Fantasy

Das Hodor-Paradox – Ein echter Game-Changer in Game of Thrones

Das Hodor-Paradox
© Helen Sloan / HBO

Stefan Servos, 18.07.2016

Nun ist geschehen, was Fans seit Jahren befürchtet haben. Mit der sechsten Staffel hat die TV-Adaption die Romanreihe von George R.R. Martin überholt. Haben sich Buchleser, wie meine Wenigkeit, bisher in verschwörerischer Allwissenheit gewähnt, wenn sie mit Fans sprachen, die „nur“ die HBO-Adaption kannten, zeigt die Serie mittlerweile Ereignisse, die für beide komplett neu sind. Und so wurden Leser und Zuschauer gleichermaßen von einem Ereignis in der Mitte der aktuellen Staffel überrascht, welches allerseits für Fassungslosigkeit und Tränen sorgte.

*Vorsicht, der folgende Text enthält Spoiler!*

Bereits im Verlauf der sechsten Staffel wurde enthüllt, dass der gutmütige, riesenhafte Hodor, dessen Wortschatz sich auf eben jenes namensgebende Wort beschränkt, einst ein fideler Stalljunge namens Wylis (im Buch übrigens Walder) am Hof des Hauses Stark war. Doch in der fünften Folge der sechsten Staffel erfahren wir nun endlich, wie Hodor zu seinem Namen kam. Und die Tragik hinter der Erklärung hat Fans auf der ganzen Welt schockiert; einige bezeichneten dieses Ereignis gar als das bisher grausamste der gesamten Reihe.

Bild von Hodor
Helen Sloan / HBO

Die Geburt von Hodor

Als der querschnittsgelähmte Bran Stark, samt Begleiterin Meera Reed und Hodor auf der Flucht vor dem Nachtkönig und seinen Eiszombies durch eine rettende Tür aus den Höhlen unter dem großen Wehrholzbaum entkommt, übernimmt er mit seiner Fähigkeit des „Wargings“ die Kontrolle über Hodors Körper damit dieser sich gegen die Tür stemmt, während die anderen weiter fliehen können. Zeitgleich befindet sich Bran aber in einer Vision der Vergangenheit am Hof des Starks und begegnet dort dem jüngeren Alter Ego von Hodor, also Wylis. Doch da Bran seine Fähigkeiten noch nicht vollkommen beherrscht, kommt es zu einer Art Zeitparadox-Rückkopplung. Das Bewusstsein des Stalljungen scheint sich mit dem  Geist des alten Hodor zu verbinden und plötzlich erlebt Stalljunge Wylis, was kein Mensch erleben möchte, nämlich seinen eigenen, zukünftigen Tod. Wylis bricht zusammen und schreit fortwährend „Hold the Door!“, „Hold the Door!“, jene Phrase, die ihm im Augenblick seines Ablebens in der anderen Zeitebene immer wieder von seiner Begleiterin Meera Reed zugeworfen wird, während Fernsehzuschauer auf der ganzen Welt entsetzt auf ihre Bildschirme starren, die Untoten langsam durch die Tür brechen und den armen Kerl zerfleischen. Stalljunge Wylis erlebt dies leibhaftig mit, seine Worte „Hold the Door!“ verschmelzen immer mehr und schließlich liegt er nur noch – „Hodor“ – wimmernd am Boden. Es ist das einzige Wort, das er von da an sprechen wird und dem er seinen neuen Namen verdankt.

Hodor als Junge
Helen Sloan / HBO

From Zero to Hero

Aber warum ist dieses Ereignis so tragisch und weshalb ist es ein gravierender Einschnitt in die Handlung von Game of Thrones? Der sanfte, gutmütige Riese, der mit den großen politischen Intrigen nichts am Hut hat, und nur ein Wort spricht, war all die Jahre irgendwie sympathisch und witzig. Und so wurde diese Figur zum Popkultur-Phänomen. Im Internet finden sich unzählige Hodor-Meme, T-Shirts sind mit Hodor-Witzen bedruckt und Hodor-Merchandise steht in den Regalen. Hodor wurde zum Teil des Geheimvokabulars der Game-of-Thrones-Community. Hodor schweißte zusammen. Hodor, das stand für die Einfachheit, die Reduzierung der Komplexität und die Gelassenheit … „Hodor“ halt. Ein Code den jeder Eingeweihte verstand. Doch nun, wo der Ursprung dieses Begriffs geklärt wurde, steht Hodor nur noch für die Grausamkeit eben jenes Moments. Dass der beliebte Charakter mit dem Hodor-Ausspruch in all der Zeit, die wir ihn liebten, seinen eigenen Tod beschrieben hat, den er als junger Knabe in einer Vision erleben musste, ist tragisch und herzzerreißend. Wie grausam muss es sein, zu wissen, wann und unter welchen Umständen man stirbt, und dieses Ereignis nicht abwenden zu können? Und wie entsetzlich, dass wir es nie erkannt haben. Jetzt sind wir schlauer und wissen, Hodor trat diesen Schicksalsweg mit Fassung an und wurde so zum vermutlich größten Helden der epochalen Fantasy-Reihe. Und ein Hodor-Witz wird nie wieder witzig sein, sondern nur ein Kloß im Hals verursachen.


Die Zukunft liegt in der Vergangenheit

Und natürlich stellt sich die Frage, was dieses Ereignis für die Zukunft von Game of Thrones bedeutet. Im Mittelpunkt stehen die Fähigkeiten von Bran. Man muss unterscheiden zwischen dem sogenannten „Warging“, in dem er mit seinem Geist in fremde Kreaturen schlüpfen und diese lenken kann, und den Grünseher-Fertigkeiten, die sich als Visionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft entpuppen, ganz ähnlich wie Galadriels Spiegel in Der Herr der Ringe. Wie sich jetzt herausstellt, sind diese Visionen anscheinend mehr als nur prophetische Träume, denn er kann Ereignisse der Vergangenheit beeinflussen. Und Zeitreisen in eine Geschichte einzuführen, ist immer ein riskantes Wagnis, denn die Auswirkungen sind kaum zu kontrollieren. Während seiner Lehre beim dreiäugigen Raben hat Bran des Öfteren die Vergangenheit besucht. Und sein Mentor mahnte ihn stets, dass die Geschichte bereits geschrieben und die Tinte getrocknet sei. Doch so richtig trocken war sie wohl doch nicht. Erstmals war dies zu bemerken in einer Vision am Tower of Joy, in der er seinen Vater in noch jugendlichen Jahren sieht und nach ihm ruft. Und für einen Moment hält Ned Stark inne und scheint die Stimme seines Sohnes zu hören. Zufall? Ich glaube nicht.

Bild von Bran
Helen Sloan / HBO

Die Zeitreise-Problematik

Bei gewöhnlichen Zeitreise-Szenarien gibt es verschiedene Zeitstrahlen, die sich je nach Ereignis aufgliedern und immer weitere parallele Realitäten bilden, so wie beispielsweise bei Zurück in die Zukunft II. Marty McFly verliert den Sport-Almanach an Biff und kehrt danach in ein völlig verändertes 1985 zurück, in dem Biff der Herrscher über Hill Valey ist – eine alternative Zeitlinie. Bei Game of Thrones ist das anders. Alle Ereignisse sind bereits geschehen und alles geschieht in einer in sich geschlossenen Zeitlinie. Auch der Causal-Loop von Hodor ist bereits vom Schicksal so bestimmt gewesen. Bran kann durch seine Fähigkeiten offenbar wirklich Dinge verändern und beeinflussen, die dann aber gleichzeitig auch schon geschehen sind. Dies führt zu einem komplizierteren Paradox, denn nur weil Bran Hodor zu dem gemacht hat, was er während der Serie ist, wurde es ihm überhaupt möglich, seine Reise anzutreten und so seine Zeitreisefähigkeiten zu entwickeln. Üblicherweise bezeichnet man dieses Phänomen als Großvater-Paradox (Wenn du deinen Großvater in der Vergangenheit tötest, wie kannst du dann geboren worden sein?), zu Ehren unseren Helden soll es aber von nun an das Hodor-Paradox heißen. Zugegeben, bis hierher es ist bereits kompliziert, mir raucht auch schon der Kopf. Aber lasst uns das Gedankenspiel weiterführen. Für die Story bedeutet dies konkret, dass Bran nun jede Menge Ereignisse in der Vergangenheit von Westeros beeinflusst könnte, beziehungsweise schon beeinflusst hat. Vielleicht war er jene Stimme, die Eunuch Varys als Kind aus dem Feuer gehört hat und die ihn so beeinflusste, dem Reich zu dienen? Theoretisch könnte er es sogar gewesen sein, der Bran the Builder vor vielen Jahren überzeugte, die Eismauer und Winterfell zu errichten. Alles ist denkbar und eröffnet ganz neue Möglichkeiten. Spannend dürfte auch werden, welche offenen Handlungsstränge und welche historischen Persönlichkeiten von Bran beeinflusst wurden oder noch werden. Immerhin haben wir in seinen Versionen auch schon kurz den verrückten König Aerys II Targaryen gesehen, der das gesamte Chaos auf Westeros eigentlich erst ausgelöst hat. Was Bran mit diesem genau zu tun hat, wird sich hoffentlich in den kommenden Folgen auflösen.

Bild von Hodor
Helen Sloan / HBO

Aus großer Kraft folgt große Verantwortung …

Wenn man Brans entsetzten Gesichtsausdruck während des Hodor-Vorfalls richtig interpretiert, dann war dies ganz und gar keine Absicht, sondern eher ein Unfall aufgrund seiner mangelnden Erfahrung mit seiner Fertigkeit. Man mag sich gar nicht vorstellen, zu was er im Stande wäre, wenn er seine Fähigkeiten eines Tages wirklich beherrscht. Kein Wunder also, dass die geheimnisvollen Weißen Wanderer, welche von den Kindern des Waldes erschaffen wurden, nun diese Machtquelle besitzen wollen, denn dadurch ließe sich Unglaubliches bewerkstelligen. Übrigens ist diese entscheidende Kehrtwende natürlich ganz und gar des Altmeisters Idee und entstammt nicht der kreativen Freiheit der Serienmacher, wie einige Hardcore-Fans missmutig geargwöhnt hatten. Im Making-Of der 6. Staffel wird von den Produzenten erklärt, dass George R.R. Martin seit 1991 sorgfältig auf diesen Moment hin geplant hat. Und als ein Reporter vor einigen Jahren lapidar bemerkte, dass „Hodor“ für ihn wie eine Kurzform von „Hold the door“ klingt, antwortete Martin grinsend „You have no idea how close you are“. Ich ziehe meinen Hut vor diesem Autor, der über so lange Zeit eine so entscheidende Kehrtwende entwickelt hat und für sich behalten konnte. George R.R. Martin in Höchstform, würde ich sagen. Der Zeitreiseaspekt verleiht der Handlung eine ganz neue Perspektive und stürzt alles um, was bisher unumstößlich schien. Doch er birgt auch die Gefahr, dass der Autor sich verzettelt, denn Zeitreisen sind mächtige Storytelling-Instrumente, die sehr verantwortungsvoll eingesetzt werden müssen. Hoffen wir das Beste! Bleibt zuletzt nur eine Frage: Warum hatte die Höhle unter dem Wehrholzbaum überhaupt eine Tür? 

Stefan Servos

Stefan Servos, geboren 1975, entdeckte schon in Kindertagen seine Leidenschaft für das fantastische Genre. Mit elf Jahren prägte ihn der Roman „Der kleine Hobbit“ von J.R.R. Tolkien und „Star Trek – The Next Generation“ begleitete ihn durch die Jugendzeit. Er ist aktives Mitglied der Deutschen Tolkien Gesellschaft, spielt in seiner Freizeit „Dungeons & Dragons“ und geht regelmäßig auf Liverollenspiele. Neben seiner hauptberuflichen Arbeit als Fernsehredakteur (WDR, SWR, KABEL 1, RTL) schreibt der Diplom-Journalist regelmäßig für diverse Online- und Printmedien, unter anderem für das Magazin Geek!. Zudem hat er bereits Hintergrundbücher zu Filmen wie „Der Herr der Ringe“, „Troja“, „Alexander“ oder „Der Hobbit“ veröffentlicht. Persönlich trifft man den Betreiber diverser Fan-Websites, vor allem als Vortragenden auf Conventions wie der RingCon oder der HobbitCon.