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Was ist Sensitivity Reading? Und wie können es Autor*innen nutzen?

Was ist Sensitivity Reading? Und wie können es Autor*innen nutzen?
© Kat Stokes - unsplash

ESSAY

 

Elif Kavadar, 31.08.2019

Einige Autor*innen nutzen das Angebot des Sensitivity Readings bereits begeistert, während andere von Gedankenpolizei sprechen. Aber was ist eigentlich Sensitivity Reading? Und ist das für Fantasy- oder Sci-Fi-Autor*innen überhaupt relevant?

Was bedeutet Sensitivity Reading?

Die Wünsche nach Diversität in Romanen aller Genres steigen zunehmend. Das Publikum möchte die Vielfalt der Gesellschaft repräsentiert sehen: Geschichten mit queeren Figuren, Figuren of Colour oder Figuren mit Behinderungen. Es ist toll, wenn Autor*innen diese Wünsche teilen und umsetzen wollen, nur reicht die bloße Absicht, Vielfalt abbilden zu wollen, oft nicht aus. Es erfordert viel Recherche und Fingerspitzengefühl, um keine Stereotype fortzuführen, die am Ende den Menschen mit diesen Erfahrungen vielleicht sogar schaden.

Um dem entgegenzuwirken, gibt es mittlerweile einen Begriff für diesen Abschnitt des Schreibprozesses, das Sensitivity Reading.

Sensitivity Reading ist im Prinzip ein Schritt des Lektorats, in dem es insbesondere um die Darstellung von Gruppen geht, die Diskriminierungserfahrungen machen. Ein*e Sensitivity Reader ist eine Person aus der entsprechenden Gruppe, die das Manuskript auf authentische Repräsentation sichtet und ggf. Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge macht. Das ist insbesondere dann gewinnbringend, wenn der*die Autor*in über Erfahrungen schreibt, die er*sie selbst nicht macht.  

Wozu brauchen wir das?

Geschichten entstehen nicht in luftleeren, ahistorischen Räumen. Wir denken in den Mustern, in denen wir aufgewachsen sind, und diese Muster verlaufen teilweise nicht zugunsten derer, die schon immer „die Anderen“ waren. Auch wenn man ohne eine politische Agenda schreibt, ist Kunst und Literatur immer politisch.

“There are authors who write with a social or political agenda. And there are authors who don’t, but their worldview, beliefs and values are implicit in the texts they produce.” (The Conversation)

Sensitivity Reading ist aus dem Wunsch „der Anderen“ entstanden, sich selbst besser repräsentiert zu sehen. Das heißt nicht, dass wir alle plötzlich überempfindlich geworden sind, was ein häufiger Vorwurf in Diskussionen um “Political Correctness” ist, sondern dass wir verstanden haben, dass die Themen selbst eben sensibel sind und dementsprechend reflektiert behandelt werden sollten.

Heruntergebrochen bedeutet das: Du möchtest Geschichten schreiben, die nicht unabsichtlich Stereotype und Vorurteile beinhalten? Cool – Sensitivity Reader helfen gerne dabei.

Was hat das mit Fantasy zu tun? Oder auch: Das Orcing

Wir legen unsere eingefahrenen Denkmuster nicht einfach ab, wenn wir Geschichten schreiben. Auch dann nicht, wenn es Fantasy oder Science-Fiction-Geschichten sind. Sie sind ein Teil dessen, wie wir gelernt haben, die Welt wahrzunehmen. Am besten verdeutlichen kann ich das am Beispiel der Orks – oder dem Orcing, wie es im Englischen bezeichnet wird.

Die schwarze Autorin N. K. Jemisin beschreibt auf ihrem Blog, weshalb sie ein Problem mit Orks hat. Alle mythologischen Figuren hätten ihren Ursprung in der Realität, wofür sie ein paar Beispiele nennt:

 

  • Dryaden = Bäume + Magie + Menschen
  • Meerwesen = Fische + Magie + Menschen
  • Einhörner = Pferde + Magie
  • Elfen = Magie + Menschen (+ eine vage Vorstellung von Göttlichkeit) (Zwischenfrage: Wer hat hier an ein weißes, blondes, reines Wesen gedacht?)
  • Und Orks?

Orks sind irgendwie menschlich, haben die Grundeigenschaften von Menschen, aber keinen freien Willen, sind aggressiv, barbarisch, dreckig, unzivilisiert und werden bestenfalls versklavt oder getötet.

“Think about that. Creatures that look like people, but aren’t really. Kinda-sorta-people, who aren’t worthy of even the most basic moral considerations, like the right to exist. Only way to deal with them is to control them utterly a la slavery, or wipe them all out.” (N. K. Jemisin)

Das sind alles Attribute, mit denen schwarze Menschen zu Kolonialzeiten in Verbindung gebracht wurden. Sie wurden entmenschlicht, um die damaligen Gräueltaten zu legitimieren. Wenn die Person, mit der ich etwas mache, kein richtiger Mensch ist, kann ich nicht unmenschlich handeln, oder?

Vielen Leser*innen von High-Fantasy-Geschichten wird das nicht auffallen. Mir war es selbst nicht bewusst.  In solchen Augenblicken ist es ratsam, nicht defensiv zu reagieren, weil die Lieblingsgeschichten kritisiert werden. Besser ist es, die Erklärungen derer anzuhören, die durch ihre eigenen Lebenserfahrungen und Biographien als z. B. schwarze Menschen anders auf solche Inhalte reagieren, weil sie auch heute noch gesellschaftlich, kulturell und medial aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft als „unzivilisiert“, „barbarisch“ und „dreckig“ bezeichnet werden. Wie gesagt: Nichts entsteht ohne Kontext.

Es ist ein Gewinn, sich über diese verschiedenen Erfahrungen auszutauschen und aufeinander zu achten. Das ist für entstehende Geschichten keine Zensur, kein „Ihr dürft gar nichts mehr frei schreiben“, es ist ein Angebot.

So wie in „Der Marsianer“ sicherlich auch naturwissenschaftlich gebildete Menschen drübergelesen haben dürften, damit das Dargestellte nicht komplett abwegig ist, so sind Sensitivity Reader auch nur eine weitere Gruppe von Expert*innen. Mit dem Unterschied, dass es hier um Diskriminierungserfahrungen geht, was oftmals dazu zu führen scheint, dass Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft das Gefühl bekommen, ihnen würden Verbote auferlegt. Dabei ist es doch auch kein Verbot, Andy Weir rückzumelden, dass dieses und jenes wissenschaftlich nicht korrekt ist – warum sollte das also der Fall sein, wenn es um soziologische und historische Tatsachen geht?

Natürlich fühlt es sich weniger schlimm an, wenn man einfach nicht genug von Naturwissenschaft versteht, als dass man aus Versehen rassistisch ist. Aber dieser Moralismus bringt niemanden weiter. Sensitivity Reader haben nicht das Ziel, jemanden als „schlechten Menschen“ zu kategorisieren, sondern helfen schlicht und einfach dabei, professionell Geschichten zu erzählen, die einen Beitrag zum gleichberechtigten Miteinander leisten.

Das kann, wie am Beispiel der Orks zu sehen war, generelle Aspekte des World Buildings betreffen, der Geschichte, aber auch einzelne Figuren oder Begrifflichkeiten. 

Ich bin interessiert! Wo finde ich Sensitivity Reader im deutschsprachigen Raum?

Es gibt die Website sensitivity-reading.de, auf der Autor*innen zu verschiedenen Bereichen Kontakt zu Personen aufnehmen können, die ihre Expertise anbieten. Dort finden sich auch weitere Erklärungen, Tipps und Artikel.

Elif Kavadar

Elif Kavadar ist 26 Jahre alt, hat Germanistik und Geschichte studiert, arbeitet im Bildungsbereich und spricht als migrantische, muslimische Frau nicht nur über alltägliche Erlebnisse und Bücher, sondern auch über (erlebte) Diskriminierungen und versucht seit mehreren Jahren, dafür zu sensibilisieren.