Fantasy

Dungeons & Dragons: Anfang und kein Ende

Dungeons & Dragons: Anfang und kein Ende
© Paramount

Christian Endres, 05.04.2023

Alles über das legendäre, prägende und nicht nur in "Stranger Things" präsente Rollenspiel-Franchise, dessen neue Blockbuster-Verfilmung "Dungeons & Dragons: Ehre unter Dieben" gerade im Kino angelaufen ist.

„Dungeons & Dragons“ ist die Mutter aller Fantasy-Rollenspiele. Weltweit begeistert das 1974 erschaffene Game Millionen von Menschen. In anderen Epochen befeuerten vor allem Nerdtum und Nostalgie die Magie des RPG-Klassikers, heute ist „D&D“ wieder richtig hip. In diesem Artikel geht es darum, wie „Dungeons & Dragons“ aus dem vermeintlichen Verlies des Geektums heraus die Fantasy prägte, wie es sich zum multimedialen Phänomen entwickelte, wie es ein Vierteljahrhundert nach einen Film-Flop nun mit einer launigen Adaption für das Zeitalter der Marvel-Blockbuster entschädigt wird – und wie „D&D“ bis heute alle möglichen fantastisch-abenteuerlichen Bücher, Videogames, TV-Serien oder Comics beeinflusst.

Strategische Kriegsspiele mit Miniaturfiguren-Armeen und umfangreichen Regeln reichen bis ins Preußen des frühen 18. Jahrhunderts zurück. Noch 1968 spielte der damals 30-jährige Amerikaner Gary Gygax auf einer Tabletop-Convention das ritterliche Wargame „Siege of Bodenburg“ („Die Belagerung von Bodenburg“), aus dem 1970 das von Gygax mitentwickelte Spiel „Chainmail“ („Kettenhemd“) entstand. Wenig später machten Gygax und sein Freund Dave Arneson daraus wiederum das erste Regelwerk zur ursprünglichen Edition von „Dungeons & Dragons“ („Verliese und Drachen“). Revolutionär war daran, dass keine Armeen mehr über den Spieltisch bewegt wurden, sondern einzelne Figuren in kleinen Gruppen, und dass eine erdachte fantastische Story anstelle der Historie im Mittelpunkt stand.

Das moderne Rollenspiel

So fiel mit „D&D“ der Startschuss für das moderne Rollenspiel. Im Grunde kombiniert „Dungeons & Dragons“ seit jeher einige der frühesten bzw. wichtigsten Muster der Fantastik: Die Questen-Mentalität der antiken Mythen und der mittelalterlichen Âventiure um König Artus; die rasante Schwert-und-Magie-Action der amerikanischen Pulp-Fantasy aus den 1930ern um Conan; und die epischen Dimensionen und fantastischen Kreaturen des Ringkriegs in Mittelerde. Die Fantasy-Fans Gygax und Arneson wurden Anfang der 1970er praktisch selbst zu Abenteurern, plünderten und remixten für „D&D“ die literarischen Schatzkammern ihrer eigenen Genre-Begeisterung, darunter eben das Schaffen von Robert E. Howard, J. R. R. Tolkien, Fritz Leiber und H. P. Lovecraft.

„Dungeons & Dragons“ und die meisten anderen Pen-and-Paper-Role-Playing-Games (RPGs) spielt man mit Stift (daher das Pen), Charakterbögen aus Papier (daher das Paper), vielseitigen Würfeln, dem Regelwerk und der kollektiven Fantasie am Tisch. Zu Beginn werden die Eigenschaften, Fähigkeiten und Stärken der erstellten Spielfiguren ausgewürfelt und festgehalten. Danach führt ein allwissender Spielleiter (sprich: Dungeon Master), dessen Notizen gut vor den Blicken aller anderen verborgen sind, mehrere Spielende als abenteuerliche Gruppe aus Menschen-Paladinen, Zwergen-Kriegern, Elfen-Diebinnen etc. durch eine interaktive, erzählte und erlebte Fantasy-Geschichte, entweder komplett selbst erdacht oder nach einem gekauften Abenteuerbuch. Unterwegs trifft die Truppe zahlreiche Entscheidungen, wobei nicht zuletzt das Würfelglück über den Fort- und Ausgang der Kämpfe, der Situationen, des gesamten Abenteuers entscheidet.

Abenteuer Adaption

Die packende, atmosphärische Mischung aus erzählender und spielbarer Fantastik genügte, um „Dungeons & Dragons“ zum generationenübergreifenden Kult-Rollenspiel zu machen. Bald schon beschränkte sich der Erfolg von „D&D “ nicht allein auf das Game selbst, also auf die immer wieder erweiterten, veränderten Regelwerke für Einsteiger oder Fortgeschrittene, die Abenteuerbücher oder diverse Brettspiel-Varianten mit massiven, teils lizensierten Anleihen beim Pen-and-Paper-Vorbild. Andere Rollenspiele eiferten außerdem dem Erfolg von „Dungeons & Dragons“ nach, in Deutschland gingen z. B. „Midgard“ (1981) und „Das Schwarze Auge“ (1984) ins Rennen.

1978 veröffentlichte Andre Norton nach einer Spiele-Session mit Gary Gygax unter dem Titel „Quag Keep“ einen ersten Fantasy-Roman mit inhaltlichem Bezug zu „D&D“. Ab Anfang der 1980er folgten weitere Romane, die aus Evolutionen und Expansionen des Original-Spiels hervorgingen. Am prominentesten gelten sicherlich die „Drachenlanze“-Serie von Laura und Tracy Hickman sowie Margaret Weis, und die „Vergessene Reiche“-Reihe von Ed Grenwood, in der R. A. Salvatore 1988 auch seinen Dunkelelf Drizzt Do’Urden entfesselte.

Bereits 1983 flimmerte eine „Dungeons & Dragons“-Zeichentrickserie über die Röhrenfernseher (hierzulande als „Im Land der fantastischen Drachen“ bekannt). Darin gelangte eine Gruppe Jugendlicher in die archaisch-fantastische Welt von „D&D“, wo sie als typische Abenteuertruppe bestehen musste. 1985 wurden in Spanien die ersten Comics zu „Dungeons & Dragons“ publiziert, wenngleich zur Trickserie. 1987 startete DC, die verlegerische Heimat von Batman, Wonder Woman und Co. die erste amerikanische Panel-Serie zu „D&D“ und zu „Dragonlance“.

Direkt nach dem Jahrtausendwechsel kam der berüchtigte „Dungeons & Dragons“-Film mit Justin Whalin, Thora Birch, Jeremy Irons und anderen in die Kinos. Der von Courtney Solomon In Szene gesetzte, 45 Millionen Dollar teure Flop zementierte viele der gängigen Vorurteile gegenüber Fantasy, Rollenspielen und besonders „D&D“. Aber das Franchise verkraftete selbst diesen Fehlschlag, der mehrere billig produzierte Sequels sah. In diesen Tagen war es eher schwierig, allgemein verständlich zu machen, wie wichtig der Rollenspiel-Evergreen für die Fantasy war und ist.

Nicht zuletzt für den Videogame-Sektor, wo „D&D“-Fans schon früh versuchten, das Feeling der Pen-and-Paper-Runden auf Computer und Konsolen zu übertragen. Ob in den USA, Japan oder Europa, ob in den 1980er oder nach den 2000ern, ob „Final Fantasy“, „Dragon Quest“, „Zelda“, „The Witcher“ oder „Elden Ring“: ohne „Dungeons & Dragons“, speziell seine Questen-Mentalität und sein Kampfpunkte-System, sähen viele Videospiel-Hits oder Online-RPG-Welten heute anders aus. „Baldur’s Gate“ setzte 1998 sogar offiziell in den „Vergessenen Reichen“ ein und nutzte explizit eine abgewandelte Version des „D&D“-Regelwerks.

Ehre unter Dieben

Spätestens seit der vierten Staffel von „Stranger Things“ wissen viele, dass „Dungeons & Dragons“ in den 1980ern eine Hexenjagd überstehen musste. Damals wurde in der Tat behauptet, das Rollenspiel würde die amerikanische Jugend zu Satanismus und anderem verführen. „D&D“ überstand diesen Sturm. Auch, weil ein Teil seines Erfolgsgeheimnisses stets darin bestand, dass Spielende, die selbst zu Kreativen wurden, ihre Begeisterung für das Rollenspiel in ihre eigenen Werke einfließen ließen – etwa Steven Spielberg in „E.T.“ von 1982. So verbreiteten (und verbreiten) sich die Figuren, Monster, Settings und Schemata des Games noch weiter.

Zu den prominentesten Fans von „D&D“ gehören Simpsons-Schöpfer Matt Groening, Scheibenwelt-Vater Terry Pratchett, Rick and Morty-Miterfinder Dan Harmon, Pulitzer-Preisträger Junot Diaz, Mandalorianer-Lenker Jon Favreau, Schauspieler Vin Diesel, Game of Thrones-Showrunner David Benioff, „The Guild“-Mastermind Felicia Day und die für mehrere „Avengers“-Filme bekannten Russo Brothers, die gerade „The Electric State“ von Simon Stålenhag verfilmen.

Im Sitcom-Juwel „Community“ zählen die „Dungeons & Dragons“-Folgen zu den Highlights, und in der Nerd-Comedy „The Big Bang Theory“ wurde ebenfalls „D&D“ gezockt. Fantasy-Bestsellerautor Patrick Rothfuss brachte die Welten von „Dungeons & Dragons“ sowie „Rick and Morty“ als Co-Autor in einem Comic-Crossover zusammen, und die bereits erwähnte „D&D“-Zeichentrickserie aus den 1980ern, die im TV damals nie einen Abschluss gesehen hat, wurde 2019 nach gut 30 Jahren von Renault Brasilien in einem Live-Action-Werbespot zu Ende geführt. Sfar, Trondheim und andere Comic-Schaffende aus Frankreich schufen mit ihrem satirischen „Donjon“-Universum derweil eine der interessantesten Parodien. Mittlerweile existiert auch ein „Dungeons & Dragons“-Set zum ähnlich gelagerten Sammelkartenspiel „Magic: The Gathering“.

Obendrein erfreuen sich Rollenspiel-Streams wie „Critical Role“ (übrigens die Grundlage der Amazon-Animationsserie „The Legend of Vox Machina“) von Matthew Mercer, Ashley Thompson und anderen Schauspielenden/Synchronsprechenden in den USA immenser Beliebtheit. Hierzulande wurden dagegen z. B. die Abenteuer der „Horde“ von Liza Grimm, Gronkh, Marv Clifford und andere zu einem ähnlichen Let’s-Play-Steaming-Phänomen.

Wenig überraschend, dass im Zeitalter der boomenden Fantasy- und SF-Blockbuster jetzt auch ein neuer „D&D“-Film im Kino läuft. Fans schwankten zwischen Vorfreude und Skepsis. Aber der Streifen von John Francis Daley und Jonathan Goldstein („Spider-Man: Homecoming“, „Game Night“) überzeugt bisher die meisten Gamer, Kritiker und Filmfans. Geboten wird für alle zugänglicher Fantasy-Antihero-Spaß mit Chris Pine („Star Trek“), Michelle Rodriguez („The Fast and the Furious“), Regé-Jean Page („Bridgerton“) und sogar Hugh Grant („Notting Hill“). Zumal trotz Massentauglichkeit genügend Details und Easter Eggs für fortgeschrittene Fans integriert sind, das RPG-Ursprungsprodukt ausgiebig gewürdigt und gefeiert wird. Dank Ironie, Humor, Effekten und Action sollte „Dungeons & Dragons: Ehre unter Dieben“ lässig die Herzen vieler Superheldenfilm-Fans erobern. Was geboten wird, passt gut zum momentanen Zeitgeist des Genre-Films. Nicht unbedingt Finesse, jedoch Unmengen an Fun.

Ewiger Einfluss, langer Leitfaden

Selbst ohne einen Filmerfolg wäre die Legende von „Dungeons & Dragons“ gewaltig, und unwiderruflich mit dem Siegeszug der Schwert-und-Magie-Fantasy sowie weiteren fantastischen Spielarten in den verschiedensten Bereichen verbunden. Alle, die sich heute mit dem Genre beschäftigen oder auf irgendeine Weise Fantasy produzieren, stehen auf den Schultern und in der Schuld von „D&D“. Wer nie das Rollenspiel gezockt haben sollte, wurde garantiert trotzdem durch Romane, Filme und anderes inspiriert, die aus der Quelle „Dungeons & Dragons“ geschöpft haben.

Natürlich bringt so eine dominante prägende Position auch Nachteile. Es gab Zeiten, da neigte die Fantasy nicht zuletzt wegen „D&D“ zu einem etwas zu generischen Ansatz, wurde es mit den Arche- bzw. Stereotypen bei Story und Figuren ironiefrei klar übertrieben. Heute, das ist zumindest mein Eindruck als Leser wie als Autor, sind wir da in einer recht komfortablen Position: Die Fantasy ist vielfältiger denn je, und wir haben ein gesundes Genre-Bewusstsein entwickelt, das sowohl mit Selbstverständnis als auch mit Selbstbewusstsein einher geht. Die klassischen Motive und Elemente aus „Dungeons & Dragons“ können darum nach wie vor als Leitfaden und Basis dienen, allerdings gehen wir geschickter mit ihnen um, und wenden ein kritischeres Auge für Klischees und Tropen an, updaten und variieren die Basics. Lasst es mich vielleicht an ein, zwei Beispielen aus meinem eigenen Schreiballtag illustrieren.

Beim Verfassen meines frisch erschienenen Schwert-und-Magie-Fantasy-Romans „Die Prinzessinnen – Fünf gegen die Finsternis“ brauchte ich für die erste Etappe der Geschichte eine Rahmenhandlung, die mehrere Episoden mit der Söldnerinnen-Gruppe zusammenhält, während es gegen diverse Monster und Schurken geht, Protagonistinnen und Lesende sich eingrooven. Ich sprach mit einem Freund, Spielleiter einer Pen-and-Paper-Rollenspiel-Gruppe, und er meinte prompt: ‚Also, ich würde in einer RPG-Session jetzt einfach eine Karawane oder so was einbauen, die begleitet und beschützt werden muss’. Das war ein grundsolider, ferner D&D-typischer Input. Ich dachte ein bisschen darüber nach und empfand das Muster an dieser Stelle als passend. So kam es, dass meine Prinzessinnen zu Beginn ihres ersten Abenteuers eine fahrende Theater-Truppe durch eine Welt voller Bestien und Bastarde eskortieren.

Überhaupt lohnt es sich eigentlich immer, auf die innere Dungeon-Master-Stimme oder das Questen-erprobte Herz zu hören. Als Autor muss man sich nur bei jeder Szene, jedem Dialog, jedem Kampf die Frage stellen: Soll es hier wirklich die klassische Variante sein, weil sie einfach noch immer gut ist? Oder braucht es den augenzwinkernden, sarkastischen, überzeichneten Spin der Neuzeit? Genügt vielleicht ein kleiner Twist, der das altbewährte Motiv frisch und interessant macht, gerade im Kontext des Zeitgeistes? Oder muss die Erwartung aller Genre-Fans mit D&D-DNA hier durchkreuzt, gegen den Strich gebürstet werden?

Wie so oft, macht es am Ende die Mischung. Doch dem Erbe von „Dungeons & Dragons“ entkommen Fantasy-Schaffende letztlich nicht. Man muss sich demnach aktiv damit auseinandersetzen und einen eigenen Weg im Umgang mit der aus RPGs entlehnten Mythologie und Mechanik suchen. Mir hilft es beim Schreiben actionreicher Fantasy wie mit den Prinzessinnen jedenfalls immer, mir die Genre-Traditionen bewusst zu machen, mit denen ich gerade jongliere, und sie von allen Seiten zu betrachten, um das Beste aus Tradition und Innovation, Vergangenheit und Moderne zu bekommen.

„Dungeons & Dragons“ ist also auf vielerlei Weise greifbar und wichtig, sobald es um Fantastik geht, ob beim Konsumieren oder beim Kreieren, und längst auch über Rollenspiele hinaus. Umso schöner, dass die Mutter aller RPGs dank Tributen wie in „Stranger Things“ und aufgrund von Adaptionen wie „Dungeons & Dragons: Ehre unter Dieben“ gerade so eine Präsenz genießt. Das hat „D&D“ allemal verdient, nachdem so viele Menschen dem Franchise eine Menge zu verdanken haben – nicht bloß massig schöne Spielstunden am Tisch.

Christian Endres

Christian Endres ist Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Artikeln und anderem. Im April 2023 erscheint sein neuer Fantasy-Roman „Die Prinzessinnen – Fünf gegen die Finsternis“ über eine Gruppe knallharter Söldnerinnen.

Daneben schreibt er für den Tagesspiegel, Tip Berlin, diezukunft.de, phantastisch!, Doppelpunkt, Geek! und viele mehr. Für Panini betreut er redaktionell die Comic-Ausgaben von Spider-Man, Batman, Conan, den Avengers und anderen. Neben den Büchern „Sherlock Holmes und das Uhrwerk des Todes“ und „Die Zombies von Oz“ veröffentlichte er Geschichten in Anthologien, Magazinen wie c’t und Exodus, der Heftreihe Basement Tales, Basteis Horror Factory sowie auf Englisch im Sherlock Holmes Mystery Magazine und in Heavy Metal. Er wurde bereits mit dem Deutschen Phantastik Preis und dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.

www.christianendres.de 

https://twitter.com/MisterEndres

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