Fantasy

Die Entdeckung der Fantasie. Eine kleine Geschichte der türkischen Fantasy-Literatur

Eine kleine Geschichte der türkischen Fantasy-Literatur
Asena Meric, 18.05.2022
 

Die Geschichte der Fantasyliteratur in Amerika, England oder Deutschland ist soweit bekannt, aber wie sieht es eigentlich in der Türkei aus? Seit wann hat sich dort Fantasyliteratur als eigenes Genre herausgebildet? Wer sind die bedeutenden Autor*innen? Ein Essay über türkische Fantasy von Asena Meric. 

Fantasyelemente gab es in der türkischen Literatur schon immer. Nur waren diese Elemente in der Regel in surrealistische Motive verwoben, die von Epen, Legenden, Märchen, Mythen und Folklore beeinflusst sind. Eine eigene Romangattung hat sich erst viel später herausgebildet. Während Romane mit informativen, lehrreichen und erzieherischen Merkmalen von der Gesellschaft akzeptiert wurden, hat es viele Jahre gedauert, bis die phantastische Literatur in der türkischen Literatur Fuß gefasst hat. Die Hauptgründe dafür sind das traditionelle Literaturverständnis und die späte Modernisierung. In der Türkei neigten die Menschen relativ lange dazu, Antworten auf ihre Fragen nach dem Unbekannten eher in der kollektiv praktizierten Religion oder im traditionellen Glauben zu suchen. Die individuelle Neugierde hielt sich in Grenzen.

"Muhayyelat" von Aziz Efendi

Das Buch mit dem Titel Muhayyelat, das Aziz Efendi 1797 unter dem Einfluss von Tausendundeiner Nacht schrieb, vermochte jedoch diese Grenzen zu sprengen und gilt als das erste phantastische Genrebuch der türkischen Literatur. Das Werk verband Fantasyelemente mit mystischen Lehren und nahm die Leser mit auf eine metaphysische Reise. Auch griechische Werke inspirierten Aziz Efendi. Gelesen wurde Muhayyelat zumeist als ein einfaches Märchenbuch, das gelegentlich auch für seine übernatürlichen Ereignisse und Charaktere wie Dschinns, Feen kritisiert wurde. Dem Autor wurde vorgeworfen, mit dem Kopf in den Wolken zu leben. 

Auch in der Zeit nach dem Tanzimat (1839-1876) wurden literarische Werke, die moralische und soziale Werte vermittelten, mehr geschätzt. Von rein unterhaltenden Büchern hielt man dagegen wenig. Obwohl Fantasymotive in verschiedenen Buchgattungen verwendet wurden, galten sie lange Zeit als Merkmal der "Populärkultur" und erhielten nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient gehabt hätten.

Die Wissenschaftlerin und Autorin Ingeborg Böer hat jedoch behauptet, Aziz Efendis Muhayyelat sei der "Vater des modernen türkischen Romans". Jedenfalls hat nach Aziz Efendi die Zahl der Schriftsteller, die phantastische Elemente in ihre Werke aufgenommen haben, wenn auch langsam, zugenommen. Ein Hauptgrund dafür waren die Auswirkungen der Modernisierung und die aus dem Westen übersetzten Bücher. Zu den wichtigsten jetzt entstandenen Werken gehören Çengi von Ahmet Mithat Efendi, Amak-ı Hayal von Filibeli Ahmet Hilmi und Gulyabani von Hüseyin Rahmi Gürpınar. Obwohl diese Bücher Fantasyelemente enthielten, würde man sie immer noch nicht als „Fantasyliteratur“ im engeren Sinn betrachten.           

“Ein Verrückter auf freiem Fuß”: die Macht der Phantasie

Der Beginn des 20. Jahrhunderts war ein Wendepunkt in der osmanischen Modernisierung, und dieser bedeutende Wandel schlug sich auch in der Literatur nieder. Im Jahr 1910 wurde ein Roman mit dem Titel A'mak-ı Hayal von Shehbenderzade Filibeli Ahmet Hilmi veröffentlicht, der übernatürliche Ereignisse enthielt. Die Leser, die das Buch aufschlugen, begaben sich auf eine Reise in die Tiefen ihrer Phantasie. Darüber hinaus haben die Leser auch die Tür zu etwas geöffnet, das sie vorher nicht bemerkt hatten: zu ihrer "Vorstellungskraft". Die Schriftsteller und Dichter der damaligen Zeit waren davon so beeindruckt, dass sie die Fantasie mit einem "Wahnsinnigen, der sich im Irrenhaus frei bewegen kann" verglichen.

Fantasyelemente galten als Mittel, um den Leser auf eine Reise in seine innere Welt mitzunehmen und seine Identität zu entdecken. Gleichzeitig zielten sie darauf ab, zu unterhalten und psychologische, soziale und moralische Werte zu vermitteln. So hat auch Peyami Safa phantastische Elemente in sein 1949 veröffentlichtes Werk Der Stuhl von Mademoiselle Noraliya aufgenommen. In diesem Buch herrscht Ungewissheit darüber, ob es sich bei den beschriebenen Ereignissen um Realität oder Illusion handelt, da der Leser im Laufe des Romans erfährt, dass die Erlebnisse der Figuren Halluzinationen sind. 

Weitere wichtige Werke der literarischen Phantastik waren Nazlı Erays 1980 veröffentlichtes Buch Arzu Sapağında İnecek Var, Orphee, Yıldızlar Mektup Yazar, Ay Falcisi und Uyku İstasyonu. Außerdem war İhsan Oktay Anars 1995 veröffentlichter Atlas der unsichtbaren  Kontinente ein großer Bestseller in der Türkei. Das Buch wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Aber auch Sadık Yemnis Muska (1996), Öte Yer (1997) und Alev Alatlis Schrödingers Katze: Albtraum (1999) enthielten phantastische Elemente, die einen Schleier über die Wirklichkeit zogen. 

Modernismus und Postmodernismus haben die türkische Fantasy-Literatur vor allem zu Beginn der 2000er Jahre beeinflusst. Die Fantasymotive in den Romanen beschränkten sich in der Folge nicht mehr nur auf kleine magische Elemente, sondern zielten auch darauf ab, dem Leser unwirkliche Gegenden, Menschen und Leben vor Augen zu führen. Erst seit den 2000er Jahren, vor allem nachdem J.R.R. Tolkiens Der Herr der Ringe und J. K. Rowlings Harry Potter auf die große Leinwand kamen, haben sich türkische Schriftsteller getraut, waschechte Fantasyromane zu schreiben. Und das mit großer Leidenschaft und aus der Erkenntnis heraus, dass Menschen gute Fantasyromane brauchen, um die Schwierigkeiten des täglichen Lebens zu ertragen.

Die Entdeckung der phantastischen Welt

 Die phantastische türkische Literatur ist seit den 2000er-Jahren auf dem Vormarsch. Zwei Ausprägungen spielen dabei eine besondere Rolle: Bücher, die in einer alternativen Realität spielen und Bücher, die man vielleicht am ehesten als Urban Fantasy bezeichnen könnte.

Bei Ersteren geht es darum, dem Leser unwirkliche Geografien, Völker und Lebensformen nahezubringen. Es handelt sich dabei sicher um die „reinste“ Form von Fantasy, weil fast jedes Element übernatürliche und magische Züge trägt. Barış Müstecaplıoğlu ist der erste Schriftsteller, der diese Art von Fantasy-Romanen in der türkischen Literatur geschrieben hat. Die Serie der Legenden von Perg (ab 2013, vier Bücher), gilt als erste Fantasyserie in der Türkei und wurde in acht Sprachen übersetzt. Die Geschichte spielt vollständig in einer Sekundärwelt, es gibt nicht-menschliche Rassen, antike Mächte, Götter, Engel und Zauberer. Darüber hinaus sind die Ereignisse von Magie, Talismanen, Zeichen und Träumen geprägt.

Türkische Urban Fantasy projiziert surreale Elemente in die reale Welt. Die ersten Vertreter dieses Genres waren Sadık Yemnis Muska, Gündüz Ögüts Two Sides of the River, Saygın Ersins Zülfikar'in Hükmü, Erbain Fırtınası, Sibel Atasoys The Grinning Red Moon und Ahmet Aziz Congarlis Yılankayası. Die Fantasyelemente sind hier nicht so dominant wie in der ersten Art. Obwohl die Bücher übernatürliche Elemente enthalten, sind sie in der realen Welt angesiedelt. Außerdem waren einige in Märchenform geschrieben und hatten allegorische, ironische Figuren, die auf Träumen, Halluzinationen und Wahnvorstellungen beruhten.

Zu den wichtigen Fantasybüchern der letzten Jahre gehören İhsan Oktay Anars Siebter Tag (2012) und Galiz Kahraman (2014); Barış Müstecaplıoğlu hat eine Reihe mit dem Titel Das Land der Schamanen (2014–2019).

Obwohl die Fantasyliteratur als Genre in der Türkei erst spät akzeptiert wurde, hat das Interesse an ihr in den letzten Jahren bei den Lesern zugenommen. Türkische Fantasyautoren sind trotzdem noch relativ selten (und das obwohl die Türkei über reiche historische und mythische Quellen verfügt). Aber es ist zu hoffen, dass die neue Generation von Autoren und Lesern erkennt, dass sie mehr Fantasybücher braucht, um ihren Geist dazu anzuregen, über das Konkrete hinauszudenken.

Asena Meric

Asena Meric ist Fantasyautorin bei Carpe Diem Kitap, einem der bekanntesten türkischen Verlagshäuser. Sie hat einen Master-Abschluss in englischer Literatur. Sie organisiert türkische und englische Vorlesetage in Stadtbibliotheken. Als Umweltschützerin arbeitet sie ehrenamtlich im NABU. Sie fotografiert, malt und reist gerne an Orte, die auf Landkarten schwer zu finden sind.

Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Stuttgart.

Instagram: @asena.meric