BUCH
Science Fiction und Fantasy mit nichtbinären Charakteren
Für den Auftritt nichtbinärer Figuren bietet die Phantastik eine besonders geeignete Bühne. Warum diese Bühne bisher wenig genutzt wurde und was sich inzwischen dort tut, analysiert Judith Vogt – und gibt anschließend einige Romanempfehlungen.
Nichtbinarität – was ist das eigentlich?
Nichtbinarität ist eine Geschlechtsidentität, die sich auf einem Spektrum zwischen weiblich und männlich befindet, die variieren kann, die sich außerhalb von diesen beiden Geschlechtern befindet oder geschlechtslos ist. Nichtbinär zu sein bedeutet nicht (unbedingt), dass man inter* ist. Inter bezieht sich auf nicht-eindeutige Reproduktionsorgane – und an diesen ist das Geschlecht eines Menschen, wie wir mittlerweile hoffentlich alle wissen, nicht festzumachen.
Im Rahmen dieses Artikels könnte ich ohnehin nur ganz am Rande darauf eingehen, warum Nichtbinarität zum Spektrum menschlicher Geschlechter dazugehört und immer schon dazugehörte. Um gar nicht erst mit einer Rechtfertigung dafür anzufangen, dass nichtbinäre Menschen existieren, fasse ich mich kurz: Die Aufteilung unserer Gesellschaft in genau zwei Kategorien ist eine künstliche, die natürlich von unserer Kultur und unserer Sprache mitgetragen wird. Wer sich für weitere Hintergründe dazu interessiert, findet dazu zum Beispiel im Missy Magazine mehr (und, genrespezifisch, in meinem Artikel im Ende des Jahres erscheinenden Science Fiction Jahr 2020).
Representation matters!
Nichtbinarität ist ein Marginalisierungsmerkmal – das bedeutet, dass nichtbinäre Menschen am „Rand“ der sogenannten Mehrheitsgesellschaft existieren und oft unter dem Umbrella-Begriff „queer“ und „genderqueer“ mit anderen Queers zusammenfinden. Dabei sagt „nichtbinär“ nichts über die sexuelle Orientierung aus, nur über die Identität außerhalb des Binären. Wie bei allen marginalisierten Gruppen tendieren Darstellungen dazu, Mitglieder dieser Gruppe pauschal oder klischeehaft darzustellen. Wenn uns denn tatsächlich mal nichtbinäre Menschen in Medien begegnen, sind sie meist „androgyn“ (im Sinne von: nicht auf den ersten Blick einzuordnen), weiß und haben kurze, bunte Haare. Nonbinärität hat so viele Gesichter, wie es nichtbinäre, genderqueere Menschen gibt. Unser Bild wird natürlich von Medien geformt, und gerade in visuellen Medien wie Filmen und Serien ist es schwierig, nichtbinäre Menschen so darzustellen, dass sie als solche erkannt werden (deshalb verstehe ich grundsätzlich den „Kunstgriff“ eines gewissen Codings von nichtbinären Charakteren durch z.B. Frisur und Körperform). Dieses Bild ist aber natürlich auch ausschließend, denn viele nichtbinäre Menschen haben beispielsweise Bärte, gut erkennbare Körperformen, lange Haare, tragen Make-up, Röcke oder anderes, was einem bestimmten Geschlecht zugeordnet wird. Das Einzige, was hilft, um zu erkennen, dass sie nichtbinär sind, ist, wenn sie es selbst sichtbar machen, indem sie zum Beispiel darüber reden (was in einer Gesellschaft, die alles, was nicht in ihre Kategorien passt, erst einmal ablehnt, nicht immer einfach ist).
In der Literatur ist die Repräsentation eigentlich einfacher! Wenn ich nichtbinäre Menschen schreibe, muss ich nicht angeben, wie wir sie mit unserem binären „gaze“ wahrnehmen würden. Ich kann anhand der Pronomen (zum Beispiel Neopronomen) sichtbar machen, dass sie nichtbinär sind, ohne dass es Thema in der Erzählung sein muss. Ich kann sie optisch beschreiben, ohne dabei deutlich zu machen, in welche binäre Kategorie wir sie auf den ersten Blick stecken würden. Das macht es eigentlich wesentlich einfacher, nichtbinäre Menschen in Romanen und Erzählungen zu repräsentieren, ohne durch die Darstellung zu riskieren, dass sie misgendert werden.
Der Weg vom Fremden zum Vertraut(er)en
In keinem anderen Genre ist es so gut möglich, Geschlecht anders zu definieren und einen anderen gesellschaftlichen Status Quo zu beschreiben, wie in der Science Fiction und Fantasy. Trotzdem existierten nichtbinäre Figuren oft erst einmal neben menschlichen Männern und Frauen als KIs, Aliens oder Roboter.
Durchaus gut geschriebene Beispiele dafür finden sich zum Beispiel in Becky Chambers Wayfarer-Saga: Zum Beispiel spielen die genderfluiden Aandrisk besonders in Zwischen zwei Sternen eine wichtige Rolle und wechseln durch geschlechtliche Zyklen zwischen männlich und weiblich.
Ein ähnliches Konzept beschrieb auch bereits Ursula Le Guin in Die linke Hand der Dunkelheit, wo die von Menschen abstammenden Gethenianer dank eines Experiments ungeschlechtlich sind, aber zur Fortpflanzung unterschiedliche Reproduktionsorgane ausbilden. (Hier wird Geschlecht somit von den Reproduktionsorganen abhängig gemacht, was wir natürlich auch im Spiegel der Zeit sehen müssen, in der Die linke Hand der Dunkelheit entstand. Le Guin selbst bedauerte später, dass sie für die ungeschlechtlichen Gethenianer durchweg männliche Pronomen benutzt hat.)
Die Pflanzenspezies der Floryll in Bernd Perplies’ Am Abgrund der Unendlichkeit sind zweigeschlechtlich, sodass Perplies ein Neopronomen aus den deutschen Pronomen zusammengesetzt hat.
Auch in Annette Juretzkis Space-Opera-Dilogie Blind und Blau spielen nichtbinäre Figuren vor allem bei den Alienspezies eine Rolle.
Breq, die Perspektivfigur aus Ann Leckies Die Maschinen, erzählt im generischen Femininum. Breq selbst, eine Schwarm-KI, die durch unglückliche Umstände in einem einzigen Körper gelandet ist, ist jedoch selbst nicht weiblich, sondern hat kein Geschlecht.
Auch „Murderbot“ aus Martha Wells Tagebuch eines Killerbots ist ungeschlechtlich und rätselt generell häufig an menschlichen Kategorien herum. In den Novellen tauchen aber auch menschliche nichtbinäre Nebenfiguren auf.
Octavia Butler hat in ihrer Xenogenesis-Trilogie bereits in den 1980ern aus einer nichtbinären Perspektive erzählt, doch auch sie nutzt das Außerirdische, um Nichtbinarität in die Geschichte zu bringen: Der Protagonist des dritten Bandes Imago transformiert dank außerirdischer Gene zum Ooloi genannten dritten Geschlecht einer Alienspezies und bietet somit eine menschliche Identifikationsfigur auf dem Weg zu einer neuen Identität.
Der „Schlenker“ zu diesen nichtmenschlichen Charakteren und Spezies ist natürlich nicht unwichtig. Es fehlte ja nicht nur uns nichtbinären Menschen oft lebenslang das Vokabular, um das Nichtdazugehören in Kategorien in Worte zu fassen. Auch die bislang mit diesen Kategorien ganz zufriedene Mehrheitsgesellschaft findet über Aliens und KIs einen Zugang.
Doch damit, sich den eigenen Platz zu behaupten, ist ständiges Outing und ständige Aufklärungsarbeit verbunden, und dabei hilft es natürlich nur begrenzt, auf fiktive Aliens, Roboter und Menschen mit Aliengenen deuten zu können.
Aber natürlich haben auch andere Schreibende die Gelegenheit und auch die Verantwortung, Geschichten und Lebenswirklichkeiten verschmelzen zu lassen. Um dem gesellschaftlichen Schweigen und Unverständnis zum Thema nichtbinäre Geschlechter entgegenzuwirken, ist es nötig, darüber zu sprechen und zu schreiben.
Le Guin sagte noch 2014 in einer Rede: „Widerstand und Veränderung beginnen oft in der Kunst, und sehr oft in unserer Kunst – der Kunst der Wörter.“
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