Fantasy

Lasst uns Progressive Phantastik schreiben!

Lasst uns Progressive Phantastik schreiben!
© altmann / pixabay

James A. Sullivan und Judith Vogt, 16.08.2020

James A. Sullivan und Judith Vogt entwickeln das Konzept einer Progressiven Phantastik, die die Traditionen des Genres auf allen Ebenen hinterfragt, überkommene Motive aktualisiert und ungeahnte Kombinationen wagt.

Progressive Phantastik, was ist denn das? James A. Sullivan kündigte sein neustes Projekt auf Twitter als „Progressive High Fantasy“ an und formulierte den Gedanken einer progressiven Phantastik zusammen mit Nora Bendzko im Phantastik-Brunch-Podcast aus. Hier schreibt er zusammen mit Judith Vogt darüber.

Was ist Progressive Phantastik?

Wie jedes andere Genre bildet auch die Phantastik unsere Welt auf Erzählwelten ab – mitsamt unseren Träumen, Ängsten, Zielen und Hoffnungen. Die Phantastik eignet sich besser als jedes andere Genre dazu, Dinge, die noch nicht geschehen sind, so darstellen, als wären sie bereits geschehen oder als wären sie nie anders gewesen. Zugleich sind unsere Texte wie die aller Genres in Traditionen eingebettet, die seit langem bestehen und noch zu selten hinterfragt werden.

Die Progressive Phantastik setzt an der Stelle an, an der die Traditionen der Abbildung von Realität im Phantastischen im Weg stehen. Sie ist sich darüber im Klaren, dass jeder Text politisch ist und greift generell progressive Konzepte wie zum Beispiel Feminismus und Diversität auf und bildet sie in Erzählwelten ab. Das Progressive beschränkt sich aber nicht nur auf die Inhalte, sondern bezieht sich in Anlehnung an Progressive Rock und Progressive Metal in der Musik auch auf die Form. Statt unreflektierten Gewohnheiten oder präskriptiven Ratgebern zu folgen, sucht die Progressive Phantastik nach Formen, die den jeweiligen Stoff am besten zur Geltung bringen.

Progressive Phantastik beruht demnach auf einer Haltung, die Traditionen auf allen Ebenen hinterfragt, die obsoleten oder unpassenden fallen lässt, um dann mit den übrigen weiterzuarbeiten. 

Die Traditionen der Phantastik

Wenn wir uns die beiden großen Spielarten der Phantastik ansehen, scheint auf den ersten Blick alles klar zu sein: Die Science-Fiction wirkt progressiv; die Fantasy eher konservativ. Durch die Fokussierung auf die Zukunft fällt es der Science-Fiction leichter, mit Traditionen zu brechen. Sie muss einfach vieles fallen lassen, was in unserer Zeit bereits obsolet ist. Die Fantasy knüpft eher an alte - märchenhafte, mythische, mittelalterliche - Erzähltraditionen an, wodurch der Bezug auf uns und unsere Zeit oft nicht offensichtlich ist. Beispiele wären etwa die Artussage – Motive von Ritter*innen und Ritterlichkeit, Gralssuche und Held*innenreise – oder auch die Motive der Romantik oder jene aus den Fantasy-Werken des frühen 20. Jahrhunderts, vor allem bei Lord Dunsany und J. R. R. Tolkien. Der Bezug zu unserer Welt ist bei all diesen Erzählwerken nicht eindeutig. Das erschwert einerseits das Erkennen problematischer Traditionen, bietet aber auch Interpretationsspielräume und erklärt damit, warum z. B. die Artussage immer wieder aufgegriffen wird. Im Vergleich zu der Vorwärtsgewandtheit der Science-Fiction erscheint die Fantasy oft als das nostalgischere Genre. Es scheint von unserer Zeit losgelöst und traditionsverbunden zu sein. Ist es deswegen vielleicht schwieriger, progressive Fantasy zu schreiben als progressive Science-Fiction?

Wir glauben nicht – denn letztlich dreht sich „Progressivität“, unserem Verständnis nach, um die Geisteshaltung. Bleiben wir bei der Artusdichtung: Natürlich sind viele Motive immer noch faszinierend und relevant. Das Öde Land ist zum Beispiel aktuell wie nie. Doch statt rein historisierend vorzugehen, könnten wir uns die alten Traditionen und ihre phantastischen Elemente ansehen und überlegen, was zeitgemäß und für eine moderne Nacherzählung sinnvoll zu verwenden ist.

Was wir dafür – abseits von explizit historischen Fantasy-Romanen – loslassen müssen, ist das oft reproduzierte „Im Mittelalter war das aber so!“ oder schlimmer noch: „Dieses Detail in dem Fantasy-Roman kann nicht sein, weil es im Mittelalter anders war.“ (Ja, so etwas bekommen wir gelegentlich zu hören). Zunächst einmal verkennt ein solcher Einwand den Bezugspunkt der modernen Fantasy. Die Fantasy-Literatur steht weniger in der Tradition des „realen“ Mittelalters als in der Tradition der Literatur des Mittelalters – vor allem der Artusepik. Und dabei dürfen wir nie vergessen, dass die Artusepik nie eine realistische Abbildung der Wirklichkeit war. Man könnte sie als frühe Fantasy-Literatur bezeichnen. Wer also von Fantasy allgemein verlangt, sie solle historische Realität eins zu eins abbilden und nur ein bisschen Magie und einige Kreaturen hinzufügen, verkennt nicht nur, dass schon die Artusepik des Mittelalters diesen Ansprüchen nicht genügte, sondern verstellt auch den Blick auf all die Möglichkeiten, die wir als Schreibende haben, um diese alten Stoffe für unsere Zeit zu gewinnen oder aber unsere Zeit in diesen Stoffen sichtbar zu machen. Wir könnten das allgemein mit Traditionen tun, was in der Artusepik im Speziellen schon immer getan wurde: Wir schauen uns die Vorlagen an und adaptieren sie für unsere jeweilige Zeit und sorgen damit dafür, dass die Tradition in einem neuen Gewand überlebt.

Es ist verführerisch, eine Geschichte an „Altes“ und an historische Tatsachen anzulehnen. Es dient auch dazu, eine Leserschaft mit wiedererkennbaren Elementen in eine Geschichte zu transportieren und sie dort abzuholen, wo sie sich befindet bzw. gerne aufhält. Das ist Chance und Gefahr zugleich – eine Chance, weil wir dadurch Traditionen erneuern können; eine Gefahr, weil wir problematische Dinge reproduzieren und normalisieren. Zumindest wenn wir unreflektiert vorgehen. Reproduzieren und normalisieren wir hingegen nur das, was zu unserer Zeit passt, können wir die Motive, Stoffe und Themen am Leben halten, die für uns – Lesende, Schreibende, Verlagsmenschen – klassische Fantasy ausmachen.

Wozu dienen Traditionen?

Motive und Bilder können mit der Zeit zu einem Teil unseres kulturellen Gedächtnisses werden und damit Traditionen begründen oder modifizieren.

Es ist natürlich nützlich, auf ein gemeinsames Gedächtnis für archetypische Motive und Bilder, Figuren und Strukturen zurückgreifen zu können. Aber wenn sie uns blockieren und einschränken oder sogar verletzen, dann ist es Zeit für eine Brechung – eine Brechung von Stereotypen, eine Brechung von Erwartungen oder eine Erweiterung durch neue Ideen und gegenwärtige Motive und Gedanken, die das Alte anreichern und zu etwas Neuem machen.

Denn alte Vorstellungen bilden nach einer sexistischen, rassistischen, ableistischen und queerfeindlichen Geschichte unserer Kultur weiterhin Sexismus, Rassismus, Ableismus und Queerfeindlichkeit ab – oft sogar auf einem Stand, der unserer Gegenwart weit hinterherhinkt. Und auch, wenn etwas „früher so war“ – was sich im Übrigen heute ohnehin in den seltensten Fällen als objektiver Fakt feststellen lässt –, schreiben wir für unsere Gegenwart und brauchen Motive und Bilder, die mit der Gegenwart resonieren.

Wie schreibe ich denn nun progressive Phantastik?

Eine gute Nachricht: Progressive Phantastik haben wir natürlich nicht erfunden. Es gibt sie schon lange. Von Joanna Russ’ Alyx, Samuel R. Delanys Nimmèrÿa bis Kameron Hurleys The Mirror Empire und N.K. Jemisin Broken Earth gibt es einen immensen Geschichtenschatz, der die Pfade progressiver Phantastik beschreitet.

Wie können wir progressiv erzählen? Ein paar Ideen dazu:

  • Schaut euch alte Traditionen an. Von der Artusepik über Tolkien bis hin zum Space Western: Was daran sind zeitgemäße Motive und Strukturen? Was lässt sich „updaten“? Welche Fragen, die diese Tradition stellt, sind nach wie vor solche, die uns bewegen?
  • Jede Generation hat ihre eigenen Träume, Ängste und Hoffnungen, beeinflusst von Politik und Weltgeschehen. Wie lässt sich das, was uns beschäftigt, was dich beschäftigt, in der Phantastik thematisieren? Dazu gibt es wiederum ein paar Möglichkeiten – zum Beispiel: Heutige Ziele, Hoffnungen und Träume bilden den Status Quo im Rahmen der phantastischen Erzählung. Er ist nicht Thema der Geschichte, nur die Szenerie. Er wird nicht problematisiert, validiert und seine Existenz nicht in Frage gestellt. Der Konflikt entsteht aus etwas anderem. Oder aber dieser Status Quo entsteht gerade. Dann steht er im Mittelpunkt, und die Figuren arbeiten dafür oder dagegen.

Es ist jedoch leichter gesagt als getan: Auch ein neuer Status Quo kann Lesende verletzen, wenn sich Autor*innen nicht klarmachen, dass sie zwar von einer Gesellschaft erzählen, in der das jeweilige Problem gelöst ist, sie aber ignorieren, dass der Text von Menschen gelesen wird, die immer noch unter dem alten Status Quo leben. Trotz bester Absichten ist es möglich, dass wir Marginalisierungen wieder unkenntlich machen – und dadurch Marginalisierte erneut marginalisieren und aus Geschichten auslöschen. Bei Erzählwelten, in denen zum Beispiel durch Technologie oder Magie Körper nach Belieben verändert werden können, besteht je nach Umsetzung die Gefahr, dass Menschen mit Behinderung und trans Leute mit einem Schlag unsichtbar gemacht würden. Und plötzlich besteht die vermeintliche Utopie, die man vielleicht zu schreiben glaubte, nicht mehr darin, Ableismus, Transfeindlichkeit und andere Übel zu beseitigen, sondern darin, sie einfach totzuschweigen, weil die jeweiligen Marginalisierten einfach nicht da sind.

Wenn wir reale Machtstrukturen über Metaphern wie Aliens oder Fantasy-Völker kritisieren wollen, müssen wir ebenfalls sensibel vorgehen. Phantastik bildet Realität zwar grundsätzlich verfremdend ab, aber wenn wir beispielsweise das „Andere“, das „Fremde“ in unserer Erzählung implizit mit People of Color im realen Leben gleichsetzen, während die Wesen, die diesem „Fremden“, „Anderen“ begegnen, Weiße Menschen sind, zeigt das deutlich, auf wen die Texte abzielen und wer ausgeschlossen ist bzw. nicht mitgedacht wurde. Der Blick darauf, wer in Fantasy-Werken verfremdet dargestellt wird und wer nicht, lässt uns reale Machtstrukturen erkennen. Wie solche Metaphern dennoch gelingen können, hat James Mendez Hodes in einem seiner Essays zusammengefasst: Eine glaubhafte, echte Kritik muss unterdrückende Machtstrukturen nicht nur darstellen, sondern auch angreifen und herausfordern; wenn nicht, werden solche Dynamiken durch Wiederholung verstärkt. Und sie muss schließlich Menschen, die in der Realität marginalisiert werden und von -ismen betroffen sind, den Weg ebnen, Besitz von der eigenen Narrative zu ergreifen.

Damit wir keine Verletzungen reproduzieren, sollten wir uns untereinander austauschen, uns trauen, um Unterstützung zu bitten und uns Feedback einholen. Vor allem Sensitivity Reading kann uns dabei helfen, herauszufinden, ob unsere Absichten mit der Wirkung unserer Texte auf Betroffene übereinstimmen. Und wenn wir selbst Betroffene sind, sollten wir uns sichtbar machen, uns mit anderen vernetzen und unsere eigene Stimme in den Diskurs einbringen. Denn auch in der Phantastik ist die Zeit längst reif für eine vielfältige Autor*innenschaft, die die unterschiedlichsten eigenen Perspektiven mitbringt.

Das Hintergrundrauschen vom Status Quo

Zugegeben: Es ist schwierig, aus lebenslang erlernten Denkmustern auszubrechen. Ohne aktiv darüber nachzudenken, verharren wir im Bekannten – das ist nur menschlich. Und selbst, wenn wir aktiv daran arbeiten, kann es sein, dass wir in diese Muster zurückfallen. Ein Beispiel wäre das „gleichberechtigte Mittelalter“ vieler Fantasy-Rollenspiele: Es ist vor allen Dingen wie unser europäisches Mittelalter, aber die Geschlechter sind gleichberechtigt. Das sind häufig jedoch lediglich kosmetische Änderungen, die Geschlechtergleichberechtigung ist nicht tatsächlich im Weltenbau angelegt, sondern existiert nur an der Oberfläche. Es ist nicht von heute auf morgen umsetzbar, diese Grenzen und Schubladen im Kopf einzureißen und das Hintergrundrauschen des von uns als Alltag und „Normalität“ wahrgenommenen Status Quo tatsächlich zu hören und nicht als gegeben hinzunehmen. Daher ist Progressivität ein Weg, den wir von Album zu Album, pardon, Buch zu Buch und Geschichte zu Geschichte gehen. Wir denken immer ein Stück weiter – und lernen von den Werken unserer Kolleg*innen!

Und? Habt ihr Lust auf Progressive Phantastik? Dann nehmt gewohnte Elemente und verwendet, was ihr brauchen könnt. Brecht die Klischees, fügt Neues hinzu, aktualisiert überkommene Motive – oder findet welche, die euch aktuell oder ewig vorkommen. Nehmt aber auch Neues aus der Gegenwart, bildet sie ab. Progressivität fährt auf den beiden Gleisen von Altem und Neuem und lebt von ungeahnten Kombinationen. Unsere Ängste und Hoffnungen, unsere Träume, Ziele und Ideale können sich zu den alten Motiven dazugesellen und eine neue Form von Tradition bilden, die mit Sicherheit irgendwann auch wieder in Frage gestellt werden kann – und muss!

Übrigens gibt es beim Podcast Genderswapped eine ganze Stunde Gespräch zwischen Lena Richter, James A. Sullivan und Judith Vogt zum Thema Progressive Phantastik.

Anmerkung: Da es sich bei dem Begriff „Weiß“ (wie bei dem Begriff „Schwarz“) nicht um eine Bezeichnung für Hautfarbe handelt, sondern um ein soziales Konstrukt, wird es hier, um Missverständnisse zu vermeiden, großgeschrieben. 

James A. Sullivan

James A. Sullivan wurde 1974 in West Point (Highlands, New York) geboren und wuchs in Deutschland auf. Er studierte Anglistik, Germanistik und Allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität zu Köln. Zunächst schrieb er Fantasy-Romane  – Die Elfen (mit Bernhard Hennen), Der letzte Steinmagier und Nuramon. Später widmete er sich mit Chrysaor, Die Granden von Pandaros und zuletzt mit Die Stadt der Symbionten auch der Science Fiction. Im Netz ist er vor allem auf Twitter aktiv: https://twitter.com/fantasyautor

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.
www.jcvogt.de