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Fantasyromane schreiben (Teil 4): Fantasywesen erschaffen

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© Solomon_Barroa / pixabay

KOLUMNE

Fantasyromane schreiben (Teil 4): Fantasywesen erschaffen

 

Sylvia Englert, 02.12.2016

Drachen, Gargoyles, Dämonen, Elfen, Vampire, Einhörner, Werwölfe ... vielleicht wissen Sie schon, ob solche Gestalten in Ihrem Roman auftauchen sollen. Figuren, die zur menschlichen Mythologie gehören, haben den Vorteil, dass sie den Lesern schon in Grundzügen bekannt sind und Sie nicht mehr so viel erklären müssen. Außerdem haben all diese Wesen ihre Fans. Ich werde nie vergessen, wie mich einmal bei der Diskussion nach einer Sucher-Lesung (die ziemlich gut gelaufen war), ein Junge fragte: »Kommen in Ihrem Roman auch Drachen vor?« Geduldig erklärte ich, dass es in Daresh keine Drachen gab. »Dann lese ich den Roman nicht«, beschied mir der Junge. Uff.

Der Nachteil solcher Fabelwesen ist, dass sie eben schon sehr bekannt sind (ausgelutscht möchte ich hier nicht sagen, obwohl Vampire so vermutlich über uns reden) und es bei manchen Wesen nicht leicht ist, noch neue Facetten an ihnen zu finden. »Mich interessiert der 50. Roman um die ach so trinkfreudigen Zwerge nicht mehr wirklich, und die so meisterhaften Bogenschützen der Elben haben auch ein wenig ausgedient«, meint Carsten Kuhr, Redakteur bei phantastik-couch.de. »Nein, in der Mischung, in der Vielfältigkeit und der glaubwürdigen Entwicklung der Charaktere liegt die Zukunft – und da ist die Rasse sekundär.«

Unabhängig davon, was gerade im Trend liegt, sollten Sie sich nach Ihren eigenen Vorlieben richten. Denn wenn Sie keine Beziehung zu den Wesen aufbauen können, über die Sie schreiben, spürt man das natürlich. Fantasy-Expertin Maren Bonacker meint: »Meine persönlichen Lieblingswesen waren früher lange Zeit die Einhörner – ihre Zartheit hat mich begeistert, und ich habe seitenweise gertenschlanke Einhörner auf mondbeschienenen Felsen gemalt. Heute liebe ich die Drachen. Zum Teil, weil sie groß, mächtig, intelligent und außergewöhnlich sind, besonders aber aus literarischer Sicht wegen der Vielfalt und Spielmöglichkeit mit diesen Wesen. Im phantastischen Kinder- und Jugendbuch haben sie sich vom ›bösen‹ Wesen über das missverstandene Reptil, das eigentlich ganz nett ist, bis hin zum naturwissenschaftlich interessanten Forschungsobjekt gewandelt – diese Rollenverschiebung finde ich ungemein spannend, und ich frage mich, was wohl noch möglich ist.«

Ein Wesen – viele Facetten

Drachen sind wirklich ein dankbares Beispiel dafür, was für viele verschiedene Arten es gibt, ein Wesen darzustellen. Was spricht Sie mehr an, Drachen als mächtige Gefährten, Seelenverwandte und Reittiere wie in den Drachenreiter-Romanen von Anne McCaffrey oder in Christopher Paolinis Eragon? Oder mögen Sie Drachen als weise, für das Gleichgewicht der Welt bedeutsame Geschöpfe wie in der Wolkenvolk-Trilogie von Kai Meyer, in der seine Hauptfigur Nugua unter Drachen aufwächst? Oder reizen Sie eher die bösartigen, nach Juwelen gierenden Weltenvernichter im Hobbit und dem Herrn der Ringe? In meiner Erzählung Jalishas Gast (veröffentlicht in einer Arena-Anthologie) habe ich mich für die putzige Variante entschieden, dort gibt es einen blauen walisischen Zwergdrache, der einem, wenn man nicht aufpasst, schnell mal an der Wade hängt.

Kurz, wenn Sie Fabelwesen verwenden wollen, dann ist es an Ihnen, Ihre ganz eigene Interpretation dieser Wesen zu finden und interessante, vielleicht neue Facetten an ihnen zu entdecken. Sie können sich mit diesen Wesen alle Freiheiten erlauben, und niemand wird kommen und den Zeigefinger hochhalten nach dem Motto: »Aber Dämonen sind gar nicht so!« Dämonen sind in Ihrem Roman genau so, wie Sie sie haben wollen. Wichtig ist, dass die Wesen, die vorkommen, für Sie lebendig werden und durch ihre Eigenheiten und ihre Vielschichtigkeit für den Leser interessant sind.

Inspirationen aus der Mythologie

Wenn Sie ein Fabelwesen für Ihren Roman suchen, dann lohnt sich die Recherche in der Märchen- und Sagenwelt, natürlich nicht nur in der europäischen. Als sie ihre romantische Fanasy-Serie MondLichtSaga plante, wurde Marah Woolf in der schottisch-walisischen Mythologie fündig: »Mir war beim Schreiben relativ schnell klar, dass ich keinesfalls einen wunderschönen und perfekten Vampir in mein Buch lassen wollte. Die Parallelen zu Twilight wären mir zu groß gewesen«, erzählt sie. »Und mal ehrlich, Edward ist sowieso nicht zu schlagen. Was blieb übrig? Engel, Dämonen, Nachtmahre? Alles nicht mein Fall. Ich überlegte also weiter, und das einzige Element, dass mir einfiel und aus dem noch kein perfektes Wesen entstiegen war, blieb das Wasser. Nun wollte ich aber weder ein Selkie noch einen Nix. Ein Mann mit Fischschwanz oder einer, der in seinem zweiten Leben eine Robbe war – wer sollte sich in diesen schon verlieben? Der Mann, der mir vorschwebte, sollte einerseits relativ normal aber wiederum auch sehr außergewöhnlich sein. Also begann ich das Internet nach meiner Traumfigur zu durchstöbern. Es dauerte nicht lange, da stieß ich auch schon auf den Namen: Shellycoat. Ein perfekter Name für den perfekten Protagonisten.« Angeblich leben sie auf dem Grund von walisischen Seen und locken Mädchen mit Harfenklängen in ihr nasses Reich.

Neuschöpfungen

Mindestens ebenso interessant wie das Durchwühlen von Sagenwelten ist natürlich, eine Rasse (dieser Begriff wird in der Fantasy ganz neutral verwendet) oder Wesen neu zu erfinden. »Der Steinbeißer aus Michael Endes Unendlichen Geschichte ist ein Beispiel für eine gelungene Schöpfung«, meint Gustav Gaisbauer vom Ersten Deutschen Fantasy Club (EDFC). Ein meisterhafter Erfinder ist auch Walter Moers, der seine Welt Zamonien mit unzähligen schrägen Geschöpfen bevölkert hat – Haifischmaden (sehr skrupellos), Stollentrolle (pathologische Lügner), Blutschinken (machen gerne Ärger), Rettungssaurier (spezialisiert auf die Rettung in letzter Sekunde), Eydeeten (sieben Gehirne), Bolloggs (wirklich riesige Riesen, die hin und wieder ihren Kopf ablegen) und Dutzende von anderen Wesen. Meine zamonischen Lieblingswesen sind die Olfaktillen, die zu den Geruchsvampiren zählen und bis zu fünfzehn Nasen haben. Sie ernähren sich ausschließlich von Körpergeruch, was praktisch sein kann, wenn man welchen loswerden will. Doch manchmal machen sie sich auch unbeliebt:

 

Es gab eine etwas unbeliebtere, wesentlich kleinere Sorte von Olfaktillen mit nur vier Nasen, dafür aber mit acht Beinen, die auf schlechten Atem spezialisiert war und nachts auf die Gesichter von Schlafenden kletterte, um den Mundgeruch abzusaugen. Es konnte schockauslösend sein, nachts aufzuwachen und eine schnaufende Kleinolfaktille auf seinem Gesicht zu finden.

 

Der Leser profitiert davon, dass Blaubär, der Hauptfigur der 13 ½ Leben des Käpt´n Blaubär, durch das von seinem Lehrer implantierte Lexikon immer wieder Wissenswertes über Fauna, Flora und Phänomene des Kontinents erfährt. Nicht immer meldet sich das Lexikon rechtzeitig, um Blaubär vor Unheil zu bewahren, zum Beispiel wäre es für ihn sehr praktisch gewesen, rechtzeitig zu erfahren, was für eine Bedeutung die Tornadohaltestellen haben oder wie man sich aus dem Netz einer Waldspinnenhexe befreit. Für all diejenigen Autoren, deren Hauptfigur kein Lexikon im Kopf hat, empfiehlt sich ein Glossar am Schluss des Romans, in dem man nochmal alle Völker, Wesen, Bezeichnungen und sonstigen Erfindungen in wenigen Sätzen erklärt. Auf eine solche Übersicht reagieren Leser dankbar, denn nicht immer kann man sich in einer unvertrauten Welt alles leicht merken.

Gefährliche Wesen

Sie als Weltenerfinder werden häufig in die Situation kommen, gefährliche Wesen erfinden zu müssen, die Ihre Hauptfiguren in arge Bedrängnis bringen. Je fieser, desto besser. Die Brutalität und Gerissenheit der Orks kennen Sie sicher aus Tolkiens Werken, und schon mehrere andere Autoren haben die Orks in Romanen oder Reihen verwendet (sie werden einem richtig sympathisch, wenn der Roman aus ihrer Perspektive erzählt wird). Das fällt in diesem Fall nicht unter Fan-Fiction, weil das Tolkien-Universum eine so prägende Kraft entfaltet hat, dass die Figuren quasi universell geworden sind. Jedenfalls ist mir nicht bekannt, dass Stan Nicholls Lizenzgebühren an Tolkiens Erben bezahlt hätte. Für Sie heißt das Carte blanche, falls Sie sie ebenfalls ausleihen wollen – aber wollen Sie das wirklich? Es macht deutlich mehr Spaß, selbst Ungeheuer zu ersinnen, und Ihre Leser sind Ihnen sicher dankbar für die Abwechslung. Das Ungeheuer kann jede beliebige Gestalt haben – in Markus Heitz´ Ulldart zum Beispiel brechen Legionen von wurmartigen Wesen aus dem Boden hervor. Wirklich originell fand ich die Seidenrachen in Sam Bowrings Herr der Tränen:

 

Von allen Schöpfungen des Herrn der Tränen hasste Rostigan die Seidenrachen am meisten. Er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt lebten, denn sie hatten kein Fleisch am Leib. Nur Knochen verliehen ihnen Gestalt, die von rauer weißer Seide zusammengehalten wurde, welche sich dehnte und zusammenzog wie Muskelfasern. Sie hatten keine Stimmen, und das einzige Geräusch, das sie von sich gaben, war ein gelegentliches Klacken der Knochen. Der Rachen auf dem Boden öffnete das Maul und dehnte die Stränge, die es zusammenhielten. Nun konnte man die Zähne in den missgebildeten Kiefern sehen. Er schlug sie so heftig zusammen, dass sich die Spitzen durch die eigene Schnauze bohrten, schien dabei aber nichts zu empfinden.

Ein Soldat stürmte auf ihn zu und zerschlitzte die Seide am Flügel. Das Wesen schnappte nach ihm und biss zu. Es sah aus, als würde das Untier gefüttert, doch der leere Körper des Wesens hatte keinen Bauch. So tränkte nur Blut die weiße Seide. Der Rachen schüttelte seine Beute, um so viel wie möglich in sich aufzunehmen

Ein roter Seidenrachen war ein glücklicher Seidenrachen.

Ein Brandpfeil traf ihn in die Seite, setzte ihn jedoch nicht in Flammen, da die durchtränkten Stränge bereits zu feucht waren.

 

In meiner Nachtlilien-Trilogie gibt es verschiedene Wesen, die zur Gefahr werden können. Während die Hunderthänder, raupenähnliche Wesen mit rudimentärer Sprachfähigkeit (und ja, ziemlich vielen Händen), einem höchstens die Waffe stehlen und man den Eisenfressern leicht aus dem Weg gehen kann, sollte man sich vor Werpanthern und Skraelings – Vogel-Mensch-Wesen – unbedingt in Acht nehmen. Mehrere Skraeling-Schwärme werden von skrupellosen nichtmenschlichen Gegnern gezielt auf Jerusha und Kiéran gehetzt. Als meine Lektorin das Manuskript las, wandte sie ein, sie habe den Begriff »Skraelings« schon mal im Roman eines anderen Autors gelesen. Ups. Aber auch er hatte sich den Begriff nicht ausgedacht, sondern hatte ihn aus alten Quellen übernommen – so nannten nämlich die Wikinger die Menschen, die sie an der Küste des nordamerikanischen Kontinents antrafen und die ihnen fremd und widerlich erschienen. Mir war der Begriff während meines Amerikanistik-Studiums untergekommen, und ich hatte ihn mir für meinen Roman ausgeliehen. Da es ein historisches Wort war und nicht die Erfindung eines anderen Autors, durfte es im Roman bleiben.

Die Biologie sollte Sinn ergeben

Wer beim Erfinden von Fantasywesen gründlich vorgehen will, sollte sich alle wichtigen biologische Details überlegen:

  • Lebenszyklus
  • Lebensräume
  • Fortpflanzung
  • Kampfverhalten / Verteidigungsstrategien
  • Ernährung
  • Weltsicht
  • Körper
  • mögliche Symbiosen

etcetera hinzu. Und die Kernfrage ist, wie und warum hat sich das alles entwickelt, welcher evolutionäre Nutzen steht dahinter? Wie haben sich diese Geschöpfe an ihre Umwelt angepasst?

»Eigentlich habe nicht ich mir das alles ausgedacht, sondern die Evolution«, meint E. L. Greiff über die vielen phantastischen Wesen, die ihre Zwölf Wasser-Trilogie bevölkern. »Im Ernst: Wenn man, wie ich, schon seit Kindertagen leidenschaftlich Naturdokus schaut und auch viel draußen unterwegs ist, kann man nur immer wieder staunen: Was für irrwitzige Lebewesen es auf unserem Planeten gibt! Der Schritt vom realen Falken zur phantastischen Szasla ist übrigens kleiner, als man denkt. Man geht aus von einem Falkenauge, das über eine Entfernung von Hunderten von Metern eine Maus erspähen kann – und kommt zu einem Szasla-Auge, das bis hinein in die Zukunft schaut. Überhaupt kann ich nur dazu raten, sich intensiv mit unserer Welt zu befassen, wenn man eine andere erschaffen will.«

Natürlich müssen Sie biologische Details bei Rassen, die nicht oft in Ihrem Manuskript vorkommen, nicht erschöpfend behandeln, aber wenn sie für den Roman wichtig sind, lohnt es sich, auch diese Erfindungen möglichst »echt« wirken zu lassen.



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Du möchtest einen Fantasyroman schreiben oder bist schon mitten dabei und hättest gerne ein wenig Unterstützung von einer erfahrenen Autorin? Kein Problem. In meinen Artikeln, die auf meinem „Handbuch für Fantasy-Autoren“ basieren, geht es um handwerkliche Techniken und Tricks, die ich selbst gerne gekannt hätte, als ich meinen ersten Fantasyroman schrieb.

Sylvia Englert

Sylvia Englert ist Autorin, Lektorin und Journalistin. Jugendromane schreibt sie unter dem Namen Katja Brandis, Fantasy für Erwachsene unter dem Pseudonym Siri Lindberg – und unter ihrem richtigen Namen hat sie 2015 das Buch Fantasy schreiben und veröffentlichen publiziert.

www.sylvia-englert.de | www.katja-brandis.de | www.siri-lindberg.de