Fantasy

Fantasyromane schreiben (Teil 2): Worldbuilding

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KOLUMNE

 

Sylvia Englert,  30.09.2016

Inzwischen hast du eine Ahnung, worüber du schreiben willst – nun ist es Zeit, ein wenig Gott zu spielen und eine Welt aus der Taufe zu heben. Eine in sich schlüssige und glaubwürdige Fantasy-Welt zu erschaffen ist zeitaufwendig. Wenn du so im Bann deiner Geschichte und Figuren bist, dass du ohne die nötige Vorbereitung drauflos schreibst, solltest du zumindest parallel an der Welt weiterbasteln. Denn fehlt deiner Welt die Tiefe, funktioniert der fertige Roman nicht richtig. J. R. R. Tolkien über die Folgen: „Der Erzähler schafft eine Sekundärwelt, die unser Geist betreten kann. Darinnen ist ‚wahr‘, was er erzählt: Es stimmt mit den Gesetzen jener Welt überein. Daher glauben wir es, solange wir uns gewissermaßen darin befinden. Sobald Unglaube aufkommt, ist der Bann gebrochen; der Zauber, oder vielmehr die Kunst, hat versagt. Und dann sind wir wieder in der Primärwelt und betrachten die kleine, misslungene Sekundärwelt von außen.“

So ging es mir, als ich das High Fantasy-Manuskript einer guten Bekannten las. Die Geschichte las sich nicht schlecht, aber man erfuhr nie, was die Figuren essen, wie sie sich kleiden, was für Tiere und Pflanzen es gibt, sie hatten keine eigenen Ausdrücke, die zu ihrer Welt gepasst hätten, und sagten Dinge wie „Okay“ und „Alles paletti“. Ich hatte nicht wirklich das Gefühl, in diese Geschichte eintauchen zu können, weil die Figuren sich durch eine Kulisse aus Pappmaché zu bewegen schienen.

 

Landschaften entwerfen, Völker entwickeln

Also weg mit dem Pappmaché. Ein Teil des Weltenbaus ist schlicht Landschaftsentwurf. Es gilt, ein ganzes Land auszustaffieren – mit Gebirgen, Tälern, Städten, Flüssen, Sümpfen, Wäldern, Meeren, Inseln, Ruinen, Handelsstraßen, Steinbrüchen, eigenartigen (Natur)Phänomen und allem, was dir sonst noch einfällt. Was die Größe angeht, sollte deine Welt nicht zu unübersichtlich sein – es tut ihr nichts Gutes, wenn man Jahre braucht, um sie auf dem Pferderücken zu durchqueren, oder es so viele Reiche oder Völker darin gibt, dass man sie sich bis zum Schluss des Romans kaum merken kann. Aber es sollte auch viel zu entdecken geben. Viel Erfolg beim Gestalten der Landschaft, und ich drücke dir die Daumen, dass dir ein paar Besonderheiten einfallen, an die man sich gut erinnern kann! Du wirst merken, dass sich aus dem Weltenbau schon manche Impulse für deine Story ergeben.

Während du die Geografie planst, zeichne am besten (vor Schreibbeginn!) eine Karte der Welt und bei Bedarf auch Detailkarten und Grundrisse wichtiger Gebäude. Mit dieser Karte vor Augen – zum Beispiel an der Pinnwand – kannst du die Bewegungen deiner Figuren planen, im Kopf nachvollziehen und im Buch schildern. Eine Karte, die ins Buch gedruckt wird, gibt übrigens der Verlag bei einem Zeichner in Auftrag; es gibt Illustratoren, die sich auf Karten spezialisiert haben.

 

Reiche, Völker und Kulturen

Doch selbst eine gut ausgestaltete, vielseitige Landschaft sichert dir nicht das Interesse der Leser. Viel entscheidender ist, wie die jeweiligen Reiche deiner Welt organisiert sind, welche Geschichte sie haben, welche Kulturen/Völker dort existieren und was die jeweiligen Städte ausmacht.

Saramee zum Beispiel, eine Schöpfung von Chris Weidler, ist eine Stadt der Vertriebenen. „Ein Schmelztiegel von Abenteurern, Glücksrittern, Vertriebenen und verlorenen Existenzen auf der Suche nach einem neuen Weg zum Leben, Ruhm, Reichtum und einen Neuanfang“, wie es im Saramee-Wiki heißt. (www.saramee.de) Klar, dass ein solcher Ort jede Menge Geschichten hergibt, in vielen Romanen und Anthologien haben Autoren schon beschrieben, welche Abenteuer und Schicksale diese schillernde Stadt birgt.

 

Die Umgebung prägt die Bewohner

Bedenke beim Weltenentwerfen, wie die Umgebung die Kultur der Bewohner prägt. Sehr hart ist zum Beispiel das Leben für die Menschen in Robert Corvus‘ Grauwacht. In ihrer Welt dauern Tag und Nacht jeweils 30 Jahre (nach unserer Zeitrechnung). Ein alter Pakt zwingt die Menschen dazu, mit der Nacht zu wandern und ihr Dasein in kalter Dunkelheit zu fristen, denn der Tag gehört den amphibischen Sassek, die die Wärme brauchen. Sie übernehmen die Siedlungen, die die Menschen geräumt haben; überwacht und durchgesetzt werden diese Räumungen von der Grauwacht, Elitesoldaten mit einer unglaublichen Fähigkeit, zu überleben und sich selbst zu heilen. Gerade in kleineren Orten dieser Welt, in denen das Leben besonders hart ist, sind auch die Sitten rau. Kinder ab einer bestimmten Größe werden ein Stück von der Siedlung entfernt ausgesetzt – sie müssen ihre Überlebenstauglichkeit beweisen, indem sie in der eisigen Dunkelheit ohne Hilfe die Rückkehr schaffen.

 

Grundprinzipien von Kulturen

Du merkst schon, wir sind wieder (wie schon im Ideen-Kapitel) beim Grundprinzip oder Kernthema einer Kultur oder eines Volkes, das sich meist in wenigen Stichworten zusammenfassen lässt. In Feuerblüte – Im Reich der Wolkentrinker zum Beispiel lasse ich meine Hauptfiguren zwei sehr unterschiedliche benachbarte Stadtstaaten entdecken, der eine – Rhiannon – widmet sich den fünf Sinnen und ist ganz nach diesem Prinzip organisiert, der andere – Atacán, von dem nur noch Ruinen übrig sind – huldigte bis zu seiner Zerstörung den Göttern des Zufalls, und im zentralen Tempel der Stadt gibt es noch immer alles, was man dafür braucht: eine Vielzahl von seltsamen Würfeln, die das Alte Volk erschaffen hat.

Mit dem wichtigsten, dem neunseitigen Großen Würfel aus purem Gold, den nur wenige Auserwählte benutzen durften, lässt sich das Schicksal des Würfelnden beeinflussen – auf den Seiten stehen neben Reichtum, Ruhm, Liebe, Schönheit, Glück und Macht auch Verderben und Pech. Dieser Würfel spielte vor Jahren eine wichtige Rolle beim Untergang der Stadt, wenn auch auf andere Weise, als die Hauptfiguren sich vorstellen können. Klar, was ich während des Schreibens auf meinem Schreibtisch hatte, oder? Ein halbes Dutzend eigenartiger Würfel aus dem Rollenspiel-Shop, die der Göttin des Zufalls bestimmt gefallen hätten.

 

Ausgestaltung der Welt

Jetzt zurück zu deiner eigenen Welt. Hast du schon ein Grundprinzip gefunden? Dann geht es jetzt an die konkrete Ausgestaltung, also Rahmenbedingungen, Hintergründe und Details. Kleiner Tipp: Fantasy-Leser wollen staunen und sich faszinieren lassen (der vielzitierte „sense of wonder“). Wenn dir also etwas Erstaunliches, Beeindruckendes einfällt, super! Special effects sind im Film teuer, kosten im Buch aber keinen Cent. Damit du nichts Wichtiges vergisst, hier eine Liste dessen, was du dir vor Schreibbeginn unbedingt überlegen solltest (und zwar zu deiner Welt allgemein und zu jeder ihrer Kulturen):

 

·         Soziale Organisation / Hierarchien

·         Religion / Götterwelt

·         Geschichte / Feinde und Verbündete

·         Familienstruktur / Erziehung

·         Systematik der Namen / Spitznamen

·         Sprache / Ausdrücke und Redewendungen

·         Zeitrechnung und -messung / Kalender

·         Schul- und Ausbildungssystem

·         Tiere und Pflanzen

·         Wichtige Nahrungsmittel und einige gängige Gerichte

·         Kleidungsstile

·         Kommunikationssystem

·         Geld

·         Fortbewegungsarten

·         Magie und die Regeln ihrer Benutzung

·         Feste und Feiertage

·         Gepflogenheiten, Rituale und Traditionen

·         Besonderheiten beim Körper und Körperschmuck

·         Krankheiten

·         Berühmte Personen, Volkshelden

·         Lieder, Legenden und Geschichten

 

Natürlich kannst du dich auch von einer bestehenden oder früheren irdischen Kultur inspirieren lassen. „In der „Runlandsaga“ habe ich viel von der sumerischen Mythologie verwendet“, erzählt zum Beispiel der deutsche Fantasy-Autor Robin Gates. „Ich wollte von einem epischen Konflikt zwischen zwei Göttergeschlechtern, den Mächten des Chaos und den Mächten der Ordnung, erzählen, und wie dieser Konflikt die Welt von Runland bedroht. Dabei habe ich mich stark vom Enuma Elish, dem sumerischen Schöpfungsmythos, inspirieren lassen.“

 

Fragen helfen

Meine allererste Fantasy-Welt Daresh war eine komplette Neuschöpfung ohne Anleihen aus der realen Welt. Damals war ich noch ziemlich unerfahren und überlegte mir zwar viel, aber wie sich herausstellte, nicht genug. Das merkte ich, als ich einen Fan fiction-Wettbewerb veranstaltete. Dafür hatte ich eine Art „Guide“ für meine Welt verfasst, aber während meine Fans ihre Geschichten schrieben, hatten sie eine Menge zusätzlicher Fragen. „Wie stehen die Menschen in Daresh eigentlich zu Homosexualität?“, „Wie wird man eigentlich ins Eliteregiment der Regentin aufgenommen?“, „Was haben eigentlich die verschiedenen Gilden für Trinksprüche?“ „Äh ... keine Ahnung“, hätte die ehrliche Antwort lauten müssen, aber sowas sagt man ja sehr ungern, stattdessen denkt man sich rasch was aus. All diese Fragen waren für mich Gold wert, weil sie mir halfen, meine Welt auszugestalten und ihr immer mehr Tiefe zu geben. Auch deswegen wurde mein letzter Daresh-Roman Der Sucher der (wie ich finde) beste von allen.

Für dich heißt das – such dir jemanden, der dir eine halbe Stunde lang gezielt Fragen zu deiner Welt stellt! Am besten auch ein paar schräge, ausgefallene. Bei dieser Übung wirst du erstens merken, was noch nicht plausibel klingt, zweitens, in welchem Bereich deine Planung noch zu dünn ist und drittens, was du vergessen hast, dir zu überlegen. Im Idealfall kannst du mit deinem Übungspartner auch brainstormen und gemeinsam noch bessere Lösungen entwickeln als alleine am Schreibtisch. Denk daran, deine spontanen Antworten und gemeinsamen Überlegungen aufzuschreiben und in deine Planungsdateien einzufügen, jedes Detail zählt. Viel Spaß!



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Du möchtest einen Fantasyroman schreiben oder bist schon mitten dabei und hättest gerne ein wenig Unterstützung von einer erfahrenen Autorin? Kein Problem. In meinen Artikeln, die auf meinem „Handbuch für Fantasy-Autoren“ basieren, geht es um handwerkliche Techniken und Tricks, die ich selbst gerne gekannt hätte, als ich meinen ersten Fantasyroman schrieb.

Sylvia Englert

Sylvia Englert ist Autorin, Lektorin und Journalistin. Jugendromane schreibt sie unter dem Namen Katja Brandis, Fantasy für Erwachsene unter dem Pseudonym Siri Lindberg – und unter ihrem richtigen Namen hat sie 2015 das Buch Fantasy schreiben und veröffentlichen publiziert.

www.sylvia-englert.de | www.katja-brandis.de | www.siri-lindberg.de