Science Fiction

Science Fiction von Frauen #14: Kate Wilhelm

Science Fiction von Frauen #14: Kate Wilhelm
Judith Vogt, 03.11.2020
 

Weiter geht es mit unserer Kolumne über großartige Frauen in der Science-Fiction-Literatur. Mit Kate Wilhelm kehren wir in das goldene Zeitalter feministischer Science-Fiction zurück, in der auch Ursula LeGuin, Joanna Russ, James Tiptree Jr. und viele andere schrieben: die 1960er und 1970er!

Kate Wilhelm wurde 1928 in Ohio geboren und starb 2018 im Alter von 89 Jahren. Ihr wohl bekanntester Roman ist „Hier sangen früher Vögel“, für den sie einen Hugo und einen Locus-Award sowie eine Nebula- und Jupiter-Nominierung erhielt. Ihre Kurzgeschichten, Novellen und Romane wurden immer wieder für die größten Genre-Preise nominiert, und Wilhelm wurde 2003 in die Science-Fiction Hall of Fame aufgenommen. In der zweiten Hälfte ihrer Karriere wandte sie sich vor allem dem Krimi zu, und insgesamt verfasste sie um die fünfzig Science-Fiction- und dreißig Krimi-Werke (Romane, Kurzgeschichtensammlungen und Sachbücher).

Dabei waren ihre Weichen eigentlich erst einmal nicht darauf gestellt: Wilhelm heiratete mit 19 Jahren und bekam zwei Kinder. Mit den beiden besuchte sie häufig das Observatorium der Star Lane University und sagte, das habe ihren Blick für ein weites Universum geöffnet. Sie schrieb nachts, wie viele Autorinnen ihrer Zeit und davor parallel zur vor allem ihr obliegenden Sorgearbeit in der Familie.

‚Das kann ich auch!‘

Zur Entstehung ihrer ersten Kurzgeschichte sagte sie: „Ich war eine Hausfrau mit zwei kleinen Kindern. Ich hatte gerade eine Anthologie gelesen und mir gesagt: ‚Das kann ich auch!‘ Und so habe ich The Mile-Long Spaceship geschrieben und sie hat überzeugt.“

Diese erste Kurzgeschichte erschien 1956 im Magazin „Fantastic“ – sie wurde von da an eine regelmäßige Autorin für verschiedene Science-Fiction-Magazine, zunächst mit eher pulpigen Stories.  In den Sechzigern war Wilhelm eine der wenigen Frauen, die erfolgreich unter ihrem eigenen Namen veröffentlichte. (41 ihrer Geschichten sind in diesem Frühjahr als limitierte Sammlerausgabe bei Centipede erschienen – und leider schon vergriffen!)

Ihr erster Roman hingegen spielte nicht in naher oder ferner Zukunft – es war der Mysteryroman More Bitter Than Death, der 1962 erschien. 1963 ließ sie sich von Joseph Wilhelm scheiden und heiratete ihren Kollegen und Lektor Damon Knight, den sie auf einer Schreibkonferenz kennengelernt hatte. Sie zogen gemeinsam ihre fünf Kinder aus früheren Ehen groß und bekamen ein gemeinsames Kind. Auch die Leidenschaft für Science-Fiction – und für Science-Fiction-Weiterbildung – teilten die beiden und veranstalteten zunächst die Milford Science Fiction Writers’ Conference, bevor sie Mitbegründer*innen der in den USA sehr berühmten Clarion Workshops wurden. Damit wurden sie von SF-Schreibenden auch zu Lehrenden im Genre und waren weltweit in Universitäten zu Gast. Auch noch nach Knights Tod 2002 führte Wilhelm ihre monatlichen Workshops bis zu ihrem Tod fort.

Psychologische Science-Fiction

Bei Wilhelm geht es nicht darum, wie die Technologie der Zukunft funktioniert, sondern wie sich diese Technologie auf die Menschheit auswirkt. Es geht beispielsweise um Medikamente, um Klonprozesse und Unsterblichkeit.

Wilhelm wandte sich früh einer eher psychologisch fundierten Science-Fiction zu. „Ihre Texte haben etwas Eindringliches, Hypnotisches, Unvergleichliches und Fremdartiges“, so Scott Bradfield in seinem Nachruf auf Wilhelm in der LA Times. Die Dimensionen von Menschlichkeit und menschlicher Psyche, oft mit Anleihen an Traumdeutung und C.G. Jung, werfen ihre Schatten als übersinnliche Elemente in ihre Geschichten, wie im Roman Margaret And I, in dem eine Protagonistin auf der Flucht vor ihrem Mann eine neue Identität annimmt und ihr eigenes Ich aus dieser Über-Ich-Perspektive zu betrachten beginnt.

Wilhelm sagte einmal, dass es nicht in ihrer Absicht lag, mit ihren Geschichten die Grenzen des Genres zu überschreiten – sie habe lediglich einen blinden Fleck in Bezug darauf, wo diese Grenzen verlaufen. Krimi- und Mystery-Elemente vermischen sich mit ihrer Faszination für Wissenschaft und Medizin. Oft stehen in ihren Geschichten Frauen im Mittelpunkt, die in wissenschaftliche oder politische Machenschaften und Machtdynamiken verstrickt werden. Und oft thematisiert Wilhelm, dass sich das Streben nach Macht in jeder menschlichen Beziehung äußert – selbst in den intimsten.

Männliches Privileg und Gewalt in der Beziehung

Eines der eindringlichsten Werke von Wilhelm dreht sich um Macht und Consent in einer Ehe, in einer immer noch aktuellen Form, die klar macht, dass wir schon viel zu lange die Dystopie leben, die wir fürchten. Der Clewiston-Test erschien 1976 und erzählt von Anne, die nach einem Autounfall bettlägerig ist und Stück für Stück von ihrem Mann und Forschungspartner Clark entmündigt wird. Der Clewiston-Test ist eine ausführlichere Siebzigerjahre-Hommage an Die gelbe Tapete, eine frühe feministische Kurzgeschichte von Charlotte Perkins Gilman, die 1892 erschien.

Dass sich diese Geschichte nicht nur in den 1890ern, sondern auch in den 1970ern aktuell anfühlt und selbst in den 2020ern nicht überholt ist, legt ein verstörendes Zeugnis davon ab, wie Jahrhunderte des Patriarchats immer noch in vielen Mann-Frau-Beziehungen fortwirken:

Während Annes Zeit der Genesung nutzt Clark die Gelegenheit, sie durch Herablassung und Infantilisierung immer mehr zu entmachten. Die Vergewaltigung, als der Arzt attestiert, dass Sex nun nichts mehr im Wege steht, und sich Clark nimmt, was ihm in dieser Ehe und von dieser Frau gebührt, ist dabei nur ein weiterer Punkt auf einer langen Liste der psychischen Gewalttaten. In seiner paternalistischen „Ich weiß, was für dich am besten ist“-Attitüde reißt er außerdem ihr Forschungsprojekt an sich und schreibt seinen Namen drauf – auch das Thema, wer öffentliche Anerkennung erhält und wer nicht, ist nach wie vor schmerzlich aktuell.

Der Clewiston-Test ist nicht der einzige Roman, in dem Wilhelm das Thema sexualisierte Gewalt aufgreift. Sie verstand sich jedoch darauf, diese Szenen zu schreiben, ohne dabei Voyeurismus zu bedienen – und ohne die Vergewaltigung zum beherrschenden Element im Leben ihrer Protagonistinnen zu machen.

Neben dem Thema Consent und was passiert, wenn eine Frau ihn nicht gibt, dreht sich der Roman außerdem um Parallelen zwischen Tierversuchen und medizinischen Versuchen an uninformierten Gefängnisinsassen und beschäftigt sich mit Medizinethik. Ein Buch, das zu Unrecht nicht auf den SF-Bestenlisten dieser Welt steht!

Cloning und die Fähigkeit zu lernen

Wilhelms wohl berühmtestes Buch ist Hier sangen früher Vögel. In diesem Szenario ruht die Hoffnung einer ansonsten in sehr binär gesteckten Genderrollen gefangenen Gemeinschaft auf Klonen. Das Interessanteste an dieser sich fatal rückbesinnenden Gesellschaft ist, dass diese Klone ermutigt werden, sich sexuell in allen möglichen Formen auszuleben. Sexuelle Kontakte gehören bereits früh zum Zusammenleben und sind nicht länger von „platonischen Freundschaften“ getrennt.

In dieses Szenario wird ein Mensch, Mark, als einziges „natürlich“ gezeugtes Kind geboren, und Wilhelm schafft den sonst selten vorgenommenen geistigen Sprung, das zutiefst Menschliche an ihm als „das andere“ darzustellen. Er ist gewissermaßen als Mensch „othering“ ausgesetzt. Als er jedoch mit Klonen aufbricht, um neue Vorräte zu suchen, sind die Klone um ihn herum zum Scheitern und sogar zum Tod verurteilt: Sie lernen nicht, denn ihnen fehlt Einbildungskraft und die Fähigkeit zur Improvisation. Damit umreißt Wilhelm in Hier sangen früher Vögel, was es für sie bedeutet, menschlich zu sein.

No Award! Lieber kein Award als transformative Science-Fiction

Eine Anekdote über die Zeit, in der Wilhelm schrieb, ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Die 1970er mögen ein goldenes Zeitalter für eine erste Welle feministischer Science-Fiction gewesen sind, doch sie waren nicht ohne Widerstand.

1970 war Kate Wilhelm für ihre Geschichte A Cold Dark Night With Snow für den Nebula-Award nominiert. Die meisten der Nominierungen zählten sich zur New Wave, einer lose definierten Gruppe progressiver Nachwuchsautor*innen oder waren experimentell in ihrem Zugang zur Science-Fiction. In diesem Jahr (und nicht nur in diesem Jahr) erhielt die auf den Stimmzetteln angegebene Option „No Award“ die meisten Stimmen. Mehrere Mitglieder der Science Fiction and Fantasy Writers of America (SFWA)-Organisation standen auf und begannen minutenlang zu klatschen: Diese neue Art, Science-Fiction zu schreiben – die Form ebenso wie die „Agenda“ –, schien ihnen nicht zu behagen. Sie hielten keine der Geschichten für preiswürdig. Inmitten von politischen und soziokulturellen Umwandlungen verlangten sie nach unpolitischen Weltraumabenteuern.

Nun ist auch das ein legitimer Wunsch, aber Frauen und andere nicht-männliche Autor*innen können ihren alltäglichen Kämpfen oft nicht so einfach entkommen und nehmen sie automatisch mit in die Science-Fiction. Und das ist gut so, denn hier lassen sie sich nicht nur thematisieren, sondern auch – schlussendlich – auflösen. Der Widerstand dagegen ist nicht ohne Grund vorprogrammiert: Die Normen und Werte für menschliches Zusammenleben, die seit Jahrzehnten auch in der Science-Fiction immer wieder reproduziert werden, sind einer Hierarchie dienlich, die vielen Leuten so gefällt, wie sie ist.

Und somit ende ich mit einem (selbst übersetzten) Zitat aus Hier sangen früher Vögel:

„Wenn die Basis verschwindet, nimmt sie auch die Spitze mit, egal, wie elaboriert das Leben ist, das sich dort oben entwickelt hat. Die Spitze wird mit der Basis pulverisiert, wenn es erst einmal einen Kollaps gibt. Wenn sich eine neue Struktur erheben soll, muss sie am Boden beginnen, nicht an der Spitze dessen, was in den vergangenen Jahrhunderten gebaut wurde.“

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.