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Alles, was du über Einhörner wissen musst

Alles, was du über Einhörner wissen musst
© enriquelopezgarre / pixabay

Alessandra Reß, 06.08.2020

Von wegen „Das letzte Einhorn“: Im letzten Jahrzehnt haben die Zauberpferde mit dem Horn auf der Stirn in Werbung und Popkultur ein unvergleichliches Revival erlebt. Alessandra Reß geht dem Mythos vom Einhorn und seiner Darstellung in der Fantasy auf den Grund.

 

Kaum ein anderes Zauberwesen ist so prominent wie das Einhorn. Egal, ob man Fantasy nun mag oder nicht, ein Bild von ihnen hat sofort jeder im Kopf: Mähne und Schweif sind vielleicht etwas mehr Jugendstil als beim Schimmel auf der Weide nebenan, aber sonst ähnelt das Einhorn äußerlich einem weißen Pferd. Wäre da nur nicht das namensgebende Horn auf der Stirn, das sich in manchen Erzählungen jedoch nur magisch geübten Blicken offenbart.

In den meisten Interpretationen sind diese Einhörner sanftmütige Wesen mit reinem Herzen und mächtigen Heilkräften. Gefahrlos nähern dürfen sich ihnen allerdings nur Jungfrauen, bei allen anderen ist es mit der Sanftmut ganz schnell vorbei.

Vom Auerochsen zum Mythos

An diesem Punkt winkt auch schon die christliche Tradition des Einhorns, die ironischerweise auf einen Übersetzungsfehler zurückgehen soll: Im dritten Jahrhundert vor Christus wussten die griechischen Übersetzer nicht so recht, was sie mit dem hebräischen re’em anfangen sollten. Klar war nur, dass es sich hierbei um ein wildes, starkes Tier handelte, das offenbar über (mindestens) ein Horn verfügte. Also wurde aus dem re’em kurzerhand ein monokeros – ein Einhorn.

Das war allerdings längst nicht die erste Erwähnung eines Einhorns. Darstellungen von Tieren mit einem Horn auf der Stirn sind insbesondere aus dem asiatischen Raum seit Jahrtausenden bekannt, etwa aus der Indus-Kultur oder aus Mesopotamien. Später fanden sich im indischen Epos Mahabharata (entstanden zwischen 400 v. Chr. und 400 n. Chr.) mit dem Tier rshya und der Geschichte um den Jungen Rshyashringa gleich mehrere – wenn auch recht unterschiedliche – Einhorn-Darstellungen. Aus China stammt dagegen die Einhorn-Variante des qilin, aus Japan die Entsprechung kilin. Auch mehrere Gelehrte der Antike, darunter Aristoteles und Plinius der Ältere, erzählten von Einhorn-Sichtungen. Prägend für spätere Vorstellungen waren aber vor allem Kteasias von Knidos‘ Berichte der starken, wilden Exemplare Indiens, deren Horn antitoxische Wirkung haben soll.

Welche Tiersichtungen tatsächlich hinter den vermeintlichen Einhörnern steckten, ist bis heute umstritten. Im Falle des re’em verbarg sich hinter dem unverständlichen Wort schlicht ein Auerochse, was allerdings erst 1779 richtiggestellt wurde. Weitere Berichte könnten Darstellungen und Geschichten über Elasmotherien entsprungen sein, einer ausgestorbenen Art von Riesen-Nashörnern. Schmeichelhafter für das Einhorn ist die Vermutung, sie seien mythische Verwandte der Oryxantilopen oder von Rehen mit Hornmutationen (solche gibt es tatsächlich, ein bekanntes Exemplar wurde 2008 in der Toskana gesichtet).

Das Einhorn als Exportschlager

Was auch immer nun als Pate für die Ur-Einhörner herhielt: Im abendländischen Raum vermischten sich verschiedene Mythen, Reiseberichte und das Bibel-Monokeros zu einer angenommenen Tatsache. Trotzdem dominierte weiterhin das Bild eines starken, wilden Tiers. Erst im Mittelalter begann sich diese Vorstellung zu wandeln. Einhörner galten nun immer mehr als sanftmütige, reine Wohltäter, wie sie auch heute oft dargestellt werden. Ihrem Horn wurde nachgesagt, gegen Gift und Verbrennungen zu helfen, darunter sollte sich außerdem ein mächtiger Karfunkelstein verbergen. Erwähnungen in zeitgenössischen Reiseberichten nährten weiter die Gerüchte um das sagenhafte Einhorn. Angebliche Einhorn-Medizin und Trinkgefäße aus antitoxischem Horn wurden zum Renner, wovon noch heute Apotheken mit Einhorn-Emblem zeugen.

Um der Nachfrage gerecht zu werden, wurden aus dem Norden Europas Narwalhörner importiert und zu Pulvern und Gefäßen verarbeitet. Zwar sprach sich bald herum, dass die Hörner von Meereswesen stammten – doch in der Konsequenz etablierte sich zunächst nur das Gerücht von Meeres-Einhörnern. Erst 1638 verbreitete sich die Nachricht, dass es sich beim „Ainkhürn“ um Narwal-Hörner handelte.

Von Peter S. Beagle bis Joanne K. Rowling

Bei einer so illustren Vergangenheit ist es kein Wunder, dass Einhörner von Anfang an auch in der Fantasyliteratur präsent waren. Als eigene Persönlichkeiten traten sie allerdings lange nur bedingt auf. Meist blieben sie Staffage als exotische Reittiere, oder ihnen kamen – wie in Lewis Carrolls „Alice hinter den Spiegeln“ (1871) oder Elizabeth Goudges „Das kleine weiße Pferd“ (1946) – allegorische bzw. symbolbehaftete Rollen zu. Einen aktiveren Part übernahm das edle Einhorn Jewel an der Seite von Narnias König Tirian in „Der letzte Kampf“. Bemerkenswert ist auch die Storysammlung „Aus Vielen Ein Horn“ von Theodore Sturgeon (1953) und hier insbesondere die Geschichte um „The Silken-Swift“ (auf Deutsch als „Samtgeschwind“ oder „Seidenflink“ veröffentlicht), die das Bild der Unschuld kritisch hinterfragt.

Die wohl prägendste Darstellung des 20. Jahrhunderts verdankt das Fabelwesen jedoch Peter S. Beagle und dessen Roman „Das letzte Einhorn“, das auf dem Kinderbuch „Das weiße Reh“ von James Thurber basiert. Spätestens nach der Zeichentrick-Verfilmung von 1982 waren Einhörner auch in der modernen Fantasy fest als (oft gestaltwandelnde) Protagonisten etabliert. Weitere prominente Gattungsvertretende der Literatur tauchen etwa in Tanith Lees Tanaquil-Trilogie, Elizabeth Scarboroughs „Geschichten aus Argonia“, Terry Brooks Landover-, Piers Anthonys Doppelwelt-Saga oder Madeleine L’Engles „Durch Zeit und Raum“ auf. Besonders beliebt sind sie bis heute medienübergreifend von „My little Pony“ über Linda Chapmans „Sternenschweif“ bis hin zu Bruce Covilles „Die Einhorn-Chroniken“ in der Kinderfantasy. In „Harry Potter und der Stein der Weisen“ kommt ihnen dadurch eine Schlüsselrolle zu, dass Voldemort mit ihrem Blut ins Leben zurückzukehren versucht.

Im deutschsprachigen Raum haben sich den Einhörnern z. B. Max Kruse in dem märchenhaft-philosophischen „Das silberne Einhorn“, Ju Honisch in „Die Quelle der Malicorn“, Marc-Uwe Kling mit „Das NEINhorn“ oder die „Einhörner“-Anthologie von Fabienne Siegmund (Hrsg.) gewidmet. Ganz aktuell spielt es in Bernhard Hennens Chroniken von Azhur eine prominente Rolle und prangt sogar auf dem Cover des zweiten Bandes, „Die Weiße Königin“.

Einhörner in Space und Schokolade

Dass es nicht nur märchenhaft geht, zeigen beispielsweise Holly Black und Justine Larbalestier in der recht ungewöhnlichen Anthologie „Zombies vs. Unicorns“. Und selbst die Science Fiction kommt nicht ohne Einhörner aus: Unvergessen etwa die Rolle, die die Fabelwesen in „Blade Runner / Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“ einnehmen. Während sie sich dort aber reichlich objekthaft zeigen, dürfen sie in der Welt von „Battlestar Gallactica“ sogar einen ganzen Planeten besiedeln.

Obwohl die meisten dieser Werke ein Bild von Einhörnern als tendenziell nette Zeitgenossen zeichnen und sie gelegentlich sogar für Schokolade oder Toilettenhocker-Werbung herhalten müssen: Hin und wieder blitzt dabei auch noch das alte Bild des wilden, starken … Auerochsen hervor.

Alessandra Reß

Alessandra Reß wurde 1989 im Westerwald geboren, wo sie auch aufgewachsen ist. Nach Ende ihres Studiums der Kulturwissenschaft arbeitete sie mehrere Jahre als Redakteurin, ehe sie in den E-Learning-Bereich gewechselt ist.

Seit 2012 hat sie mehrere Romane, Novellen und Kurzgeschichten veröffentlicht, zudem ist sie seit mehr als 15 Jahren für verschiedene Fanzines tätig und betreibt in ihrer Freizeit den Blog „FragmentAnsichten“. Ihre Werke waren u. a. für den Deutschen Phantastik Preis und den SERAPH nominiert.

Mehr unter: https://fragmentansichten.com/