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Die Auserzählten - Progressive Phantastik und das Auserwählten-Trope

Die Auserzählten - Teaser
© Piper

Christian Vogt, 14.04.2023

Freut ihr euch noch, wenn es in Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten um Auswerwählte geht, die die Welt retten müssen? Christian Vogt ist der Frage nachgegangen, deckt die Mechanismen dieses Tropes auf und erklärt, wie es anders gemacht werden kann.

Kaum ein Trope hat die Phantastik so sehr geprägt wie das von Auserwählten, die dazu bestimmt sind, das Schicksal ihrer jeweiligen Welt nachhaltig zu verändern. Nur eine Held*in kann sich dem dunklen Herrscher entgegenstellen, den Ring tragen, die Macht nutzen. Nach kurzer Weigerung gilt es, eine Reihe von Gefahren zu überstehen, um schließlich das vorherbestimmte Schicksal zu erfüllen. Damit ist das Trope untrennbar verknüpft mit der Heldenreise, wobei sich vor allem in magischen Fantasywelten (und seltener in der Science-Fiction) die Auserwählten tummeln.

Ein Klassiker

Diese Berufung zum*r Auserwählten ist oft in die Wiege gelegt, etwa von einer Gottheit oder – vielleicht etwas unmotiviert – vom Universum selbst, dazu gern angekündigt von einer Prophezeiung. Eine passende Ahnenlinie (deren Glorie von den häufig verwaisten Auserwählten erst noch entdeckt werden muss), berühmte magisch-potente Eltern oder eine genetische Bevorteilung bei der Midichlorianerausstattung begünstigen ungemein, den schicksalsbehafteten Job zu erhalten. 

Die eigene Macht übersteigt dabei die Grenzen, die anderen Menschen im selben Erzählkosmos gesetzt sind, um ein Vielfaches. Sie wird dabei nur dadurch im Zaum gehalten, dass man das eigene Schicksal noch nicht ganz akzeptiert hat.

So weit, so althergebracht – unter Umständen sogar abgedroschen, und nicht zuletzt ein Grund für die Ablehnung von Fantasy in der Literatur, wenn davon ausgegangen wird. Das verstaubte Trope bringt aber noch weitere Probleme mit sich: Die Eigenheiten einer literarischen Figur sowie ihre Agenda können völlig im Rauschen ihrer Bestimmung untergehen, die Spannung einer Geschichte kann unter dem Auserwählt-Sein leiden, denn wer soll den Bösewicht schon besiegen, wenn nicht der*die Auserwählte? Zudem zeichnet das Trope oft ein simplifiziertes Schwarzweißbild von Gut gegen Böse.

Trotz des angestaubten Images ist das Trope bei Schaffenden wie Rezipierenden aber alles andere als unbeliebt. Alle paar Jahre landet dieser Evergreen einen Bestseller.

Progressiv auserwählt

Wollen wir uns ein paar Möglichkeiten ansehen, wie man den Trope-Klassiker ein bisschen aufpeppen kann? In den letzten Jahren hat sich die Strömung der Progressiven Phantastik daran gemacht, die Art neu zu denken, wie wir Geschichten im Genre erzählen. Ursprünglich war der Auserwählte ein Einzelkämpfer, männlich, weiß und ohne Behinderung. Zumindest diese enge Stellenausschreibung wird literarisch schon seit längerem aufgebrochen. Das allein verpasst dem Thema aber noch keine Frischzellenkur. Progressive Phantastik will nicht nur Figuren, sondern auch Erzählformen hinterfragen. Wie kann das in diesem Fall geschehen?

Wer wird auserwählt? Von wem? Wie? Und warum? Welche Erwartungen entstehen dadurch an die Geschichte und wie können sie genutzt werden, um etwas Neues zu erzählen? Wenn diese Fragen auf interessante und befriedigende Art und Weise beantwortet werden können, kann auch die Auserwähltenstory progressiv sein.

Betrachten wir den Fall Auserwählt aufgrund der eigenen Vorfahren. Chancen werden bereits in der realen Welt sehr stark durch das Elternhaus geprägt. Brauchen wir wirklich einen Auserwählten-Adel, der auch noch unsere Geschichten beherrscht? Vielleicht fühlt es sich deswegen so hohl an, dass Rey in Star Wars Episode IX noch eine wichtige Abstammung aufgepfropft wird, anstatt es dabei zu belassen, dass sie gerade durch ihre gewöhnlichen Eltern etwas Besonderes in diesem Erzählkosmos ist.

Eine Alternative zur edlen Abstammung ist beispielsweise eine besondere Perspektive, die eine Figur zu einer Kandidaten*in im Auserwählt-Sein macht. In N.K. Jemesins Die Wächterinnen von New York werden Menschen auserwählt, Großstädte oder, im Fall von New York, einen Stadtteil als Avatar zu repräsentieren, weil ihre Lebensumstände und ihr kultureller Hintergrund besonders gut zu den jeweiligen Städten/Stadtteilen passen.

Ebenfalls denkbar wäre, von einer Macht aufgrund von etwas auserwählt zu werden, was der Normativität in dieser Welt widerspricht. Beispielsweise aufgrund einer queeren Perspektive auf die Welt oder aufgrund einer Behinderung, die eine besondere magische Eignung mit sich bringt (ohne die Behinderung dadurch zu negieren und unsichtbar zu machen) auserwählt zu werden. Beispiele für Ersteres wären das Wiederentdecken einer ansonsten verlorenen Fähigkeit durch einen auserwählten trans Jungen in Cemetery Boys von Aiden Thomas oder die Märchen in No Man of Woman Born von Ana Mardoll, die mit dem Thema Gender und Prophezeiung spielen. Ein Beispiel für letzteres wäre der blinde personifizierte Krähengott aus Black Sun von Rebecca Roanhorse, Bran Stark in der Reihe Das Lied von Eis und Feuer von George R. R. Martin sowie die hyperempathische Lauren Olamina in Octavia E. Butlers Parable-Dilogie.

Aber was, wenn keine stimmige Begründung wie bei den genannten Beispielen vorliegt, und die eigene Bestimmung noch nicht einmal in der Familie begründet ist? Damit kommen wir zur nächsten Kategorie: Auserwählt vom Universum. Die bloße Tatsache, dass „ganz normale Mädchen / Jungen“ auserwählt werden, wird vielleicht wegen der monotheistischen Prägung vieler Lesenden (die auserwählte Heilsgestalten und Heilige selbstverständlich hinnimmt) nicht weiter hinterfragt, kann aber ob der fehlenden Begründung bei einer tieferen Betrachtung unbefriedigend wirken. Wenn wir eine Agenda für die Wahl zugrunde legen, wird es gleich interessanter, besonders wenn Absicht oder Methode einen dunkleren Hintergrund haben, als es zunächst scheint.

Die Jägerinnen in Buffy - Im Bann der Dämonen werden im Teenageralter auserwählt. Was zunächst wie ein göttlicher Segen erscheint, stellt sich später als Fluch finsterer alter Zauberer heraus, der Superkräfte verleiht, um eine junge Frau nach der anderen im ewigen Kampf gegen das Böse zu verheizen. Das Alter der jungen Auserwählten ist dabei wichtig, weil sie möglichst wenig Lebenserfahrung mitbringen sollen, um durch ihre Wächter*innen formbar zu sein – übrigens ein Grund, warum in vielen Kulturen und Zeiten Frauen bereits im sehr jungen Teenageralter an ältere Männer verheiratet wurden und werden.

Zu Höherem geschaffen

Manchmal steckt auch nicht das Universum hinter einer Bestimmung, sondern Protagonist*innen werden von gewöhnlichen Menschen in die Auserwähltenrolle hineinmanipuliert. In Die Tribute von Panem von Suzanne Collins wird die Protagonistin zum Symbol von Freiheit stilisiert, um eine Rebellion zu befeuern, aber auch die politische Macht der Führungsriege zu sichern. Auserwählende mit einer Agenda, seien es Menschen oder Gottheiten, bieten erzählerisch viel reichhaltigere Möglichkeit als „das Universum hat entschieden“ oder „das Gute will es“ oder „Liebe hat es gemacht“. Ist man vielleicht nur eine*r von vielen Auserwählten, die immer wieder scheitern? Ist die ganze Auserwähltennummer nur ein Scam, und der vermeintliche Prinz in Nöten entpuppt sich als Dämon, der befreit und auf die Menschheit losgelassen werden will? Im bereits erwähnten Black Sun wird der Lebenslauf eines Kindes von Kultist*innen, zu denen auch seine Mutter gehört, sorgfältig orchestriert, damit es dem Krähengott als Avatar dient.

Ein besonders finsteres Beispiel ist der durch Eugenik herbeigezüchtete Auserwählte Paul Atreides in Frank Herberts Dune. Dieses Auserwählten-Exemplar stellt das Trope auf den Kopf, indem Paul zwar zunächst Freiheit für die Unterdrückten erstreitet, wie es sich für Auserwählte gehört, in dessen Namen später aber millionenfaches Leid über die Galaxie gebracht wird. Er scheint auch Genderstereotype zu sprengen, indem er als einziger Mann eine Magie beherrscht, die eigentlich nur Frauen zusteht (schon bekannt von Odin, der sich Seiðr-Zauberei bemächtigt oder aus dem Rad der Zeit von Robert Jordan). Allerdings muss hier ein Auge auf die Machtstruktur geworfen werden, und sich die identitätsstiftende Macht einer ansonsten marginalisierten Gruppe anzueignen, ist nicht gerade progressiv.

Der Preis der Bestimmung

Ein häufiger Preis für das Auserwählt-Sein stellt die überwältigende Aufgabe dar, einem mundanen Alltag und den Aufgaben der eigenen Bestimmung gerecht zu werden. Versuchen sich die Auserwählten an diesem Balanceakt, gibt ihnen das eine große Portion Menschlichkeit mit. Beispiele hierfür sind das Rollenspiel City of Mist von Amit Moshe oder alle Inkarnationen von Spider-Man. Ms. Marvel hebt diese Art Handlung von einem kleinen Umfeld in das einer ganzen Gemeinschaft, in diesem Fall mit migrantisch-pakistanischem Hintergrund.

Eine weitere Alternative ist, sich selbst auszuerwählen oder die Bereitschaft mitzubringen, den dafür nötigen Preis zu zahlen. In Nora Bendzkos Die Götter müssen sterben muss eine Hauptfigur ihre körperliche Unversehrtheit opfern, um die Gunst einer Göttin zu erlangen. In Schildmaid von meiner Co-Autor*in und mir muss ebenfalls ein hoher Preis gezahlt werden, um als Frau von Odin auserwählt zu werden. (Wobei das ganze sowieso ein Trick ist, wie es sich für Odin gehört.)

Es kann nicht nur einen geben

Um zu verhindern, dass Auserwählte zu bloßen Instrumenten werden, um einen Plot voranzubringen, sondern die Möglichkeit haben, als Figuren mit anderen zu interagieren, können sie in Ensembles einbettet sein oder in größere Gemeinschaften. Die Sidekicks in Avatar – The Last Airbender haben alle ihre eigenen Probleme, die sie überwinden müssen, der*die Auserwählte ist nur eine Figur von vielen, wenn auch eine wichtige. Das verhindert, dass Nebenfiguren zu Backgroundtänzer*innen verkommen und dekonstruiert das Trope, in dem traditionell eher eine Person im Scheinwerferlicht steht. In Die Chroniken von Beskadur von James A. Sullivan nutzt der wiedergeborene Elf Ardoas seine Bestimmung vor allem, um seine Gemeinschaften zu unterstützen, im gleichen Maße, wie er von ihnen unterstützt wird. In Buffy verteilt die Jägerin ihre Macht und Verantwortung schließlich auf viele Schultern.

Manchmal jedoch sind keine Auserwählten die besseren Auserwählten. In Jade City von Fonda Lee verweigert sich ein Charakter seiner Bestimmung, indem er sich entgegen großen Widerständen einen neuen Job sucht. Manchmal müssen Hauptfiguren auch einfach ein Problem angehen, weil sonst niemand da ist, der dazu willens ist. Progressive Phantastik tendiert dazu, oft genau diesen Weg zu wählen. Es ist aber müßig, entsprechende Titel hier auszuwählen, weil es eben keine Auserwählten-Plots mehr sind. Dennoch werden viele Geschichten, die nach Auserwählten schreien, gerade dadurch interessant, dass niemand von höheren Mächten dazu bestimmt ist, den Tag zu retten. Wir wissen, dass viele der komplexen Probleme unserer heutigen Welt nicht von einer Person gelöst werden können, die in einer einzigen Großtat zur Rettung eilt, sondern wir müssen auf verteilte Verantwortung und Graswurzelbewegungen hoffen.

Zusammenfassend werden Auserwählte dann interessanter, wenn die Antworten auf Fragen nach dem Wer?, von Wem?, Wie? und Warum? Überraschungen und Haken parat halten, wenn Gut vs. Böse nicht banal vor uns liegen oder wenn die Last der Verantwortung auf vielen Schultern lastet.

Christian Vogt,

Christian Vogt, Jahrgang 1979 und promovierter Physiker, kombinierte seine Vorliebe für Naturwissenschaft und Schriftstellerei in Fantasy- und Science-Fiction-Welten. Gemeinsam mit seiner Partnerin Judith veröffentlichte er zahlreiche Romane, darunter den historischen Fantasykrimi Anarchie Déco und den Histo-Fantasy-Roman Schildmaid: der Lied der Skaldin. Außerdem hat er als Spieldesigner bereits mehrere Pen&Paper-Erzählspiele veröffentlicht.