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Schwarzromantisches Spiel mit Erzählstrukturen – Notizen einer Autorin

Schwarzromantisches Spiel mit Erzählstrukturen – Notizen einer Autorin
© Midjourney
Swantje Niemann, 16.09.2022
 

Swantje Niemann wirft einen Blick auf die originellen Erzählstrukturen der Klassiker und Gothic Novels „Dracula“ und „Frankenstein“ sowie auf den erst kürzlich erschienenen Fantasy-Roman „Das Reich der Vampire“ von Jay Kristoff, und erklärt, was sie als Autorin daraus mitnimmt.

Man muss Bücher wie „Dracula“ und „Frankenstein“ nicht gelesen haben, um zu wissen, worum es in ihnen geht. Aber was dabei manchmal untergeht, ist, dass diese Bücher tatsächlich weitaus weniger gradlinig erzählt sind, als ihre modernen Adaptionen annehmen lassen. Und letztes Jahr erst habe ich mit Jay Kristoffs „Das Reich der Vampire“ ein Buch gelesen, das nicht nur fast schon übertrieben die düster-romantische Ästhetik klassischer Vampirgeschichten aufnimmt, sondern ebenfalls ein paar interessante Dinge mit der Erzählweise anstellt. Die Briefroman- oder Geschichte-in-der-Geschichte-Elemente bewirken in jedem dieser Romane etwas anderes – aber sie sind in allen drei Fällen mehr als nur ein Gimmick, und formen das Leseerlebnis entscheidend mit.

„Dracula“ als überraschend atmosphärische Kollage

Bram Stokers „Dracula“ ist der berühmteste Vampirroman überhaupt – und hat eine interessante Struktur, präsentiert sich das Buch doch als eine Sammlung von Textzeugnissen über eine unheimliche Serie von realen Ereignissen, zusammengetragen von einem nicht näher benannten Herausgeber.

Die Geschichte beginnt mit dem Journal des jungen Anwalts Jonathan Harker, der nach Osteuropa reist, um den Kauf einer Immobilie durch den mysteriösen Graf Dracula zu besiegeln. Obwohl ihn die Bewohner*innen der Umgebung warnen, sucht er ihn in dessen Schloss auf. Nach und nach wird immer deutlicher, dass er auf die Warnungen hätte hören sollen. Und schließlich fällt jeder Zweifel von ihm ab, dass er es in Dracula und dessen Mitbewohnerinnen mit etwas sehr, sehr Übernatürlichem und sehr, sehr Gefährlichem zu tun hat.

Seine Aufzeichnungen enden mit einem Cliffhanger und es geht mit der Korrespondenz und dem Journal von Mina Murray, Jonathans Verlobter, weiter, die ihrer besten Freundin Lucy Westenra schreibt. Auch Jack Seward, einer der Männer, die um Lucys Hand anhalten, schreibt ein Tagebuch über einen Patienten, der wirr über den Verzehr von Lebenskraft und die Ankunft eines Meisters redet. Und der Kapitän eines Geisterschiffs ist in zunehmend verstörten Einträgen in einem Logbuch verewigt, die davon erzählen, wie ein Crew-Mitglied nach dem anderen verschwindet.

All diese Aufzeichnungen fügen sich zu einem auch für moderne Lesende überraschend unheilverkündend-atmosphärischen Mosaik zusammen, wobei die sehr viktorianische Weltsicht der Protagonist*innen hier und da irritiert. Immer wieder sind Briefe und Telegramme eingefügt. Die Struktur trägt hier stark zur Spannung und Atmosphäre bei, ist doch teilweise nicht klar, welches Schicksal die Verfasser*innen der Texte ereilt hat und tut das Buch doch so, als handle es sich um reale Ereignisse.

Es dauert lange, bis die Figuren verstehen, mit was sie es zu tun haben und was sie dagegen unternehmen können (Abraham van Helsing ist hier übrigens eine weniger große Hilfe, als man es auf der Grundlage seines Popkultur-Images vermuten würde). Zum Ende des Buches hin, als die Handlung Tempo aufnimmt, liest sich das Buch konventioneller, auch wenn es nach wie vor in Form von detaillierten Journaleinträgen verschiedener Hauptfiguren geschrieben ist.

Noch einmal verstärkt ist das Gefühl, es mit einer Sammlung von Primärquellen zu tun zu haben, in den Anmerkungen Leslie Klingers, der eine Prachtausgabe von „Dracula“ annotiert hat. Denn obwohl einige Anmerkungen „Dracula“ als literarisches Werk betrachten und einordnen, nehmen andere eine „Watsonische“ Perspektive ein und sind quasi so geschrieben, als könne es sich um Aufzeichnungen realer Ereignisse handeln.

Mitgefühl und Rekontextualisierung in „Frankenstein“

Als ich vor ein paar Jahren für mein Studium „Frankenstein“ zum zweiten Mal gelesen habe, war ich überrascht. Ich konnte mich gut an so ziemlich alles erinnern, was Victor Frankenstein und die Kreatur gemacht und erzählt haben, aber ich hatte komplett vergessen, dass die Geschichte quasi drei Stufen hat: Im hohen Norden findet der Forscher Walton, wie er in Briefen an seine Schwester erzählt, einen einsamen, von einem heftigen Fieber ergriffenen Mann, der ihm seine Geschichte erzählt.

Victor Frankenstein berichtet, wie er zu seiner Besessenheit mit Unsterblichkeit und der Schöpfung von Leben gekommen ist, wie es ihm gelang, neues Leben zu schaffen, und welche Auswirkungen das auf ihn hatte. Aber innerhalb seiner Geschichte kommt noch eine weitere Figur zu Wort: Frankensteins Kreatur selbst, die überraschend eloquent erzählt, was sich in ihrem Leben ereignet hat, nachdem Frankenstein entsetzt vor seiner Schöpfung geflohen ist.

Diese dreifach verschachtelte Struktur erlaubt es der Geschichte, einige sehr interessante Dinge zu tun, denn jedes Mal stellt das Erzählen aus der Perspektive einer Figur innerhalb der erzählten Geschichte die der vorherigen Figur infrage. Frankensteins Erzählung konfrontiert Walton damit, dass sein sehr idealistischer Blick auf seinen unerwarteten Gast (und einige seiner Ideen darüber, was man für wissenschaftlichen Fortschritt opfern darf) vielleicht nicht ganz so korrekt sind.

Die Perspektive der Kreatur zeigt uns dagegen die Geschichte und das Innenleben einer Figur, die wir bisher nur als das Monster gesehen haben, das Frankenstein keine Ruhe lässt. Aus einem fehlgeschlagenen Experiment wird plötzlich jemand, der zwar alles andere als eine ungebrochen positive Figur ist, aber unter anderen Umständen ein guter Mensch hätte sein können.

Shelley weckt gekonnt unser Mitgefühl mit den Figuren und lässt uns ihre Perspektive einnehmen, bringt uns aber auch immer wieder dazu, diese zu rekontextualisieren und unsere Meinungen zu überdenken, indem sie uns weitere Perspektiven zeigt. Waltons Geschichte fungiert auch als eine Klammer um die Ereignisse und verleiht dem Roman eine gewisse Symmetrie.

Spannung durch Zeitsprünge in „Das Reich der Vampire“

Nicht alle Romane, die ich hier vorstelle, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Ganz anders, aber ebenfalls äußerst effektiv setzt auch Jay Kristoff das Motiv einer Figur ein, die ihre Lebensgeschichte berichtet: In "Das Reich der Vampire“ erzählt Gabriel de Leon einem untoten Zuhörer, wie er zum Vampirjäger ausgebildet wurde und was seine Geschichte mit der des heiligen Grals zu tun hat, den die Vampire fürchten.

Hier und da fordert diese Erzählsituation ein wenig Aussetzung des Unglaubens – Gabriel erzählt in einem opulenten Stil, der wenig zu der weitaus umgangsprachlicheren Sprache seiner Dialogzeilen passt, und der Vampir, der seine Geschichte notiert, fordert genauere Erklärungen, wo die Lesenden sie brauchen und nicht, wo man ein besonderes Interesse seiner Fraktion erwarten würde. Aber letztlich trägt das zu einem guten Leseerlebnis bei (die Kombination aus düster-schwärmerischen Beschreibungen und knappen, respektlosen Dialogzeilen, die auch ein wenig an die Serie „Castlevania“ denken lässt, ist immer wieder eine Quelle von Humor) und es lässt sich nicht leugnen, dass die Lektüre von „Das Reich der Vampire“ unter anderem wegen der Erzählsituation und der strukturellen Besonderheiten, die sie hervorruft, sehr viel Spannung und Spaß bietet.

Gabriel, der einigen Themen so lange wie möglich ausweichen möchte, springt zwischen zwei Zeitebenen hin und her: In einer erzählt er, wie er zu einem „Silver Saint“, einem Vampirjäger mit übernatürlichen Fähigkeiten, wurde. Im zweiten Erzählstrang sind seine Verbindungen zu dem Orden, in dem er ausgebildet wurde, abgerissen, seine Fähigkeiten haben sich verändert und eben noch wichtige Figuren tauchen nicht länger auf. Auch liegt zwischen dem Gabriel des ersten und dem Gabriel des zweiten Erzählstrangs offensichtlich eine Kette dramatischer, desillusionierender Ereignisse. Die Neugier darauf, was genau passiert ist und warum sich Gabriels Motivation so verändert hat, ist eine starke Motivation zum Weiterlesen. Und natürlich wirft die Erzählsituation an sich auch die Frage auf, wie genau Gabriel in der Gewalt seiner Feinde gelandet ist.

Hinzu kommt, dass diese Art des Erzählens es natürlich wirken lässt, wenn Phasen, die für Lesende gleichzeitig unangenehm, aber auch etwas unspektakulär wären – zum Beispiel eine Zeit, in der Gabriel quasi ein Ausgestoßener ist – in wenigen Worten abgehandelt werden. Er hat schlichtweg keine Lust, darüber zu reden, und der Vampir, mit dem er redet, ist auch nicht wirklich an dieser Zeit interessiert und stochert daher nicht nach Details. Insgesamt erlaubt es die Erzählsituation der Geschichte also, sich auf natürlich wirkende Weise von einem spannenden Punkt zum nächsten zu bewegen, aber auch strategisch Informationen auszulassen.

Meine persönlichen Takeaways

Es gibt einiges, was dafür spricht, eine Geschichte einfach linear und direkt in der ersten oder dritten Person zu erzählen. Doch richtig eingesetzt, kann auch eine Erzählsituation in der Geschichte eine echte Bereicherung sein – sie kann genutzt werden, um neugierig machende Vorausdeutungen und Auslassungen organisch wirken zu lassen oder eine bestimmte Atmosphäre zu wecken und ruft uns immer wieder die Subjektivität des Erzählten ins Gedächtnis. Oft sind Lesende angehalten, die Geschichte zu genießen, aber eben auch nicht zu viel Vertrauen in die erzählende Person zu setzen und besonders darauf zu achten, wie ihre Perspektive die erzählten Ereignisse einfärbt.

Swantje Niemann
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Swantje Niemann

Swantje Niemann wurde 1996 in Berlin geboren. Als Leserin, aber auch als Autorin ist sie am liebsten in den verschiedenen Subgenres der Phantastik unterwegs und teilt auch gerne in Blogposts und Rezensionen ihre Eindrücke von Büchern. Sie schreibt unter anderem für das Fanzine „Phantast“. 2021 erschien ihr vierter Roman, „Das Buch der Augen“. Mehr Informationen findet ihr unter https://www.swantjeniemann.de