Andreas Fliedner, 09.11.2019
Wo anfangen im Dickicht von Lovecrafts zahlreichen Kurzgeschichten? Andreas Fliedner, Lovecraft-Übersetzer und Herausgeber von „Cthulhus Ruf – Das Lesebuch“, hat seine persönlichen fünf Lieblingserzählungen auserkoren.
H. P. Lovecraft war ein Autor, den man in der Sprache des heutigen Feuilletons als „meinungsfreudig“ bezeichnen würde: Er hatte wenig Scheu, das Werk anderer Schriftsteller zu bewerten. Liest man Das übernatürliche Grauen in der Literatur, seinen Großessay über die Geschichte des unheimlichen Erzählens, oder seinen umfangreichen Briefwechsel, dann stößt man immer wieder auf zwar vornehm formulierte, aber inhaltlich umso pointiertere Urteile über lebende und tote Kollegen. Auch dem Aufstellen von Rankings und Bestenlisten war Lovecraft keineswegs abhold. Anfang der 1930er Jahre fertigte er für die Literaturseite der Providence Evening News, der Tageszeitung seiner Heimatstadt, eine Liste der zehn besten unheimlichen Erzählungen an, die er in der Folge mehrfach ergänzte und umarbeitete. Zudem wissen wir von ihm selbst, welche seiner eigenen Geschichten er für die gelungensten hielt, nämlich „Die Farbe aus dem All“ und „Die Musik des Erich Zann“. Man tut Lovecraft also keine Gewalt an, wenn man eine Liste seiner besten Erzählungen zusammenstellen will.
Aber schon stellt sich die Frage, was eigentlich mit „beste Erzählungen“ gemeint sein kann. Die Erzählungen, die literarisch am wertvollsten sind – nach welchen Kriterien auch immer das zu entscheiden wäre – oder diejenigen, mit denen er am stärksten gewirkt hat, mit denen Lovecraft als „literarischer Kopernikus“ (Fritz Leiber) die Genres der unheimlichen Phantastik und der Science Fiction radikal erneuert hat? Oder müsste eine solche Liste nicht eher diejenigen Geschichten versammeln, mit denen Lovecraft den tiefsten Eindruck bei seinen Leserinnen und Lesern hinterlässt: diejenigen, die am meisten verstören oder in denen man sich beim Lesen am meisten zuhause fühlt – auf jene schwer fassbare, aber umso intensivere Art, auf die man sich in Lovecrafts imaginären Landschaften zuhause fühlen kann – oder beides. Alles deutet also darauf hin, dass es verschiedene solcher Listen gibt: eine oder mehrere, gleichsam offizielle für die Annalen der phantastischen Literatur und eine oder mehrere oder präziser: unbegrenzt viele inoffizielle – so viele, wie es Lovecraft-Leser gibt.
In diesem letzteren Sinne folgen hier die fünf Lovecraft-Geschichten, die den Verfasser dieser Zeilen auf die eine oder andere Art am tiefsten berührt haben. Wohl nicht ganz zufällig finden sich darunter auch die beiden schon erwähnten, die Lovecraft selbst als seine besten ansah.
5. „Das Fest“
Für mich ist diese Quasi-Weihnachtsgeschichte die schönste der „kleinen“, oft übersehenen Lovecraft-Erzählungen. Ist nicht das ersehnte und mit Erwartungen überladene Nach-Hause-Kommen und die unvermeidlich folgende Enttäuschung, die Lovecraft hier in einer poetischen Horror-Version ebenso atmosphärisch wie eindringlich schildert, das weihnachtliche Gefühl par excellence? Ebenso liebe ich es, wie der notorische Rassist Lovecraft sich in dieser Erzählung selbst als „dunklen und verstohlenen Fremden“ stilisiert, ein Perspektivwechsel, der meiner Ansicht nach ebenso viel über seinen Rassismus wie über seinen Rang als Schriftsteller aussagt. Wenn am Schluss der Erzählung die Teilnehmer des Festes auf gummiartigen Echsen davonfliegen, so ist dies als Absturz in eine Pulp-Ästhetik kritisiert worden, der das zuvor erreichte „Niveau“ der Geschichte in Mitleidenschaft zieht. Doch spürt man hier nicht ebenso sehr, dass das Pulp-Element schlicht ein integraler Bestandteil von Lovecrafts Erzählen ist, der nichts daran ändert, dass wir uns mit Lovecraft, um seinen großen Verehrer Michel Houellebecq zu zitieren, in der Poesie befinden?
4. „Der Schatten über Innsmouth“
Jemand hat einmal bemerkt, dass der große Anti-Erotiker Lovecraft ein erotisches Verhältnis eher zur Architektur als zu anderen Menschen hatte. Sicher ist jedenfalls, dass er ein intimer Kenner und Liebhaber der kolonialzeitlichen Baukunst der USA war. Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass in der Geschichte, die Michel Houellebecq als Lovecrafts „furchterregendste“ bezeichnet hat, das intensivste Grauen nicht aus der Natur der degenerierten Bewohner von Innsmouth entspringt, sondern aus Lovecrafts Schilderungen der verfallenden, menschenleeren Stadtlandschaft, in die er mit unglaublicher Kunstfertigkeit immer wieder „Inseln der Normalität“ setzt, an denen man sich, wider besserer Ahnungen, bei der Lektüre geradezu verzweifelt festklammern möchte. Ein besonderer Reiz dieser Meistererzählung liegt für mich darin, dass Lovecraft mit ihr – ob bewusst oder unbewusst mag dahingestellt bleiben – das Motiv der toten Stadt aufgreift, das spätestens seit George Rodenbachs Das tote Brügge (1892) ein fester Bestandteil der europäischen Dekadenzliteratur und Phantastik ist. Wenn Lovecraft dieses Motiv an die Küste Neuenglands versetzt, dann gewinnt es im „schattenumrankten Innsmouth“ eine fast unerträgliche Intensität.