Science Fiction

Science Fiction von Frauen #16: Jeannette Ng

Banner Science Fiction von Frauen #16: Jeannette Ng
© carloyuen/pixabay

BUCH

 

Judith Vogt, 29.06.2021

Weiter geht es mit unserer Kolumne über großartige Frauen in der Science-Fiction-Literatur. Heute im Porträt: Jeannette Ng, die 2019 den John W. Campbell Award for Best New Writer erhielt – und ein Jahr später den Hugo für ihre „Dankesrede“.

Obwohl Jeannette Ng* sehr aktiv ist auf Twitter und zum Schreiben, zur Phantastik und zu Debatten rund um Repräsentation ebenso tweetet wie zu Pen&Paper- und Live-Rollenspiel, hält sie sich bedeckt, was ihr Privatleben angeht. Sie wurde in Hongkong geboren, studierte in Durham bis zum MA Medieval und Renaissance Studies. Sie besitzt einen Hund, von dem sie mir ein Foto geschickt hat, das ich netterweise mit euch teilen darf, und hat bis 2012 auf der Website „Costume Mercenary“ Steampunk-Kostüme verkauft, weshalb es (Zitat) „immer noch eine Menge Fotos von mir in verrückten Kostümen gibt, vor allen Dingen, wenn man nach den Begriffen ‚asian steampunk‘ sucht“.

Foto Jeanette Ng
privat

  

Ihr erster und bislang einziger Roman Under the Pendulum Sun ist eine phantastische, beunruhigende Gothic-Novel, die Mitte des 19. Jahrhunderts vom Verschwinden eines Missionars im Land der Fae und der Suche seiner Schwester nach ihm erzählt und viel von Ngs nach eigener Aussage „seltsamen“ Interessen zusammenbringt. Der Roman wurde für mehrere bedeutende Preise nominiert und von SYFY als eines der zehn besten SFF-Bücher des Jahres 2017 bezeichnet. Ng hat einige Kurzgeschichten geschrieben, zum Beispiel How the Wishing Tree Got its Carapace of Plastic in der Sammlung Not So Stories, die von Autor*innen of color als Antwort auf Kiplings Just So Stories herausgegeben wurde. Just So Stories (Genau-so-Geschichten) war eines der ersten speziell an Kinder gerichteten Bücher – und ein Buch, in dem die magischen, verspielten Geschichten Kiplings von Kolonialismus triefen.

In jüngster Zeit hat Ng sich stark mit Mulan auseinandergesetzt – der Anlass war vor allen Dingen die die neue Disney-Adaption, doch auch die Original-Ballade begleitet Ng schon lange. Sie war eine der ersten, die herausfand, dass der neue Live-Action-Mulan in Xinjiang gedreht wurde, der Region, in der die muslimischen Uigur*innen verfolgt und interniert werden. Auf Twitter und in Blogartikeln setzt sie sich damit auseinander, dass die neue Verfilmung nicht nur spürbar eine Umsetzung weißer Filmschaffender ist, sondern dass die Muslimfeindlichkeit des chinesischen Staats von vielen Aspekten des Films subtil befeuert wird.

Zudem schreibt Ng auf ihrem Blog Maelstromic Insight zu Gedanken und Theorien über das Gamedesign von Live-Rollenspiel. Und auch wenn in der Phantastik Subgenregrenzen gern verschwimmen: Ng ist vor allen Dingen Fantasy- und nicht Science-Fiction-Autorin.

Warum also ein Porträt von Ng in einer Reihe über Science-Fiction-Autorinnen?

Weil ihre Rede zum John W. Campbell-Award exemplarisch für eine Veränderung in der Rezeption klassischer Science-Fiction und Science-Fiction-Autoren steht, die von Nostalgie und Verklärung von legendären „Helden“ der Szene zu einer Vorwärtsbewegung führt, die die internationale Science-Fiction ergriffen hat und hoffentlich noch eine Weile anhält.

Aber fangen wir ganz von vorn an. Es ist keine Neuigkeit, dass viele Strömungen der Science-Fiction ihre Wurzeln im Western haben – im Bedürfnis, sich auszubreiten, zu entdecken, zu erobern. Das hat auch etwas damit zu tun, dass Hauptfiguren persönliche Grenzen überschreiten, „mehr“ sein können, als sie dachten, eine grundsätzlich inspirierende Idee. Erobere diese neuen Weiten, entdecke ihre Geheimnisse! Dahinter steckt aber natürlich ein kolonialistisch geprägter Blick auf andere Kulturen: Wo schon Leute leben, wird nichts entdeckt, sondern sich angeeignet, wird nicht erschlossen, sondern erobert. Die Geschichte wiederholt sich – auch im All. Dieser Einfluss ist nicht mehr allgegenwärtig, aber immer noch spürbar, zumal Science-Fiction oft auf die alten großen (meist männlichen) Namen reduziert wird.

Auch der John W. Campbell Award ist – war! – nach einem solchen Namen benannt. Er wird an Debütautor*innen verliehen, und Ng erhielt ihn 2019 für Under the Pendulum Sun während der Hugo-Verleihung auf der Dublin Worldcon. Ng nahm den Award an und ließ im ersten Satz ihrer Rede schon die Bombe platzen: „John W. Campbell, for whom this award was named, was a fucking fascist“ (John W. Campbell, nach dem dieser Preis benannt ist, war ein verdammter Faschist). Sie fährt fort und erklärt, dass Campbell verantwortlich dafür war, einen Ton in der Science-Fiction zu etablieren, der das Genre bis zu diesem Tage heimsucht. „Steril. Männlich. Weiß. Den Ehrgeiz von Imperialist*innen, Kolonist*innen, Siedler*innen und Industriellen verherrlichend.“

Wer war John W. Campbell?

Campbells Ruhm als Autor steht ein wenig im Schatten seines Ruhms als Herausgeber. Er schrieb vor allem in der Pulp-Ära der Dreißiger eine ganze Menge Kurzgeschichten und einige Romane. Eine seiner bekanntesten Geschichten ist Das Ding aus einer anderen Welt. Weitreichender jedoch war seine Tätigkeit als Herausgeber und Lektor. Bis zu seinem Tod 1971 gab er das Magazin Astounding Science Fiction (später Analog Science Fiction) heraus und entdeckte und förderte unter anderem Asimov und Heinlein.

Dass viele Science-Fiction-Klassiker faschistoides Gedankengut reproduzieren, ist ein Problem für ein Genre, das so in Klassikern verwurzelt ist. Heinleins Sixth Column beruht auf einer Idee Campbells – der Roman ist ein Ergebnis der damals unter Weißen weitverbreiteten Angst vor der „yellow peril“, der sogenannten „Gelben Gefahr“. Campbell stand racial segregation positiv gegenüber, nannte Sklaverei ein „nützliches Bildungssystem“ und war der Ansicht, dass Schwarze Autor*innen nicht mit weißen mithalten könnten. Samuel R. Delany erzählte 1998, wie er von Campbell abgelehnt wurde, weil die Leserschaft sich nicht in einem Schwarzen Protagonisten wiederfinden könne.

Auch weibliche Figuren waren nicht so Campbells Fall: Er forcierte als Lektor das heute sogenannte „Fridging“, bei dem weibliche Charaktere getötet werden, um den männlichen Helden zu motivieren oder ihm klarzumachen, dass das Leben hart und unmenschlich ist. Als er die WorldCon organisierte, wurde Asimov scherzhaft dazu aufgefordert, dort eine Rede über „The Positive Power of Posterior Pinching“, zu halten, also über die „positive Macht des Hintern-Kneifens“, da Asimov dafür bekannt war, gern (und frei von Konsequenzen) anwesende Frauen zu begrapschen, zum Beispiel im Aufzug. Wer ihn dafür zur Rechenschaft ziehen wollte, wurde der Con verwiesen, während Asimov natürlich bleiben durfte. (Wann auch immer euch gesagt wird, Frauen interessieren sich halt nicht so für Science-Fiction, fragt euch, in welchem Klima, unter welchem „minority stress“ schon weiße Frauen in einer solchen Umgebung bestehen mussten – von WoC, queeren und/oder Schwarzen Frauen, Frauen mit Behinderung ganz zu schweigen!)

Mit diesem Erbe vorangehen

Auch bei der Diskussion rund um Lovecrafts Rassismus und Menschenfeindlichkeit wird immer wieder als Argument gebracht: „Ja, aber so war das eben damals.“ Aber wie Cory Doctorow zu Ngs Rede schreibt, ist es absolut richtig, heute anzusprechen, welches Erbe die Science-Fiction mit sich trägt: „Wir versuchen, herauszufinden, was wir damit anfangen, dass die schrecklichen Ideen mit Makeln behafteter Leute (vor allem Männer) bis in unsere Zeit hineinreichen. Wir versuchen, uns mit dem Vermächtnis dieser mit Makeln behafteter Leute auszusöhnen, deren gute Taten und Kunst mit ihrer grausamen und schädlichen Behandlung von Frauen koexistierte.“ Denn diese Männer waren ja keine Ausnahme. Wie der Versuch der „Sad Puppies“, die Hugos mit rechtskonservativen weißen Titelvorschlägen zu kapern, zeigt, kommt dieser rassistische und misogyne Einfluss nicht von außen: Er befindet sich in der Science-Fiction selbst. Er ist dort entstanden. Wir müssen uns dort mit ihm befassen.

Männliches Privileg und Gewalt in der Beziehung

Oft mache auch ich den Fehler, dass ich den Einfluss dieser Männer auf die Science-Fiction am liebsten vergessen würde. Ich würde sie am liebsten damit strafen, nicht mehr über sie zu reden. Aber Jeannette Ng liegt absolut richtig: Wir können ihre Bedeutung nicht herunterspielen – wir müssen sie anerkennen und auch, was das mit unserem Genre macht.

Das Genre und besonders weiße cis Männer darin müssen sich mit diesem Erbe beschäftigen, auch wenn es ihnen grundsätzlich lange eine behagliche Umgebung geschaffen hat. Wir sehen in Campbell einen Menschen, der natürlich „Gutes“ getan hat – der Leute gefördert und freundlich behandelt hat, der ein liebevoller Vater war. Wir müssen nicht nur damit leben, dass Menschen verwirrend und mit Makeln behaftet sind – sondern auch entscheiden, welche Konsequenzen wir daraus ziehen; für uns persönlich und für die Räume, in denen wir aktiv sind. 

Und ja, wir müssen uns darüber klar werden, dass sich weiße cis Männer in der Science-Fiction so mies aufführen, weil sie von ihren großen Vorgängern gelernt haben, wie es geht.

Aber jetzt die gute Nachricht: Jeannette Ngs Rede hat nicht zum ersten Mal offengelegt, was für ein Mensch Campbell ist – aber sie war der berüchtigte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat: Der Award heißt nun Astounding Award for Best New Writer und trägt damit nun laut dem Herausgeber des Analog Science Fiction and Fact-Magazins (das den Award verleiht), der Tatsache Rechenschaft, dass Campbells Einstellungen und Zukunftsvisionen nicht mit denen der Menschen übereinstimmen, die nominiert sind, gewinnen und/oder den Award unterstützen.

Ng spielt auch als Newcomerin bereits eine bedeutende Rolle – sie steht mit für einen Neuaufbruch in eine bewusst politische und engagierte Phantastik. Um sich dafür auszusprechen, muss man keine alte Häsin sein, im Gegenteil, es ist unabdingbar, dass neue Autor*innen mit Ungeduld und klaren Visionen das Genre stürmen. Ng, die gerade an ihrem zweiten Roman schreibt, begrüßte die Umbenennung des Awards in einem Interview als Schritt weg von einem Mann, der viele Menschen vom Genre fern- oder gleich ganz vom Schreiben abhielt. „Nun feiern wir ein Stück Geschichte, das nicht mehr an seinen Namen gebunden ist, auf etwas neutralere Weise.“

Auch der kritische Campbell-Biograph Alec Nevala-Lee (Astounding: John W. Campbell, Isaac Asimov, Robert A. Heinlein, L. Ron Hubbard, and the Golden Age of Science Fiction) unterstützt das, da die Diskrepanz zwischen Campbells Rassismus und der Diversität der ausgezeichneten Autor*innen immer größer geworden sei. Als Science-Fiction-Schöpfer werde Campbell daran gemessen, wie er gesellschaftlichen Wandel vorhersah, und was das angehe, habe er sich als unzureichend erwiesen, so Nevala-Lee. (Mehr dazu in der Podcast-Episode We’re Officially Done with Lovecraft and Campbell.

Doch damit nicht genug: Jeannette Ng hat für ihre kurze, pointierte Rede den Hugo-Award for Best Related Work erhalten. Diese Kategorie bezog sich ursprünglich auf Sachbücher rund um Fantasy und Science-Fiction, wird aber zunehmend auch für ungewöhnliche Beiträge zum Genre verliehen, wie für den Podcast Writing Excuses, das Fanfiction-Portal Archive of Our Own oder eben für Jeannette Ngs transformierende Rede.

Aber „stimmt“ die Bezeichnung fucking fascist?

Natürlich ging das alles nicht ohne Widerstand über die Bühne. Ng wurde dafür kritisiert, undankbar oder gar „politisch“ zu sein – und dafür, den Award überhaupt angenommen zu haben. Außerdem wurde natürlich viel Für und Wider zum Thema „fucking fascist“ gesagt und geschrieben.

Campbell war konservativ, bigott, sexistisch und rassistisch – aber wirklich ein Faschist? Da stehen wir natürlich wie so oft vor der Frage, wo konservativ-bigotter, sexistischer Rassismus aufhört und Faschismus anfängt. Campbell sah sich selbst nicht als Faschist oder gar Nazi. Doch wie weiter oben schon erwähnt, stand er den „Jim Crow“-Gesetzen der racial segregation nicht besonders kritisch gegenüber und glaubte an weiße Überlegenheit und Vorherrschaft. Natürlich kann man so denken, ohne eine Mitgliedschaft im Ku-Klux-Klan in Betracht zu ziehen. Dass viele Menschen so denken und dabei freundliche Familienmenschen in einer Vorstadt voller weißer Lattenzäune sind, ist für den Rassismus nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland sogar unabdingbar. Die breite Masse, die Alltagsrassismen salonfähig macht, wäre empört, wenn man ihnen unterstellte, mit faschistischem Gedankengut zu liebäugeln. Aber wie Campbell-Preisträger John Scalzi es ausdrückt: „Das Mengendiagramm aus ‚Dingen, die Campbell gesagt hat‘ und ‚Was Faschist*innen sagen‘ hat, ääähhhm, Überschneidungen.“

Fest steht: Campbell hat niemals daran geglaubt, dass Autor*innen wie Jeannette Ng auf den Bühnen stehen, die er geholfen hat zu bauen. Und nicht nur das: Er hat als einer der entscheidenden Gatekeeper aktiv daran gearbeitet, Autor*innen, die nicht aussahen und dachten wie er, von diesen Bühnen fernzuhalten.

Und war es „richtig“, dass Ng den Award trotzdem angenommen hat? Aber absolut – dieser Preis kürt eine herausragende schriftstellerische Leistung eines Neuankömmlings im Genre. Es steht nicht in den Geschäftsbedingungen, dass man Fan von John W. Campbell sein muss, um ihn anzunehmen. Nnedi Okorafor und Sofia Samatar haben bereits bewirkt, dass Lovecrafts Konterfei nicht mehr den World Fantasy Award ziert. Das Genre verändert sich und ehemals große Idole werden von ihren Sockeln gestürzt. Ng macht in ihrer Dankesrede für den Hugo for Best Related Work direkt am Anfang klar: Wie bereits in der Diskussion um die Denkmäler für Kolonialherren steht dabei nicht zur Debatte, diese Menschen zu vergessen: Es geht darum, sie weniger als „Denkmal“ und mehr als historische Person zu begreifen. „Damit löschen wir Geschichte nicht aus, damit schreiben wir Geschichte“, so Ng, und außerdem: „Lasst uns besser sein als die Vermächtnisse, die uns hinterlassen wurden. Lasst sie nicht zu Prophezeiungen werden.“ Sie sagt selbst, sie habe nie geglaubt, kontrovers zu sein. Letztlich ist wohl die Existenz von lauten, kritischen Stimmen von Autorinnen of color in unserem Genre immer noch inhärent kontrovers.

Und außerdem: Hongkong!

Jeannette Ng schaffte es in ihrer sehr kurzen Rede, den Fokus außerdem noch auf ihren Geburtsort Hongkong zu richten. Für die internationale Science-Fiction wird China immer relevanter – nicht mehr nur als Markt für US-amerikanische Filme oder Bücher, sondern auch umgekehrt werden ost- und südostasiatische Stimmen in Europa und Nordamerika stärker gehört – Liu Cixin, Hao Jingfang, Xia Jia und die Sammlung chinesischer SF-Kurzgeschichten in Quantenträume sind Beispiele dafür, andere Autor*innen schreiben sich auf Englisch in die internationale SF wie Singapurer*in Neon Yang oder Francovietnamesin Aliette de Bodard.

Ng nennt Hongkong die cyberpunkigste Stadt der Welt – und während ihrer Rede 2019 fand dort gerade die größte illegale Versammlung in der Geschichte der Stadt statt. Sie bat um Solidarität mit den Protestierenden, die gegen maskierte, anonyme Sturmtruppen eines autokratischen Reichs ankämpfen. 2020, als sie pandemiebedingt ihre Hugo-Dankesrede von zu Hause aus hält, betont sie noch einmal, dass es schlimmer geworden ist. „Ich flehe euch an, den Blick nicht von Hongkong abzuwenden“, so Ng. Die Taktiken der Marginalisierung seien auf der ganzen Welt gleich. Das Tränengas, das eingesetzt werde, sei das gleiche.

„We should come together to write a future of joy and hope and change“, sagt Ng in ihrer Rede. „Now is the time. Now was always the time.“ (Wir sollten zusammenkommen, um eine Zukunft der Freude, der Hoffnung und des Wandels zu schreiben. Es ist jetzt an der Zeit. Es war immer schon jetzt an der Zeit.)

 

 

* Ng ist nichtbinär, sie benutzt die Pronomen she und they und war damit einverstanden, in dieser Reihe porträtiert zu werden.

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.


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