Science Fiction

Science Fiction von Frauen #11: Hao Jingfang

Science Fiction von Frauen #11: Hao Jingfang
Judith Vogt, 14.04.2020
 

Weiter geht es mit unserer Kolumne über großartige Frauen in der Science-Fiction-Literatur. Heute im Porträt: Hao Jingfang.

Wenige Autor*innen werden ins Deutsche übersetzt, wenn sie nicht gerade auf Englisch schreiben. Selbst Genre-Romane aus den Nachbarländern liegen letztlich nur in Ausnahmefällen (und nach Netflix-Verfilmungen) im Stapel in den Buchhandlungen. Doch in den letzten Jahren gibt es einige Stimmen aus China, die wir auch im deutschsprachigen Raum vernehmen können. „Schuld“ daran ist eigentlich Ken Liu.

Englisch als Tor in den internationalen Raum

Denn der Weg zu einer deutschen Übersetzung führt oft über eine Englische – manchmal sogar tatsächlich durch die Übersetzung einer Übersetzung; so wurde zum Beispiel Haruki Murakami vor einigen Jahren noch vom Japanischen ins Englische und dann vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Hao Jingfangs Roman Wandernde Himmel hat einen deutschsprachigen Übersetzer, der aus dem Chinesischen übersetzt – und trotzdem war der erste Schritt für eine Übersetzung das Betreten des englischsprachigen Markts.

Ken Liu hat 2015 die erste Hugo-Verleihung an einen chinesischen Autor möglich gemacht: Er übersetzte Die drei Sonnen (The Three Body Problem) seines bereits mehrfach mit chinesischen SF-Preisen überhäuften Nachnamensvetters Liu Cixin ins Englische, und dieser erhielt als erster chinesischer Autor den Hugo-Award. Die drei Sonnen ist sogar erst der zweite mit dem Hugo ausgezeichnete Roman, der nicht originär auf Englisch erschien, nach einem französischen Roman 1963.

2015 übersetzte Ken Liu, selbst sino-amerikanischer SFF-Schriftsteller, Hao Jingfangs Novelle »Folding Beijing« für das Uncanny Magazine ins Englische – und damit wurde Hao auch für den deutschsprachigen Markt interessant.

Peking falten und in die USA schielen

Auch das ist natürlich nicht unproblematisch. Es wird für Leser*innen grundsätzlich einfacher, eine größere Diversität in der Science Fiction zu erfahren – aber gerade, was nicht-deutschsprachige und nicht-englischsprachige SF angeht, sind wir sehr stark darauf angewiesen, dass es Übersetzungen gibt. Und in einem Genre, das nicht keinen großen Marktanteil hat, stehen unsere Chancen, nicht-englischsprachige Autor*innen kennenzulernen, daher eher schlecht. Es ist natürlich gut, dass die großen »internationalen«, sprich US-zentrierten Awards sich diversifizieren und sich dieses Problems bewusst sind – doch damit laden wir auch die Verantwortung, sich über Sprachen- und Nationengrenzen hinweg um eine Vielfältigkeit der Science Fiction und Fantasy zu bemühen, auf den guten Willen beispielsweise der World Science Fiction Society ab. Aber blicken wir positiv in die Zukunft, so wie Hao Jingfang es tut – manchmal.

Möge die reale Zukunft positiver sein!

Hao, 1984 geboren, erhielt bereits 2002 ihren ersten Literaturpreis und einen Platz an der Chinesisch-Fakultät der Peking-Universität. Sie jedoch wollte Physik studieren und schloss noch einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften an. Sie hat in China zwei Romane und zwei Kurzgeschichtensammlungen veröffentlicht, arbeitete bereits als stellvertretende Direktorin beim Thinktank China Development Research Foundation, beschäftigte sich dort mit der Entwicklung der neuen Metropole Jing Jin-Jin, die rings um Peking entstehen soll, gründete 2017 das Tong Xing College als nachhaltiges, kreatives Bildungskonzept für Kinder und wurde 2018 Gastdozentin an der Harvard Kennedy School.

2016 erhielt sie als zweite Person aus China den Hugo-Award für die beste »Novellette«. (Da es diese Kategorien im deutschsprachigen Raum so nicht gibt, hier kurz eine Erläuterung: Als Kurzgeschichte gilt ein Text, der bis zu 7.500 Wörter zählt, Novelletten haben zwischen 7.500 und 17.000 Wörtern, Novellen zwischen 17.000 und 40.000 und Romane mehr als 40.000. Im US-amerikanischen Raum eine gutgepflegte Tradition, erscheinen Novellen und Novelletten auf Deutsch meist zu einem romandicken Buch zusammengefasst, wie beispielsweise Nnedi Okorafors Binti oder Martha Wells’ Tagebuch eines Killerroboters.) In ihrer Hugo-Dankesrede schildert Hao, dass sie als Science-Fiction-Autorin verschiedene Szenarien für den Abend im Kopf hatte: Das Hugo-Award-Szenario und das Szenario, in der sie zur legendären Hugo-Loser-Party geht – sie sei sich nicht sicher, welches die bessere Alternative sei (es ist eine wirklich legendäre Party!). Auch ihre Novellette stelle ein Zukunftsszenario vor. Nicht das optimistischste für die Herausforderungen, die uns bevorstehen, aber auch nicht das düsterste, das, in dem Menschen verhungern und junge Leute in den Krieg geschickt werden, wie es meist in der Realität ende. Sie hoffe jedenfalls, dass die reale Zukunft positiver ausfallen

Erde falten und Himmel teilen

Denn in »Peking falten« wird Klassismus durch Sonnenstunden messbar. Die 80-Millionen-Metropole Peking faltet sich unterirdisch nach einem Zeitplan, der der Oberschicht 24 Stunden Erdoberfläche gewährt, der Mittelschicht 16 Stunden und der Unterschicht nur acht Nachtstunden zwischen 22 Uhr und 6 Uhr morgens. Die »Weggefalteten« fallen in einen tiefen Schlaf, ein Wechsel zwischen den – doppeldeutigen – Schichten ist nicht möglich. Die Unterschicht erledigt in diesem Drei-Klassen-System in der irdischen Nacht die Drecksarbeiten, so auch Hauptfigur Lao Dao, der in der Mülltrennung arbeitet – bis er einen Auftrag erhält, der ihn die Grenzen überwinden lässt.

Wo Liu Cixin sich zumindest nach außen unpolitisch gibt und sich nicht zu politischen Interpretationen von Leser*innen äußert, ermuntert Haos Schreibe ein Auseinandersetzen mit düsteren Zukunftsvisionen, urbaner Überbevölkerung, Klassenunterschieden und politischen Systemen. Sie glaube an eine Zukunft, so Hao, in der in China die Stimme des Volkes gehört wird, in der mehr Kreativität zugelassen und gepflegt wird.

Hao sagt im Vorwort zu »Peking falten«, das im kleinen, unabhängigen Elsinor-Verlag auf Deutsch erschien: »Im Genre Science Fiction ist die Freiheit noch am größten. Das läuft unter dem Radar. Da kann man sich mehr trauen.« Dennoch streben ihre Figuren nach keiner radikalen Veränderung. Die gefaltete Welt des zukünftigen Pekings ist faszinierend, gleichzeitig bleibt man lesend in der Distanz zurück. Auch Lao Dao strebt nicht nach Veränderung oder nach mehr Freiheit. Die Interpretation dieser Distanz ist Leser*innensache!

Der rote Planet

Es hat Tradition, dass der besiedelte rote Mars kommunistisch ist, und Ähnliches erwartet man bei Wandernde Himmel, das 2018 bei Rowohlt erschien. Als Autorin ist Hao eine Frau der Gegensätze: Nach der Kleinform der Novellette ist ihr Roman mit über 700 Seiten ein ganz schöner Brocken, in dem detailreich eine an Bauhaus-Architektur aus Glasröhren und Glaswänden erinnernde Kuppelstadt auf dem Mars entworfen wird. Ähnlich wie in Freie Geister von Ursula K. Le Guin befinden sich die beiden von Menschen besiedelten Planeten, in diesem Fall Erde und Mars, in einem politischen Grabenkampf verschiedener Lebensweisen und Systeme. Nicht ganz 200 Jahre in der Zukunft hat sich auf der Erde nur wwenig getan – Hao entwirft einen heteronormativen Turbokapitalismus, in dem vor allen Dingen Männer das Sagen haben. Der Mars ist vorsichtig andere Wege gegangen – aber nicht der Kommunismus bildet den Kontrast zum Kapitalismus, sondern eine Bürgerdemokratie unter einem Herrscher, der auf der Erde als Tyrann verschrien ist; dem Großvater der Protagonistin Luoying. Luoying gehört nach Jahren ohne Kommunikation zwischen den beiden Gesellschaften zu einer Delegation aus Jugendlichen, die fünf Jahre auf der Erde lebten und als junge Erwachsene auf den Mars zurückkehren.

Was Luoying einst Heimat war, bietet ihr nicht mehr die gewünschte Sicherheit: Während das System für alle seine Bürger*innen Ordnung und Unterhalt bietet, fehlt Luoying die (irdische) Möglichkeit, sich in neue Lebensweisen und Lebenswege fallen zu lassen. Der Roman spielt mit den Dimensionen der Naturwissenschaften und »Hard SF«-Technologien ebenso wie mit Philosophie und der ewigen Frage danach, wie Menschen leben wollen, wie sie nachhaltig und friedvoll miteinander leben können.  Dabei wäre es zu platt zu behaupten, dass Hao mit Mars und Erde Parabeln zu China und den USA schafft; vor allen Dingen die Dichotomie Individualismus und Kollektivismus zieht sich durch den Roman, wird benannt und spiegelt wider, dass dieses Thema gerade für die jüngeren Generationen in ostasiatischen Ländern und viele Menschen weltweit eine große Rolle in der eigenen Biographie spielt. Haos Fragen nach menschlicher Natur, nach Ordnung, Beobachtung und Freiheit, sind universell und bündeln sich zur großen Frage der Science-Fiction: Wie wollen wir leben?

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.

www.jcvogt.de