Science Fiction

Science Fiction von Frauen #13: Charlie Jane Anders

Science Fiction von Frauen #13: Charlie Jane Anders
Judith Vogt, 14.07.2020
 

Weiter geht es mit unserer Kolumne über großartige Frauen in der Science-Fiction-Literatur. Heute im Porträt: TOR-Autorin Charlie Jane Anders, die zusammen mit ihrer*m ebenfalls schreibenden Partner*in Annalee Newitz[1] die Science Fiction durchqueert.

Politik und Popkultur

Charlie Jane Anders, geboren in Connecticut und aufgewachsen in Mansfield, studierte in Cambridge, lebte unter anderem eine Weile in Hong Kong und ist nun Wahl-Kalifornierin in San Francisco. Seit 2000 ist sie mit Annalee Newitz zusammen. Zusammen gaben sie von 2002 bis 2007 das „other magazine“ als „Magazin der Popkultur und Politik für die neuen Parias“ („magazine of pop culture and politics for the new outcasts“) heraus. Unter den Begriff der „neuen Parias“ fasst das queere Paar auch Kämpfer*innen rund um LGBT+-Rechte. Anders selbst ist trans Frau und engagierte sich zum Beispiel gegen die diskriminierenden Statuten der Vereinigung für bisexuelle Frauen in San Francisco, den Chasing Amy Social Club, der trans Frauen nur nach geschlechtsangleichender Operation aufnahm. Sie selbst sagt, sie habe auf die harte Tour lernen müssen, dass sie Aktivismus durch ihre Geschichten selbst besser verkraftet als direkten Aktivismus. Und somit ist sie vor allen Dingen in dem, was sie erzählt, mit wem sie erzählt und wo sie erzählt, entschieden politisch.

Engagement und Auszeichnungen

2006 gaben Newitz und sie die Anthologie „She’s Such a Geek“ heraus. Auf die Ausschreibung reagierten hunderte von Autorinnen, die ihre Geschichten erzählten. 2005 gewann Anders den Lambda Literaturpreis in der Kategorie für trans Autor*innen. Ihre Novelette „Six Months, Three Days“ gewann 2012 den Hugo und der auch auf Deutsch erschienene Roman „Alle Vögel unter dem Himmel“ wurde mit Auszeichnungen überhäuft, u.a. dem Nebula Award und der „Top 10“-Liste des Time-Magazines 2016. Einen weiteren Hugo erhielt sie 2019 mit Newitz zusammen in der Kategorie bester „Fancast“ für ihren Podcast „Our Opinions Are Correct“.

Sie organisierte die „Cross-Gender Caravan“, eine nationale Lesungstour für trans und nichtbinäre Autor*innen und saß in der Jury des Lambda Awards und des Otherwise Awards (ehemals James Tiptree Jr. Award). Sie arbeitete seit der Gründung von io9 durch Annalee Newitz bis 2016 an der Website mit, die Wissenschaft und Science-Fiction verknüpft. „Nach achteinhalb Jahren [dort] war ich mir ziemlich sicher, dass wir schon zu 100% in der Zukunft leben. Und ich wurde im Prinzip dafür bezahlt, übers Geschichtenerzählen abzugeeken!“ Auch der SF-Wissenschaftsaspekt in ihrem Erstling „Alle Vögel unter dem Himmel“ profitierte stark von ihrer io9-Zeit. 

Ihr neuester Roman „The City in the Middle of the Night“ erschien im vergangenen Jahr, steht zurzeit auf der Shortlist der Hugos 2020 und wurde – genau wie ihre Story „The Bookstore at the End of America“ – mit dem Locus Award 2020 augezeichnet. Sie veröffentlichte außerdem „Tonnen über Tonnen“ an Kurzgeschichten in den unterschiedlichsten Magazinen.

Über Bord mit den Genre-Kategorien!

Doch genug der schnöden Auflistung dessen, was Anders alles für die US-amerikanische SF-Szene getan hat! Werfen wir einmal einen Blick auf ihre Romane. Besonders „Alle Vögel unter dem Himmel“ tut, was Science-Fiction-Autor*innen niemals tun sollten: Es wirft Genre-Kategorien wild durcheinander und über Bord und schafft eine witzige, teils galgenhumorige, teils philosophische Mischung aus einem abgedrehten Magiekonzept, eine Near-Future-Apokalypse, einem Coming-of-Age-Roman, einer Liebesgeschichte und sogar einem Hauch Final-Frontier. Dabei springt die Erzählperspektive vor allem zwischen den Hauptfiguren Patricia (die ihr Talent fürs Zaubern entdeckt und direkt wieder zu verlieren scheint) und Laurence (der eine Zwei-Sekunden-Zeitmaschine und vielleicht ein Wurmloch zu einem anderen Planeten erfindet), aber auch zu zufälligen Personen, deren Wege die beiden einmal und nie wieder kreuzen, zum Vertrauenslehrer, der sich als Attentäter entpuppt, der eine Prophezeiung verhindern will, und vor allen Dingen zeitlich immer wieder weiter von einer Gegenwart, die der unseren ähnelt, bis in ein kataklystisches Ereignis in naher Zukunft.

Zufällig las ich diesen Roman und Annalee Newitz’ Sachbuch „Scatter, Adapt, and Remember“ parallel – noch ohne zu wissen, dass die beiden seit 20 Jahren ein Paar sind – und war immer wieder erstaunt über die ähnlichen Herangehensweisen an zukünftige zerstörerische Ereignisse wie Kriege und Klimawandel. Beide Bücher teilen ähnliche Gedanken zu Nachhaltigkeit und der Erhaltung unseres Lebensraums, wobei der Roman natürlich den Verlauf der Katastrophe tragikomisch überzeichnet.

Doch Anders hat nicht einfach nur Fantasy-Tropes und Science-Fiction-Tropes munter gemischt – „Alle Vögel unter dem Himmel“, so Anders, ist ein sehr persönliches Bekenntnis zu dem, was Fantasy und Science-Fiction für sie ausmachen, wie sie sich davon angesprochen fühlt. Überraschender als der Genremix sei für die meisten Lesenden ohnehin die Tatsache, dass man die Hauptfiguren etwa ein Viertel des Buches hindurch durch ihre Kindheit und Jugend begleitet, die von Mobbing und Außenseitererfahrungen geprägt ist. Teils ist das knallbunt und wild, aber es ist auch bedrohlich, weckt Erinnerungen für all jene unter uns, die selbst als Kinder und Jugendliche als Außenseiter*innen galten – eine häufige, oft schmerzhafte Gemeinsamkeit in Nerd-Kreisen.

Echos von LeGuin und Mieville

„The City in the Middle of the Night“ schlägt einen anderen Weg als „Alle Vögel“ ein, denn der Roman ist interstellare Science-Fiction aus der fernen Zukunft, die auf einem Exoplaneten namens January spielt. Auch dort geht es vor allen Dingen um zwei Perspektiven, die der introvertierten Sophie und die der knallharten Schmugglerin Mouth – und auch die Umwelt auf dem Planeten spielt mit Gegensätzen, denn auf einer Seite herrscht stets Tag und auf der anderen ewige Nacht. Die Menschen überleben im Zwielicht zwischen den Extremen. Bei den Alien-Spezies und den Begegnungen mit ihnen auf dem Planeten sagt Anders, sie habe sich stark von Octavia Butlers „Xenogenesis“-Reihe inspirieren lassen. In der menschlichen Gesellschaft stehen die Themen Zukunft und Kollaps wieder im Mittelpunkt und erinnern an LeGuin ebenso wie Mieville.

„Es gibt diese Diskussion darüber […], ob du eher optimistische oder pessimistische Geschichten schreibst“, sagt sie. „Ich sage immer, dass sich Optimismus und Pessimismus angewandt auf unsere Zukunft immer auf die Frage herunterkochen lassen, ob wir optimistisch oder pessimistisch hinsichtlich der menschlichen Natur sind. Werden wir uns selbst zerstören? Oder zusammenarbeiten und einige der Probleme lösen, die wir uns selbst eingebrockt haben?“

Empathie und Offenheit

2017 schrieb sie ihre Kurzgeschichtenantwort auf die Trump-Ära „Don’t Press Charges and I Won’t Sue“, in der eine trans Frau eine brutale medizinische Konversationtherapie durchläuft. „Mir liegt viel daran, dass Menschen einander mehr Empathie entgegenbringen“, so Anders in einem Interview dazu. „Ich denke, viel von dem, was gerade in der Welt um uns herum vor sich geht, liegt daran, dass Menschen nicht in der Lage sind zu kommunizieren und einander zu verstehen.“ Vor allen Dingen den Perspektiven Marginalisierter müsse mehr Offenheit entgegengebracht werden.

Ihre eigene Perspektive als trans Frau kommt in ihren Texten immer wieder vor, besonders der Kampf um die Identität, der andere Menschen feindlich gegenüberstehen. Die queere Community in San Francisco war für sie als junge Frau die Rettung – ebenso wie die Möglichkeit zur Entfaltung in fiktionalen Storys. Doch nach einer Weile brannte das Schreiben über die eigene Identität sie aus – auch der Gedanke daran, dass sie als weiße trans Frau vielleicht trans People of Color den lebensnotwendigen Raum zur Entfaltung und zum Ausdruck wegnimmt.

„Wenn du Mitglied einer bestimmten Gruppe bist, erwartet man von dir, dass du auf diese bestimmte, definierte Weise über deine Erfahrungen schreibst. Oft auf eine Art und Weise, dass die dominante Gruppe des Mainstreams es verstehen kann – und mit ihren Vokabeln.“ In der trans Literatur werde daher gerade erst an der Oberfläche gekratzt. Anders schwenkte darauf um, ihre eigenen Erfahrungen verschlüsselter – und dennoch allgegenwärtig – in ihre Geschichten einzubringen.

Nach Trumps Wahlsieg fragte sich Anders jedoch, ob diese Themen wieder sichtbarer in ihren Arbeiten werden sollten: „Es fühlte sich an, als sei unter mir ein Feuer entfacht worden“, sagt sie. Sie bemüht sich nicht erst seitdem, trans Personen, wo sie nur kann, sichtbar zu machen, und die sogenannten Mehrheitsgesellschaft die Facetten von Menschlichkeit sehen und verstehen zu lassen.

Writers with Drinks

Schon seit vielen Jahren bemüht sich Anders, freundschaftliche und kollegiale Bande zwischen Autor*innen zu knüpfen. In ihren Anfangszeiten als Autorin fühlte sie sich schreibend sehr isoliert, es war schwierig, Gleichgesinnte zu finden und mit ihnen „den Druck und den Wahnsinn des kreativen Prozesses“ zu bewältigen. Dabei stellte sie die Veranstaltungsreihe „Writers With Drinks“ in San Francisco auf die Beine, bei dem sie seit Anfang der 2000er meist die Gastgeberin gibt. Dabei heißt sie Autor*innen aller Genres und Stile willkommen – „so viele, wie ich in einen einzelnen Abend quetschen kann“, sagt sie. Dabei geht es explizit – anders als etwa beim Poetry Slams – nicht um eine Bewertung, sondern um Inspiration und gegenseitige Unterstützung. „Man sieht dabei, wie die Herangehensweisen und Techniken genreunabhängig sehr ähnlich sind. […] Außerdem erkennt man, dass jedes Genre auf seine eigene Weise sehr kraftvoll ist. Ich liebe es, wenn sich die Leute in einer Minute kaputtlachen und in der nächsten zu Tränen gerührt sind.“

Und da Anders Spezialistin darin ist, das eigene Geschriebene immer wieder in Frage zu stellen („Alle Vögel unter dem Himmel“ schrieb sie mehrmals komplett um, bevor sie den Eindruck hatte, dass es funktionierte), beende ich dieses Porträt mit einem Ratschlag von ihr an (zukünftige) Autor*innen:

„Der wichtigste Ratschlag, den ich Autor*innen geben kann, ist, durchzuhalten und weiterzuschrieben. Außerdem: Seid gut zu euch selbst. Autor*innen – besonders Neulinge – müssen zwei gegensätzliche Haltungen in sich vereinen: Der Glaube daran, dass sie verdammte Genies sind, dass ihre Ideen brillant sind, dass sie phantastische Geschichten erzählen können, sonst hätten sie ja nicht die Unverfrorenheit und Ausdauer, die großen, ehrgeizigen Geschichten zu erzählen, die sie erzählen wollen. Aber sie müssen sich auch darüber im Klaren sein, dass ihre Geschichten große Schwächen haben werden, dass es einfach ist, es zu vermasseln, dass es lange dauert, dieses Handwerk zu erlernen (und dass sie damit niemals fertig sein werden) und dass an Kritik vermutlich etwas dran ist. Diese Kombination aus Anmaßung und Bescheidenheit ist schwierig aufrechtzuerhalten und kann dich in den Wahnsinn treiben. Also, seid nett zu euch und schreibt weiter.“

[1] Auch Newitz habe ich in dieser Reihe schon porträtiert. Newitz ist nichtbinär und nutzt seit 2019 die englischen Pronomen „they/them“. Mit der freundlichen Zustimmung von Newitz dürfen wir das Porträt weiterhin in der Reihe über SF-Autorinnen führen.

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.

www.jcvogt.de