Ich bin überzeugt, dass diese Haltung in uns allen schlummert. Es wird allerdings ein enormer Aufwand betrieben, uns zu verrohen gegen eine selbstverständliche Haltung der universellen Empathie.

H.G. Wells, der Autor dieses Satzes, stellte darüber hinaus vor mehr als hundert Jahren einen Zusammenhang her zwischen Krankheit, also Epidemie, und Fleischindustrie. »Wir können den Gedanken an Schlachthöfe nicht mehr ertragen, wir haben die hygienische Frage des Fleischessens nie klären können. Ich erinnere mich, wie ich als Junge über die Schließung des letzten Schlachthauses gejubelt habe.«

Mit solchen Fragen habe ich mich in den letzten fünf Jahren beschäftigt, beim Schreiben eines utopischen Romans: „Tausend und ein Morgen“. Zunächst habe ich mir die vielen existierenden utopischen Entwürfe angeschaut. Ich musste feststellen, dass der utopische Roman als Subgenre so gut wie ausgestorben ist. Es gibt Zeiten, in denen es einen Boom gab, aber seit den 70er Jahren gibt es kaum utopische Romane mehr – die wenigen in der Science-Fiction-Literatur. Ansonsten herrscht eine Dominanz dystopischer Visionen vor. Jedes Verlagsprogramm hat im Moment pro Saison mindestens einen dystopischen Roman. Ähnlich im Film natürlich und im öffentlichen Diskurs. Wir sollten uns überlegen, woran das liegt. Es gibt es einen einflussreichen Zeitgeist, aber auch literaturimmanente Gründe. Einerseits gibt es literarisch betrachtet wenige gelungene utopische Romane, andererseits enthalten viele gelungene Romane utopische Momente. Das war der entscheidende Ausgangspunkt.

Visionen dessen, wie Gesellschaft, individuelles Leben, Beziehungen anders gestaltet sein könnten, gehören zu den Kernmomenten großer Literatur. Aber offensichtlich scheitert das Sich-Radikal-Entfernen von der uns bekannten Welt und das Ausmalen einer in jeder Hinsicht anderen Welt immer wieder.Es gibt mehrere Gründe hierfür. Zum einen muss das Unbekannte anders ausgemalt, ausdifferenziert, durchbuchstabiert werden muss als das Bekannte. Beim Bekannten können wir andeuten, wir können Lücken lassen, weil die Leserin das Gelesene mit der eigenen Welterfahrung verbinden, verknüpfen und ausfüllen kann.

Bei der utopischen Literatur gibt es die Gefahr einer Soziologie des Fantastischen, das heißt, man muss jeden Aspekt detailliert vorgeben, und das führt unweigerlich zu einer Art Didaktik. Die Beziehung zwischen Autor und Leser verändert sich dadurch. Die Autorin wissen als einzige von dieser Welt, die Leserin sind in eine Position der Akzeptanz gezwungen. Ein hierarchisches Verhältnis, wie zwischen Priester und Laie.

Das utopische Denken ist für mich relevant, weil es ins Offene hinausgeht. Man befreit sich von der Zumutung der realexistierenden Verhältnisse, indem man beginnt zu denken, was alles anders sein könnte. Und dieses Was-Könnte-Alles-Anders-Sein lebt von der Vielfalt, von der Vielfalt der Visionen und Alternativen. Wenn man sich im utopischen Roman für eine dieser Alternativen entscheidet, dann zerstört man den ästhetischen und emotionalen Impetus des utopischen Denkens, die Vielfalt und Offenheit, auch das Verspielte, und Kreative. Erst im utopischen Denken entwickelt sich das noch nicht verwirklichte Mögliche durch einen Prozess des Probierens, des Aussprechens, des Diskutierens.

Auf all das habe ich mich in „Tausend und einen Morgen“ mit viel Lust am Erzählen eingelassen.

Foto von Ilija Trojanow, der an einem Tisch sitzt, vor sich ein aufgeschlagenes Buch.
© Thomas Dorn

Ilija Trojanow

Ilija Trojanow, geboren 1965 in Sofia, floh mit seiner Familie 1971 über Jugoslawien und Italien nach Deutschland, wo sie politisches Asyl erhielt. 1972 zog die Familie weiter nach Kenia. Unterbrochen von einem vierjährigen Deutschlandaufenthalt lebte Ilija Trojanow bis 1984 in Nairobi. Danach folgte ein Aufenthalt in Paris. Von 1984 bis 1989 studierte Trojanow Rechtswissenschaften und Ethnologie in München. Dort gründete er den Kyrill & Method Verlag und den Marino Verlag. 1998 zog Trojanow nach Mumbai, 2003 nach Kapstadt, heute lebt er, wenn er nicht reist, in Wien.
Seine bekannten Romane wie z.B. ›Der Weltensammler‹ und ›Macht und Widerstand‹ sowie seine Reisereportagen wie ›An den inneren Ufern Indiens‹ sind gefeierte Bestseller und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschienen bei S. Fischer der literarisch-politische Essay ›Nach der Flucht‹ und der Roman ›Doppelte Spur‹.

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