Fantasy

Fantasyromane schreiben (Teil 3): Magie und Magiesysteme

Banner Fantasyromane schreiben (Teil 3): Magie und Magiesysteme
© 2016 by Cliff Nielsen / Wilhelm Goldmann Verlag, München

Sylvia Englert, 28.10.2016

Wenn einem Magie aus den Buchseiten entgegenbritzelt, weiß man, dass man Fantasy liest ... und umgekehrt würde eine geheimnisvolle, großartige Zutat fehlen, wenn man als Autor auf Magie in seinem Fantasyroman verzichten würde. Für Bestsellerautorin Cassandra Clare war Magie ein wichtiger Grund, mit dem Schreiben zu beginnen: „Meine Eltern glauben nicht an Übernatürliches. Ich fand Magie durch das Lesen von Büchern. Viele, viele Jahre lang hoffte ich, dass sich Magie und Zauberei als echt herausstellen. Deswegen liebe ich Bücher, in denen Magie in unserer Welt ist und sich dann als wahr entpuppt“, erzählte sie im Interview mit der Blauen Seite. „Ich stelle mir dann immer vor, wie großartig dass wäre.“

Weißt du schon, wie du Magie in deinen Roman integrieren willst? Am besten, du denkst gleich über ein ganzes Magiesystem nach, denn es wäre nicht sehr reizvoll für deine Leser, wenn nur hier und da ein bisschen gezaubert wird und es keinen durchdachten Hintergrund und Regeln dafür gibt. Werfen wir ein Blick darauf, wie andere Autoren das mit der Magie gestaltet haben, und welche traditionellen Systeme es bereits gibt.

Angeboren oder erlernt?

Eine wichtige Frage ist zum Beispiel: Ist magisches Talent in der jeweiligen Welt angeboren und vererbbar, oder kann jeder lernen, sie auszuüben? Ganz klassisch geht es bei J.K. Rowling zu – Harry Potter, seine Freunde und Feinde agieren wie in vielen Märchen und Sagen mit Zaubersprüchen und Zauberstab, also Hilfsmitteln, die magische Energie kanalisieren. Wer in der Zaubererschule ordentlich lernt, kann auch besser zaubern, wie die besserwisserische Hermine beweist. Aber ist man ein Muggel, dann hat man leider keine Chance, so viele Bücher man auch wälzt – das magische Talent ist angeboren. Entweder man ist ein Zauberer oder eben nicht.

Ein angeborenes magisches Talent, das man erst entdecken muss, das vielleicht so stark ist, dass es ohne Schulung außer Kontrolle geraten kann ... dieses Motiv findet sich ebenfalls in vielen Romanen, zum Beispiel in denen von Trudi Canavan. Ihre Heldin Sonea ist so begabt, dass sie sich in der Ausbildung gegen alle Widerstände durchsetzen kann.

Nicht alle Menschen sind gleich ... und auch nicht alle Magier. Zahlreiche Autoren haben sich dafür entschieden, auf ihrer Welt mehrere unterschiedliche Talente und Fähigkeiten vorkommen zu lassen, die meist ebenfalls angeboren sind. Holly Black beispielsweise hat für ihre Reihe Weißer Fluch Menschen erfunden, die je nach Art ihrer Begabung die Erinnerungen, die Gefühle oder das Schicksal mit der geringsten Berührung ihrer Hand verändern können. Nicht immer sind dieser „Fluchwerker“ glücklich über ihr Talent ...

Sehr faszinierend und in allen Details hervorragend durchdacht fand ich die an der Grenze zwischen Science Fiction und Fantasy angesiedelten Darkover-Romane von Marion Zimmer Bradley. In ihrer Welt bilden die sieben Comyn-Familien, telepathisch begabte Darkovaner, die Adelskaste. Wer kein Laran hat, also keine telepathischen Talente, wird weitaus weniger geschätzt, selbst wenn er einem einflussreichen Familienclan entstammt. Und jede große Comyn-Familie hat ein eigenes Talent, das durch geschickte Heiraten erhalten und weitergegeben werden soll – die Aldaran können in die Zukunft blicken, die Ridenows sind Empathen, die sich besonders stark in andere einfühlen können, die Alton können den Gedankenkontakt erzwingen, die Ardais als Katalysatoren das schlummernde Laran von anderen erwecken.

Naturgesetze ade!

Telepathie – ist das überhaupt Magie?

Klar ist es. Der Einfachheit halber kann man alles dazu zählen, was sich nicht naturwissenschaftlich erklären lässt. Orson Scott Card erklärt den Unterschied so: „Gelten die Regeln unserer Welt, ist es Science Fiction, gelten in diesem Universum ganz andere Regeln als in unserem, ist es Fantasy.“ Fantasy-Romane zu schreiben ist also dein persönlicher Freibrief dazu, die Naturgesetze zu brechen ... aber es muss plausibel sein, wie du das tun. Deswegen hat sich Marion Zimmer Bradley auch eine glaubwürdige Schöpfungsgeschichte überlegt, wie die telepathischen Talente in eine auf den ersten Blick menschliche Bevölkerung „hineingeraten“ sind, und ein komplexes, aber sofort einleuchtendes System erschaffen, wie die Comyn ihre telepathischen Gaben kontrollieren, kanalisieren und verstärken (mit Hilfe von Matrix-Steinen), welche Ausbildungsstätten es gibt (die Türme) und welche Gefahren mit der Benutzung dieser Fähigkeiten verbunden sind (man kann zum Beispiel in einer grauen, gestaltlosen Zwischenwelt steckenbleiben).

Bei Marion Zimmer Bradley und den meisten anderen Autoren sind die besonderen Fähigkeiten angeboren ... etwas seltener findet sich reine erlernte Zauberei. Wer selbst keine Magie wirken kann, der darf sich wenigstens „Hexer“ nennen und hat bei entsprechender Ausbildung die Möglichkeit, Wesen – Dämonen, Dschinns und andere – zu beschwören und sie für seine Zwecke einzuspannen. Zumindest, wenn er die richtigen Formeln und Zeichen für ihre Beschwörung kennt und sie fehlerlos anwendet, sonst sieht es düster für ihn aus. Eine solche unfreiwillige Partnerschaft war für Jonathan Stroud immerhin Stoff für vier Bartimäus-Bände.

Quellen der Magie

Richtige Magier, ob wohlgesinnte oder böse, haben gewöhnlich eine Quelle, aus der sich ihre Magie speist. In Darkover ziehen die Comyn die Energie für die manchmal kraftraubenden telepathischen Aktivitäten aus ihrem eigenen Körper und leiden danach unter Erschöpfungszuständen und rasendem Hunger, weil ihre Lebensenergie auf einem Tiefstand ist.

In meinen Daresh-Romanen habe ich meine Figuren dagegen gewährt, dass sie die Macht der Elemente anzapfen können. Die Mitglieder von Wasser-, Erd-, Luft- oder Feuer-Gilde können durch gemurmelte Formen bestimmte Wirkungen erzielen, die sich natürlich auf ihr Element bezieht. Damals – mein erster Daresh-Roman ist 2002 erschienen – dachte ich, das sei ziemlich originell. Haha, sehr witzig. Seither habe ich solche Zuordnungen zu Elementen in einigen anderen Büchern entdeckt, die Idee war einfach zu naheliegend. Aber das ist kein Problem – wenn deine Figuren Elementarmagie wirken sollen, wieso nicht? Es ist nicht notwendig, alles komplett neu zu erfinden – wenn du dich für ein bewährtes Magiesystem entscheiden und ihm einen ungewöhnlichen Dreh gibst, kann das Konzept wieder frisch und interessant sein.

Originell fand ich beispielsweise Robert Jordans Lösung in seiner Rad der Zeit-Reihe – es gibt eine Quelle der Magie, die er „The One Power“ nennt – so weit, so üblich –, doch sie gliedert sich auf in eine weibliche und eine männliche Quelle, nur Frauen bzw. Männer können die jeweilige Energie nutzen. Witzig.

Aus dem Glaubenssystem der amerikanischen Ureinwohner (und anderer Stämme) kommt die Namensmagie, also die Vorstellung, dass Magie mit bestimmten, wahren Namen verknüpft ist. Bei Patrick Rothfuss hat derjenige, der den wahren Namen der Dinge kennt, auch Macht über sie. Seine Hauptfigur Kvothe ist fasziniert, als er beobachtet, wie ein Magier den Namen des Windes dazu verwendet, Magie zu wirken, und macht sich auf eine lange Suche, um selbst die wahren Namen verschiedener Dinge herauszufinden. Die Kunst der Benennung hat es sogar zum universitären Studienfach geschafft. In Derek Landrys Skulduggery Pleasant ist es dagegen der Name einer Person, der sie angreifbar macht – wer ihren Namen kennt, kann sie kontrollieren, und nur wer sich selbst umbenennt, kann sich davor schützen.

Bei der Runenmagie, die auch Patrick Rothfuss in sein komplexes Magiesystem intregriert hat, werden diese alten Zeichen, die seit jeher mehr waren als reine Schrift, dazu genutzt, um Zauber zu wirken oder Vorhersagen über die Zukunft zu treffen. Auch die Runenmagie ist schon häufig eingesetzt worden und hat in der Fantasy eine lange Tradition, aber das braucht dich nicht daran zu hindern, sie für den eigenen Roman zu adaptieren.

Eine weitere Quelle der Magie ist erstaunlich schlicht, aber einleuchtend – der Glauben. Wer denkt, dass er fliegen kann, dem gelingt es auch ... doch zweifelt man daran, stürzt man prompt ab. Wieso nicht? Dass Glauben Berge versetzt, kann man auch wörtlich nehmen, schließlich ist in der Fantasy alles möglich.

Grenzen und Nebenwirkungen

Welches System auch immer du adaptierst oder erfindest – Magie sollte darin nicht unbegrenzt verfügbar sein, und es sollte Grenzen für ihre Anwendung geben. Warum? Vielleicht, weil es sonst zu einfach wäre. Knappheit dagegen führt zu Konflikten, und die sind wiederum gut für die Handlung. Erschöpft sich die Magie, die vielleicht dringend benötigt wird, setzt das Ihre Figuren unter Druck. Auch die Grenzen haben ihren Sinn. Gibt es sie, müssen die Figuren im Rahmen ihrer Möglichkeiten agieren und mit Mut und Klugheit Lösung finden – viel besser für die Dramaturgie!

Doch den wichtigsten Aspekt findet Autor Orson Scott Card in seinem Handbuch How to Write Science Fiction and Fantasy den Preis der Magie. Denn wenn die Magie sozusagen etwas kostet, führt das immer zu inneren oder äußeren Konflikten. In einem seiner Creative-Writing-Workshops an der Universität bat er die Studenten, Ideen zu diesem Thema zu entwickeln. “In solchen Workshops sind schon viele Ideen entstanden, aber es gibt eine, die ganz zu Anfang aufkam und die mir stark in Erinnerungen geblieben ist: Was wäre, wenn der Preis der Magie Blut wäre? Wie würde das funktionieren?“, erzählt er. „Man könnte sich nicht einfach in den Finger piksen, um Macht zu erwerben, das wäre zu einfach. Es müsste so viel Blut sein, dass das ganze Leben der jeweiligen Kreatur darin enthalten wäre, es also verblutet wäre. Wie viel Kraft man selbst dadurch gewönne, würde davon abhängen, von was für einem Wesen das Blut stammte. Du könntest eine Fliege töten und die Macht gewinnen, um eine Suppe vom Überkochen abzuhalten. Du könntest ein Kaninchen töten und einen Feind krank machen oder ein Kind heilen. Du könntest einen Hirsch töten und sich dadurch für Stunden oder Tage unsichtbar machen. Oder du könntest einen Menschen töten und wirkliche Macht gewinnen. Aber meine Studenten waren noch perverser drauf als ich: Würde man nicht noch mehr Macht erwerben, wenn man ein Kind tötet, weil Kinder weniger ihrer Lebenskraft aufgebraucht haben? Und was wäre, wenn man sein eigenes Kind tötet? Würde einem das nicht noch mehr Macht verleihen?“

Was schwebt dir für deine Welt vor? Düstere Blutmagie, die andere das Leben kostet? Oder Magie, die durch ihre Anwendung den Magier selbst schwächt? In Holly Blacks Fluch-Reihe beispielsweise gibt es jedes Mal einen Rückstoß, wenn durch eine Berührung ohne Handschuh ein Fluch entfesselt wird – wenn der Fluchwerker Pech hat, wird er dadurch verletzt oder verliert selbst Erinnerungen. Dadurch steigt die Spannung, es ist jedes Mal ein wichtiges und heftiges Ereignis, wenn ein Fluch sein Ziel trifft, ob absichtlich oder versehentlich. Könnten die Fluchwerker einfach nach Belieben Flüche in großer Zahl wirken, wären sie dadurch viel weniger bedeutend.

Leg los!


Hier ein paar Anhaltspunkte, wenn Sie ein eigenes Magiesystem entwickeln. Viel Spaß beim Brainstorming.

 

  • Welche Formen von Magie gibt es in deiner Welt, und welche Wirkung haben sie jeweils?
  • Welchen Ursprung hat die Magie? Kommt sie von außen (z.B. von Göttern) oder von innen (aus der Person)?
  • Seit wann gibt es sie, welche Erfahrungen haben die Bewohner Ihrer Welt im Laufe der Zeit damit gemacht?
  • Wer kann die Magie wirken, wer nicht?
  • Sind die magischen Fähigkeiten angeboren oder erlernt?
  • Gibt es verschiedene Begabungen?
  • Unterricht: Wo und mit wessen Hilfe wird die Magie erlernt?
  • Wenn übernatürliche Partner für das Wirken der Magie notwendig sind – welche, und sind es freiwillige oder unfreiwillige Helfer?
  • Woher kommt die Energie für die Magie?
  • Ist die Magie begrenzt, erschöpft sie sich bei Benutzung?
  • Welchen Preis zahlt der Magier/die Magierin dafür, Magie einzusetzen?
  • Sind für ihre Verwendung Hilfsmittel, zum Beispiel Artefakte, Runen, Zaubertränke, magische Orte o.ä., nötig?
  • Welche Grenzen hat die Magie? Wann ist es besser, auf ihren Einsatz zu verzichten?
  • Welche schädliche Magie gibt es?
  • Schutz und Hilfe: Was schützt vor Magie, die andere gegen einen richten? Gibt es Talismane?

 
Ob das, was du erfunden hast, das Herz von Fantasylesern schneller schlagen lässt oder es ihnen die Bemerkung „Na, das ist aber platt“ entlockt, wirst du erst merken, wenn du dein Magiesystem mit jemandem diskutierst, der gerne Fantasy liest.

Achte darauf, dein Magiesystem wirklich detailliert zu entwickeln, und vergiss nicht, es schlüssig in die jeweilige Kultur zu integrieren. Denn wie die Benutzerin „heroine“ in einem Beitrag zum Forum Tintenzirkel anmerkt: „Was mir auch sehr gefällt und mich oft ein wenig enttäuscht: wenn Magie Teil einer Welt ist, dann muss es auch Teil der Kultur sein. Dann will ich Sprichwörter dazu haben. Dann will ich Geschichten, Mythen und Sagen, wie sie entstanden sein könnte und was theoretisch irgendwann mal jemand mit Magie geschafft hat und seitdem nie wieder jemand.“

Absolut richtig. Ich wünsche dir viel Spaß beim Experimentieren mit jeder Menge Magie!



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Du möchtest einen Fantasyroman schreiben oder bist schon mitten dabei und hättest gerne ein wenig Unterstützung von einer erfahrenen Autorin? Kein Problem. In meinen Artikeln, die auf meinem „Handbuch für Fantasy-Autoren“ basieren, geht es um handwerkliche Techniken und Tricks, die ich selbst gerne gekannt hätte, als ich meinen ersten Fantasyroman schrieb.

Sylvia Englert

Sylvia Englert ist Autorin, Lektorin und Journalistin. Jugendromane schreibt sie unter dem Namen Katja Brandis, Fantasy für Erwachsene unter dem Pseudonym Siri Lindberg – und unter ihrem richtigen Namen hat sie 2015 das Buch Fantasy schreiben und veröffentlichen publiziert.

www.sylvia-englert.de | www.katja-brandis.de | www.siri-lindberg.de